Sommerherzen im Regen - Karin Lindberg - E-Book
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Sommerherzen im Regen E-Book

Karin Lindberg

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Beschreibung

Kannst du "Nein" sagen, wenn dein Herz "Ja" sagt? Oliver Barretts bester Freund Lucas hat eine klare Regel für den attraktiven Womanizer aufgestellt: Finger weg von meiner Schwester! Kein Problem für Oliver, denn an einer braven Lehrerin, die weder trinkt noch feiert, hat er ohnehin kein Interesse. Dann lernen sich Oliver und Tamara näher kennen und müssen feststellen, dass doch nicht immer alles ist, wie es scheint. Als ausgerechnet Oliver Hilfe und Halt braucht, ist Tamara für ihn da und zeigt ihm zum ersten Mal in seinem Leben, was Vertrauen wirklich bedeutet … und lernt dabei selbst, wie es sich anfühlt, sein Herz an jemanden zu verlieren. Tamara liebt ihre Familie, aber sie ist es leid, von ihnen in Watte gepackt zu werden. Da aber nicht mal ihr Bruder glaubt, dass Oliver es je ernst meinen könnte, stellt sich für Tamara nun die Frage: Ist sie für ihn vielleicht doch nur der Reiz des Verbotenen? "Sommerherzen im Regen" ist ein in sich abgeschlossener Roman.

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Sommerherzen im Regen

Karin Lindberg

Karin Lindberg

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Danksagung

Buchempfehlung

Lektorat: Dorothea Kenneweg

Korrektorat: Sandra Nyklasz

Covergestaltung: Casandra Krammer

Schirm: Pixabay

Copyright © Karin Lindberg 2018

Erstausgabe Juni 2018

Karin Baldvinsson

Am Petersberg 6a

21407 Deutsch Evern

www.karinlindberg.info

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Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Weitere Informationen unter www.karinlindberg.info

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Erstellt mit Vellum

Prolog

London

Das Licht im Commonwealth Club war gedämpft. Beethovens Sonata Nummer dreißig tönte leise durch die versteckt eingebauten Lautsprecher. Über die Jahrzehnte hatte sich, abgesehen von kleinen Schönheitsreparaturen oder notwendigen Modernisierungen, wenig verändert. Dunkelbraune Chesterfieldsofas und -sessel standen auf dem mit weinrotem Teppich ausgelegten Boden des Kaminzimmers. Ölgemälde in goldenen Rahmen zierten die dunkel vertäfelten Wände. Die Uhr auf dem Sims zeigte Viertel vor acht, im Kamin prasselte ein Feuer. Oliver Barrett genoss die würdevolle Stimmung im Club, dessen Türen sich nur für die oberste Schicht der Londoner Gesellschaft öffneten. Normalerweise vertrieb er sich die Zeit eher in angesagteren Etablissements, aber hin und wieder genoss er die altehrwürdige Atmosphäre sehr gerne. Das Geld der Mitglieder war mindestens so alt wie die Gemäuer selbst. Die Upper Class Londons zog es vor, sich hinter verschlossenen Türen zu treffen. Er selbst hatte nicht vor, übers Geschäft zu reden – das überließ er anderen.

Das traditionelle Flair erinnerte ihn jedoch daran, wo seine Wurzeln lagen, und holte ihn nach langen Reisen auf den Boden zurück. Verrückt, wenn er daran dachte, dass er noch gestern in Südamerika gewesen war, um über die Clubszene São Paulos zu berichten. Und nun saß er wieder in London und nippte an einem Whiskey. Oft hielt er sich zwar nicht mehr in seiner Heimatstadt auf, aber wenn, dann traf er sich immer mit seinem besten und langjährigen Freund Lucas Stanhope. Seit dieser mit seiner großen Liebe Danielle zusammenwohnte, hatte sich einiges geändert. Er war ruhiger geworden und feierte weniger, was man von Oliver nicht behaupten konnte. Er schmunzelte unterdrückt. Ehe er sich freiwillig unter den Pantoffel einer Frau begab, würde man in der Hölle Schlittschuh fahren können.

»Es ist überhaupt kein Problem, natürlich kannst du ein paar Tage in meinem Apartment in Shanghai bleiben. Aber nimm bitte Rücksicht auf Tamara. Und ich warne dich: Wenn du sie anfasst, bringe ich dich um! Meine Schwester ist tabu für dich, ist das klar?« Lucas blitzte ihn mit funkensprühenden Augen an.

Oliver entging die pochende Ader an Lucas’ Hals nicht, die immer bedeutete, dass sein bester Freund nicht gerade in bester Stimmung war.

Milde ausgedrückt.

»Was denkst du eigentlich von mir? Ich baggere doch garantiert nicht deine Schwester an. Hast du sie noch alle?«, verteidigte er sich.

Er wich Lucas’ bohrendem Blick nicht aus, um ihm zu zeigen, dass er es ernst meinte. Als ob er Interesse an seiner Schwester hätte! Sie verkörperte, soweit er wusste, alles andere als den Typ Frau, auf den er stand. Ihr Beruf als Lehrerin bestätigte das nur. Sie konnte nichts anderes als bodenständig und brav sein – Eigenschaften, die ihn an einer Frau nicht reizten. Allein der Gedanke, dass er sich für sie interessieren könnte, war so lächerlich, dass er laut auflachen wollte.

Davon mal abgesehen, besaß er tatsächlich so etwas wie Anstand, was hieß, dass er sich natürlich nicht an die Schwester seines besten Freundes ranmachen würde, egal wie heiß sie war – oder eben nicht war. Er konnte sich nicht einmal bewusst an sie erinnern. Sie waren sich im Erwachsenenalter nur noch ein einziges Mal kurz auf Damians Hochzeit vor anderthalb Jahren begegnet. Soweit er sich entsann, war sie alles andere als heiß, obwohl er sich damals einen blöden Spruch natürlich nicht hatte verkneifen können. Nein, wegen ihr brauchte Lucas ganz sicher keine Bedenken zu haben.

Lucas atmete langsam aus, lehnte sich im Sessel zurück und entspannte sich.

»Gut. Ich wollte es ja auch nur gesagt haben«, ergänzte er mit einem Mal ganz ruhig. Damit war das Thema offensichtlich abgehakt.

Oliver grinste breit. Das war das Schöne mit den Stanhope-Zwillingen: So schnell Damian und Lucas sich aufregten, so rasant verpuffte ihr Ärger, wenn das Problem gelöst war.

»Also wirklich, ich bin doch nicht lebensmüde«, sagte Oliver noch einmal mit Nachdruck.

Lucas’ Mundwinkel zuckten. Er klopfte seinem Freund auf den Oberschenkel. »Gott sei Dank.«

»Wenn es doch ein Problem für dich ist, suche ich mir selbstverständlich eine andere Bleibe«; schlug er, der Höflichkeit halber, vor.

Lucas winkte ab. »Nein, überhaupt nicht. Sei nicht albern. Ich habe es dir schon tausendmal angeboten, dazu stehe ich natürlich. Ich bin mir sicher, es wird Tamara nichts ausmachen, die Wohnung für ein paar Tage mit dir zu teilen. Sie hat immer wieder betont, dass sie nichts gegen die Gesellschaft meiner Freunde und Bekannten hat – nicht, dass das häufig vorkommen würde. Aber das Apartment ist wirklich groß genug. Und du wirst ja nicht gleich Monate dort kampieren wollen, oder?«

Oliver lachte. »Garantiert nicht. Nur für ein paar Tage, bis ich genügend Stoff für meinen Artikel zusammen habe. Dann ziehe ich weiter.«

»Dann hat sich also bei dir nichts geändert?« Lucas musterte Oliver interessiert.

Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Wieso sollte sich was ändern? Ich mag mein Leben, wie es ist.«

Er richtete sich im Stuhl auf. Er hasste es, sich für seinen Lebenswandel rechtfertigen zu müssen. Gerade von Lucas hatte er nicht den gleichen abschätzigen Blick erwartet, den er so oft von seiner eigenen Familie erntete. Besonders sein Vater sparte in letzter Zeit nicht mit Hinweisen in diese Richtung. Sein bester Freund hatte lange genug ein ähnliches Leben geführt wie er; von ihm hatte er mehr Verständnis erwartet – eigentlich.

»Willst du für immer um die Welt reisen, ohne festen Wohnsitz, ohne regelmäßiges Einkommen?«, fragte Lucas nun auch noch. Oliver starrte ihn entgeistert an.

»Wow«, stieß er hervor und verdrehte die Augen. Fehlte nur noch der Spruch, er solle was mit seinem Leben anfangen, es nicht mehr länger mit Partys und Frauengeschichten vergeuden. »Was ist denn mit dir passiert? Früher hattest du mindestens genauso viel Spaß dabei wie ich, feiern zu gehen. Hat dir Danielle vielleicht eine Gehirnwäsche verpasst?«

Lucas hob einen Finger. »Hey, pass bloß auf!«

»Schon gut.« Er winkte ab. »Hat ja anscheinend sowieso keinen Sinn.«

»Also?«, hakte Lucas nach und machte sich damit nicht beliebter.

Der Idiot konnte einem auf die Nerven gehen.

»Nur zu deiner Information: Ich habe durchaus ein regelmäßiges Einkommen, zufällig sind meine Artikel nämlich sehr gefragt. Aber selbst, wenn dem nicht so wäre, du weißt, dass ich es nicht wirklich brauche.«

Lucas seufzte. »Ja.«

Olivers Bankkonto war gut gefüllt, an Geld hatte es ihm nie gemangelt. Man konnte seinem Vater zumindest nicht vorwerfen, er hätte seine finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllt, wenngleich er seinen Vaterpflichten ansonsten eher selten bis gar nicht nachgekommen war. Aber das war ein anderes Thema, an das er jetzt nicht denken wollte. »Komm mir jetzt bloß nicht mit dem Scheiß wie meine Eltern, von wegen, dass ich meine Talente vergeuden würde, und diesem schwachsinnigen Blabla.«

»Werde ich nicht«, kommentierte Lucas knapp.

»Gut.« Oliver atmete aus und lehnte sich zurück.

Sie tauschten stumme Blicke.

»Gut«, wiederholte Lucas dann und hob erwartungsvoll eine Augenbraue, als ob da jetzt noch was von Oliver kommen müsste, was nicht der Fall war.

»Freust du dich schon auf deinen Junggesellenabschied?«, wechselte Oliver das Thema und amüsierte sich diebisch über Lucas’ Reaktion.

Sein Freund stöhnte gequält und hielt sich eine Hand an die Stirn. »Muss das sein? Von mir aus können wir darauf gerne verzichten.«

Olivers Grinsen wurde breiter. »Verzichten? Du hast sie ja wohl nicht mehr alle. Du wirst auch deinen Spaß haben, das garantiere ich dir.«

»Das kann ich mir kaum vorstellen. Wann soll das Ganze stattfinden?«

Oliver schnaubte. »Das werde ich dir bestimmt nicht verraten.«

Lucas atmete scharf ein. »Mein Gott, was für ein alberner Mist. Echt. Ich bin doch keine fünfzehn mehr.«

»Haha. Eben. Ein würdiger Abschied aus dem Junggesellenleben muss sein. Glaub mir, diese Nacht wirst du nie vergessen.« Oliver genoss es sichtlich, Lucas im Ungewissen zu lassen.

»Die Befürchtung habe ich auch.« Lucas schüttelte den Kopf und starrte düster in sein Glas.

Kapitel 1

Shanghai

»Lucas, noch mal langsam bitte. Ich komme gerade gar nicht mehr mit«, unterbrach Tamara Stanhope ihren jüngeren Bruder.

Sie ging langsam vor der bodentiefen Fensterfront auf und ab und versuchte dabei, das Handy nicht an ihr Gesicht zu drücken. Sie wollte es nicht mit der Schlamm-Gesichtsmaske verschmutzen, die sie vor ein paar Minuten aufgetragen hatte.

»Okay, entschuldige. Also, mein Kumpel Oliver – ihr seid euch, glaube ich, schon mal kurz auf Damians Hochzeit begegnet – ist beruflich ein paar Tage in Shanghai. Ich habe ihm angeboten, dass er bei mir wohnen kann. Also, bei dir … Er ist wirklich ein sehr guter Freund. Wäre das in Ordnung für dich?«

Prinzipiell hatte sie überhaupt nichts gegen einen Mitbewohner für ein paar Tage, und Lucas’ Freunde waren natürlich immer willkommen. Sie hatte Oliver zu Jugendzeiten ein paarmal auf Ragley Manor getroffen, aber das war lange her. Damals hatte sie sich nicht wirklich für die Freunde ihrer Brüder interessiert, obwohl sie natürlich wusste, dass Oliver und Lucas seit der Schulzeit beste Freunde waren. Aber durch das Internatsleben, ihr Studium und die räumliche Trennung von der Familie waren sie sich nur selten über den Weg gelaufen. Auf Damians und Julias Hochzeit war es nur ein kurzes Treffen gewesen, denn sie war nur zur Trauung erschienen und im Anschluss daran direkt wieder gefahren, da es eine familiäre Annäherung nach einer schwierigen Zeit gewesen war. Seitdem hatte sich viel verändert. Zum Glück, dachte sie und war froh, dass sie nun wieder unbeschwert am Familienleben teilhaben konnte.

»Sicher. Überhaupt keine Frage«, antwortete sie daher, ohne zu zögern. »Es ist wirklich genug Platz hier. Wann hat er die Reise denn geplant?«

»Ähm… ja … also … Es tut mir so schrecklich leid, ich wollte es dir schon letzte Woche sagen, aber dann hatte ich so viele Termine und –«

»Lucas!«, unterbrach sie ihn scharf.

Sie ahnte, dass der Freund vermutlich bereits im Flieger saß, aber auch das würde sie hinbekommen. Die Wohnung sah in Ordnung aus – sie feierte hier ja keine wilden Partys, und Pizzakartons ließ sie auch nicht wochenlang herumliegen. Sie grinste bei dem Gedanken, wie es hier zu Lucas’ Sturm-und-Drang-Zeiten oftmals ausgesehen haben musste.

»Ja, schon gut. Er ist unterwegs.«

Aha, hatte sie es doch gewusst. Gut, dass sie mit Unvorhergesehenem umgehen konnte.

In dieser Sekunde klopfte es an der Tür. Sie zuckte zusammen.

Okay, das war dann doch ein klitzekleines bisschen zu spontan. Sie würde Lucas beim nächsten Treffen den Hals umdrehen.

»Lucas!«, zischte sie genervt.

»Ich mach es wieder gut. Versprochen!« Sie sah sein schuldbewusstes Gesicht förmlich vor sich, aber das nützte nun auch nichts mehr.

Tamara seufzte. »Du sagst mir jetzt nicht, dass er schon vor der Tür steht, oder? Es hat nämlich gerade geklopft. Wie ist er überhaupt reingekommen? Ich habe ja niemanden beim Concierge angemeldet …«

Lucas atmete hörbar aus. »Er stand unten, und weil er deine Nummer nicht hatte, hat er mich angerufen. Ich habe also dem Pförtner Bescheid gesagt, dass er ihn nach oben lassen kann …«

»Meine Güte. Du machst mich fertig, Lucas! Du rufst erst den Concierge an und dann mich?«

Es klopfte erneut, diesmal energischer. Sie verdrehte die Augen und schnaubte.

»Er ist ganz nett, ehrlich«, hörte sie ihren Bruder am anderen Ende kleinlaut murmeln.

»Ja, schon gut«, brummte sie, denn ändern konnte sie es nun auch nicht mehr.

Wenn der Besuch nun schon vor der Tür stand, würde sie sich wohl oder übel damit arrangieren müssen …

»Hab dich lieb, Schwesterchen.« Sie konnte das Grinsen aus seinem Tonfall heraushören.

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Lippen verzogen sich zu einem milden Lächeln. Ihr Bruder war einfach ein Unikat – ein bisweilen sehr nerviges, aber sie liebte ihn über alles. Mittlerweile fragte sie sich sogar manchmal, wie sie es ausgehalten hatte, von ihm und der Familie getrennt gewesen zu sein. Aber in diesen Jahren hatte sie selbst Probleme gehabt, die sie hatte in den Griff bekommen müssen, ansonsten wäre sie daran zerbrochen. Ihre Brüder hatten ihr die Last nicht abnehmen können, im Gegenteil. Sie jeden Tag zu sehen, hatte sie immer wieder an ihre schreckliche Kindheit, den Verlust der Mutter und alle damit einhergehenden Verstrickungen erinnert. Alles, was sie liebend gerne aus ihrem Gedächtnis löschen würde, aber das funktionierte nun mal nicht. Verdrängen half nur für eine gewisse Zeit – das hatte sie selbst schmerzhaft erfahren müssen. Die Bilder ihres übergriffigen Alkoholikervaters waren immer wieder hochgekommen, und das nicht zur besten Zeit. Aber mit vielen Gesprächen, therapeutischen Sitzungen und Geduld war sie nun in einer emotionalen Verfassung, die sie als stabil bezeichnen konnte. Sie war zufrieden mit ihrem Leben. Das war mehr, als sie damals zu hoffen gewagt hatte.

»Ich dich auch. Bis dann«, sagte sie knapp und drückte ihn weg.

Es blieb keine Zeit mehr, über die Vergangenheit zu grübeln. Ihr Gast dachte vermutlich schon, sie hätte keine Lust ihn reinzulassen. Was auch der Fall war, aber sie war zu gut erzogen, um ihn länger warten zu lassen. Tamara warf ihr Telefon aufs Sofa und schaute an sich hinunter. Schlimmer könnte es nicht mehr kommen, aber Zeit sich umzuziehen – und vor allem die Schlamm-Maske abzuwaschen – hatte sie nicht.

»Komme gleich!«, rief sie resigniert und ging zur Haustür. Ihre nackten Füße verursachten ein platschendes Geräusch auf dem hellen Marmorboden.

Sie zog die Tür mit einer schnellen Bewegung auf.

»Hallo«, sagte sie.

Sie sah an der Reaktion ihres Gegenübers, dass er mit vielem gerechnet hatte, aber nicht mit einer Frau im weißen Frotteemantel, mit Handtuch auf dem Kopf und Matsch im Gesicht.

»Tamara Stanhope?« Seine Stimme klang angenehm tief und dunkel. Er wirkte zwar überrascht, aber nicht komplett überfordert.

Seine Augen waren von einem bemerkenswerten Türkis, das dem Meer in der Karibik ähnelte – ein Ort, an dem sie immer verweilen könnte. In diesem Augenblick erinnerte sie sich daran, dass ihr diese Augen auch schon bei der letzten Begegnung auf Damians und Julias Hochzeit aufgefallen waren. Sie waren außergewöhnlich. Tamara riss sich von seinem Anblick los. Sie versuchte es zumindest. Olivers blondes Haar war zu lang, als dass man es noch als Frisur bezeichnen konnte. Er trug eine ausgewaschene Jeans mit Turnschuhen, einen Pullover und eine dunkelbraune Lederjacke. Eine Sonnenbrille steckte am Kragen. Ihr Blick blieb einen Moment an seiner breiten Brust hängen, ehe sie ihr Kinn hob und ihn anlächelte – was gar nicht so einfach war, weil die Maske mittlerweile beinahe vollständig trocken war und ihr Gesicht fürchterlich spannte.

»Ja, die bin ich. Tut mir leid, dass ich so … unvorbereitet bin.« Sie hob die Schultern und deutete an sich herunter.

Er grinste. Eine Reihe gerader weißer Zähne kam zum Vorschein.

Angeberlächeln, schoss es ihr durch den Kopf. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Lucas und er sich in nichts nachstanden, was Frauengeschichten anging. Nachgestanden hatten, korrigierte sie sich still, denn Lucas war, seit er mit Danielle zusammen war, zahm wie ein Lämmchen. Der Gedanke ließ sie innerlich schmunzeln.

»Ich bin Oliver«, sagte der attraktive Besucher und hielt ihr seine Hand hin. »Oliver Barrett. Freut mich.«

Sie erwiderte den Gruß. Sein Händedruck war angenehm fest, die sanfte Haut warm und trocken. Sie zog ihre Finger zurück und räusperte sich.

»Gleichfalls. Ähm, ja. Komm rein …«

Ihr Herz klopfte unregelmäßig schnell. Es war ihr schrecklich unangenehm, dass sie ihren Gast in diesem lächerlichen Aufzug begrüßen musste. Dabei war sie sonst überhaupt nicht der Typ für ausschweifende Beauty-Sessions, aber diese Maske hatte sie von einer Kollegin empfohlen und geschenkt bekommen, und …

Egal, mahnte sie sich innerlich zur Gelassenheit. Nichts lag ihr ferner, als Lucas’ Freund durch ihr Aussehen beeindrucken zu wollen. An Männergeschichten hatte sie so viel Interesse wie an einem Schnupfen.

Oliver nahm seinen Rucksack und stellte ihn im Flur ab. Tamara warf die Tür ins Schloss und ging in den offenen Wohnbereich.

Er folgte ihr und stieß einen Pfiff zwischen den Zähnen aus. »Schick.«

»Lucas’ Geschmack«, kommentierte sie gelassen.

»Ich war ja schon mal hier, aber so … aufgeräumt habe ich es noch nie gesehen.«

Er grinste breit und vergrub die Hände in seinen Hosentaschen. Tamara wusste genau, was er meinte. »Ja, mit dem Junggesellenleben ist es bei ihm ja nun bald vorbei.« Das Lächeln misslang wegen der angetrockneten Maske komplett. Schlimmer noch, kleine Bröckchen lösten sich ab und rieselten auf den weißen Boden. »Für mich alleine ist die Wohnung eigentlich viel zu groß, aber da er sie nun schon hat, … Auf die Füße werden wir uns hier sicher nicht treten müssen.«

»Nein, absolut nicht, ich werde sowieso nur ein paar Tage bleiben. Ich sehe schon, dass Lucas vermutlich vergessen hat, dir Bescheid zu sagen?« Ein spöttischer Zug erschien um seinen Mund, seine Augen funkelten. Er ist wirklich ein absoluter Frauentyp, dachte sie. Gut, dass sie gegen jeglichen männlichen Charme immun war.

»Ja, aber das ist nicht weiter schlimm. Außer, dass du eben vermutlich den Schock deines Lebens bekommen hast …«, scherzte sie in einem spielerischen Tonfall.

Er winkte ab. »Ach was. So leicht haut mich nichts um. Da hättest du schon im Bikini die Tür aufmachen müssen. Oder nackt.«

Er wackelte anzüglich mit den Augenbrauen, bis er realisierte, was er von sich gegeben hatte. Dass er Lucas’ Schwester vor sich hatte …

Sie konnte sich vorstellen, wie die Zahnräder in seinem Kopf ineinandergriffen. Er kannte ihre Vergangenheit und überlegte jetzt sicher, ob er was Falsches gesagt hatte. Sie wollte nicht direkt bei der Begrüßung darauf eingehen – eigentlich wollte sie gar nicht mit ihm darüber reden.

Tamara trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ja, äh. Kann ich dir was anbieten? Vielleicht sollte ich dir einfach mal zeigen, wo du schlafen kannst? Du bist sicher müde nach der langen Reise.«

Oliver nagte an seiner Unterlippe und rieb sich über den Dreitagebart. »Alles gut, mach dir keine Umstände. Ich werde mich einfach so unauffällig wie möglich verhalten. Wenn dich mein Besuch stört … Ich kann mir auch ein Hotel suchen. Ich möchte dir wirklich nicht zur Last fallen. Sag es einfach ganz offen, ich würde das total verstehen.«

Oliver ließ seinen Blick von Kopf bis Fuß an ihr herabgleiten. Es war kein abschätziges Mustern, vielmehr ein neugieriges. Das machte sie nervös. In diesem Moment war sie froh, dass ihr Gesicht von Schlamm bedeckt war, ansonsten hätte er sehen können, dass sie vermutlich heftig errötete. Ihr wurde jedenfalls ziemlich heiß unter ihrem Frotteebademantel. Dennoch unterdrückte sie den Impuls, sich Luft zuzufächeln.

»Was ist?«, fragte sie ein wenig gereizt.

Ihre Reaktion auf ihn irritierte sie zutiefst. Normalerweise starrten sie Leute nicht so unverhohlen an, versuchte sie sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Vermutlich sah sie auch einfach zu lächerlich aus. Warum kümmerte es sie überhaupt? Verunsichert schnaufte sie durch.

»Lucas würde mich umbringen, wenn ich dir auf die Nerven gehen würde, also …«

Daher wehte also der Wind. Er dachte, dass sie auf ihn stand? Gott, der Kerl war ja noch eingebildeter und überzeugter von sich als ihr kleiner Bruder. Und dessen Ego war schon so groß wie ein Wolkenkratzer.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. »Glücklicherweise gehören zu sowas ja immer zwei.« Sie ließ ihren Blick absichtlich noch einmal langsam an seinem Körper auf- und abgleiten, um ihm zu zeigen, dass er sie kalt ließ. »Und glaub mir, ich habe nicht das geringste Interesse am Freund meines kleinen Bruders. Keine Sorge.«

Die Temperatur zwischen ihnen kühlte merklich ab.

Oliver fuhr sich durch die Haare. »O Gott. Entschuldige, das ist jetzt komplett falsch rübergekommen.«

Ja, klar. Sie wollte eine Augenbraue heben, stellte den Versuch aber wegen ihrer angetrockneten Schlammmaske ein. Sie tippte aber mit dem Fuß auf den beheizten Boden. Er sollte ruhig merken, dass sie ihre eigene Meinung hatte.

»Ist es?«, kommentierte sie knapp.

Er trat einen Schritt auf sie zu. »Ja, absolut. Tut mir total leid. Ich wollte nur sagen, dass ich dir nicht zur Last fallen werde. Du musst dir keine Umstände machen und für mich kochen oder sowas.« Oliver zuckte die Schultern.

Tamaras Mund klappte auf. Als sie kapierte, was er eben von sich gegeben hatte, fing sie an zu lachen. Große Schlammbrocken flogen von ihrem Gesicht und verteilten sich auf dem hellen Boden.

»Na, das ist doch fein, ich soll also nicht für dich kochen. Was dann? Wäschewaschen vielleicht?« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.

Er grinste verschmitzt, offenbar war ihm klargeworden, was für einen Mist er verzapft hatte. Sie fand seine Reaktion erfrischend, er schien Humor zu haben. Wenigstens etwas.

»Auch das nicht. Ich brauche keinen Babysitter. Du wirst kaum merken, dass ich da bin. Versprochen. Können wir noch mal von vorn anfangen? Hallo. Mein Name ist Oliver.«

Er trat vor sie und reichte ihr seine Hand. Das Grinsen in seinem Gesicht war entwaffnend und … herzerweichend. Es ließ sie nicht länger kalt – er ließ sie nicht kalt. Das war leider Fakt, und sie ließ sich sonst wirklich nicht so schnell um den Finger wickeln. Eigentlich. Tja, das hier war gerade deshalb irgendwie absurd. Sie atmete ein und erwiderte seinen Händedruck nickend.

»Na schön. Schieben wir es mal auf den Jetlag. Freut mich, Oliver. Also dann, auf ein paar entspannte Tage. Apropos, tagsüber muss ich arbeiten, da werden wir uns also schon mal nicht groß in die Quere kommen, ich habe wegen meines Jobs dann auch nicht wirklich viel Zeit für dich.«

»Ich komme schon klar«, unterbrach er sie erleichtert. »Echt. Keine Sorge, und vor allem mach dir bitte keine Umstände.«

»Perfekt. Dann zeige ich dir jetzt mal das Gästezimmer. Küche und Wohnzimmer hast du ja schon gesehen.«

Beinahe hätte Oliver auf dem Absatz wieder kehrtgemacht, als er begriff, dass Tamara Stanhope keinen blassen Schimmer davon gehabt hatte, dass sie Besuch bekam. Er würde seinem Kumpel vierteilen, wenn er ihn das nächste Mal sah, oder besser, sich noch eine ‚Kleinigkeit‘ zusätzlich für seinen Junggesellenabschied einfallen lassen, um sich zu rächen. Dieser Gedanke stimmte ihn versöhnlich.

Lucas’ Apartment lag in einem modernen Wohnhaus im Stadtteil Xintiandi, der ehemaligen French Concession. Die Wohnung war weitläufig, hell und geschmackvoll eingerichtet. Das hatte Lucas garantiert nicht selbst hingekriegt – vermutlich hatte er erst mit der Architektin gearbeitet und sie dann flachgelegt. Aber diese Zeiten waren jetzt vorbei. In Zukunft würde Oliver von ihm keine Weibergeschichten mehr hören, sondern nur noch langweilige Storys darüber, wie toll das Leben in einer Beziehung war. Er verdrehte die Augen. Er selbst war glücklich, frei wie ein Vogel zu sein, und das sollte auch so bleiben.

»Ist das okay für dich?«, riss ihn Tamara aus seinen Überlegungen. Sie stand in der Tür zum Gästezimmer. Dort lag heller Dielenboden, die Möbel waren in Weiß gehalten. Über dem Doppelbett war eine cremefarbene Tagesdecke ausgebreitet. Es wirkte fast ein bisschen steril.

»Natürlich. Vielen Dank.«

Sie nickte. »Gut. Dann … Was brauchst du noch? An das Zimmer grenzt ein Bad, das hast du nur für dich.«

»Perfekt. Dann gehen wir uns einfach aus dem Weg.«

Sie blickte ihn mit ihren samtbraunen Augen an. Die Farbe erinnerte ihn an flüssiges Karamell.

»Ja, das wird wohl das Beste sein«, stimmte sie ihm nach einem kurzen Zögern zu. »Schlüssel und alles lasse ich in der Küche liegen.«

»Gehst du weg?«

»Nicht jetzt. Aber morgen früh muss ich in die Schule.« Er runzelte die Stirn. »Ich bin Lehrerin«, beantwortete sie seine stumme Frage.

»Ah, okay. Hatte Lucas gesagt, ja.«

Langweilig, dachte er.

»Meine Handynummer schreibe ich dir auf. Wenn was ist, du kannst mich jederzeit anrufen.«

»Danke. Ich werde jetzt erst mal duschen, ein bisschen schlafen und dann die Stadt erkunden.«

Sie zuckte mit den schmalen Schultern. Unter dem Bademantel konnte er ihre runden Hüften erahnen. Schnell wandte er den Blick ab. Für die ersten zehn Minuten hatte er schon genügend Fettnäpfchen mitgenommen. Er würde sie nicht noch einmal anstarren, was sie dann womöglich wieder falsch interpretieren konnte.

»Schöne Träume«, sagte sie und ging an ihm vorbei aus dem Zimmer.

Ihm stieg ein Hauch von Apfelduft in die Nase, dann wurde die Tür hinter ihm geschlossen. Er schlüpfte aus seinen Schuhen, ließ sich aufs Bett sinken und stieß einen wohligen Seufzer aus.

Kapitel 2

Tamara zählte die Tage bis zu den Sommerferien. Irgendwie hatte sie sich die Arbeit an der British International School in Shanghai anders vorgestellt. Die Einrichtung mit knapp zweitausend Schülern war nicht mit der süßen kleinen Primary School in England zu vergleichen, an der sie zuletzt tätig gewesen war. Sie vermisste ihre alte Schule und die Heimat. Andererseits … so wirklich heimisch hatte sie sich da auch nicht gefühlt, wenn sie ehrlich mit sich war.

Hör auf, mahnte sie sich stumm. Das war nur einer dieser Tage, an denen sie das Heimweh plagte, an denen man ihr nichts recht machen konnte. In Shanghai hatte sie alles, was sie brauchte. Außerdem liebte sie ihr Patenkind Amalia, Julias und Damians Tochter, abgöttisch. Sie war froh, dass sie an ihrem Leben teilhaben konnte, und sicher würde diese innere Unruhe mit der Zeit abnehmen und sie sich an den Alltag in Asien gewöhnen.

Müde stellte sie ihre Aktentasche nach diesem langen Tag in der Diele ab, ließ die Schlüssel in eine Schale auf der Anrichte fallen und kickte die Pumps von den Füßen. Nachdem sie Rock und Bluse in ihrem Zimmer gegen Jeans und Shirt getauscht hatte, ließ sie sich mit den Arbeiten aus der Fünften aufs Sofa fallen. Sie hatte überhaupt keine Lust, jetzt noch zu korrigieren, aber wenn sie es verschob, würde sich am Montag die nächste Arbeit aus der Dritten stapeln … und Samstag und Sonntag wollte sie eigentlich endlich mal wieder ein Buch lesen.

Oliver hatte sie weder am gestrigen Abend noch heute zu Gesicht bekommen. Es schien, als wäre er nach seiner Ankunft in einen komatösen Schlaf gefallen. Jetzt stand die Tür zu seinem Zimmer offen, aber er war nicht zu Hause. Sehr gut, dann konnte sie in Ruhe korrigieren.

»Nützt ja nichts«, murmelte sie und machte sich an die Arbeit.

Irgendwann wurden ihre Lider schwer, aber sie hatte nur noch ein paar Prüfungen, die sie unbedingt noch schaffen wollte, ehe sie ins Bett ging.

Tamara wurde von einem Krachen geweckt. Darauf folgte ein Kichern, das reichlich albern klang. Sie blinzelte und richtete sich auf. Dabei rutschten die Klassenarbeiten von ihrem Schoß und fielen auf den Fußboden.

»Verflucht«, murmelte sie und erstarrte, als sie zwei Gestalten sah, die engumschlungen durch den Flur torkelten.

Die Frau hatte Beine bis zum Himmel und Absätze an den Füßen, bei denen Tamara schon vom Hinsehen schwindelig wurde. Die beiden wirkten deutlich angeheitert – milde ausgedrückt. Meine Güte, der Kerl lässt ja wirklich nichts anbrennen. Kaum einen Tag in der Stadt, und schon einen Fisch am Haken.

Sie begegnete Olivers Blick. Für eine sehr lange Sekunde starrten sie sich wortlos an. Das Türkis seiner Augen war vom Alkohol getrübt, seine Wangen waren gerötet. Vermutlich hatte er seine Begleitung in irgendeinem der angesagten Clubs auf dem Bund – dem Vergnügungsviertel, das man von hier aus gut zu Fuß erreichen konnte – aufgegabelt.

»‘n Abend«, sagte er und lächelte schief.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Wohl eher guten Morgen«, krächzte sie. Wenn sie auf eines verzichten konnte, dann auf Begegnungen dieser Art, nachts um vier.

»Oli«, quengelte seine Begleitung und hängte sich schwer an seinen Ellenbogen. »Wer ist das? Hast du eine Freundin?«

»Was? Ach Quatsch, nein. Das ist nur meine Mitbewohnerin.«

Mitbewohnerin? Es war immer noch er, der hier der Gast war. Tamara schüttelte den Kopf, aber ihr konnte es ja egal sein, welche Geschichten er seinem Betthäschen auftischte.

»Pst«, sagte er zu seiner Begleiterin. »Nicht laut sein. Wir wollen sie nicht stören.« Blondchen kicherte dämlich und tapste auf ihren hohen Absätzen hinter ihm her. »Gute Nacht«, rief er Tamara zu und blickte noch einmal über die Schulter zu ihr zurück.

Okay, er wirkte anstandshalber ein wenig zerknirscht. Offenbar war er nicht so betrunken, dass es ihm total egal war, wie er sich benahm. Ihr hingegen war es völlig gleichgültig, was und mit wem er es trieb – solange sich der Geräuschpegel in Grenzen hielt. Das redete sie sich zumindest ein.

Die Tür zu seinem Zimmer glitt leise ins Schloss. Wenigstens etwas. Sie seufzte und sammelte die restlichen Papiere vom Boden auf. Danach ging sie in die Küche und goss sich ein Glas Mineralwasser ein. Ehe sie es ausgetrunken hatte, drangen bereits eindeutige Geräusche durch Olivers Tür. Sie verdrehte die Augen.

»Super.« Sie fluchte verhalten und verschwand in ihrem Zimmer.

Gegen Mittag des nächsten Tages kehrte Tamara vom Yoga zurück. Oliver stand gerade in der Küche und schlürfte eine Tasse Kaffee. Er war bis auf ein Handtuch, das er sich lässig um die schmalen Hüften geschlungen hatte, nackt. Splitterfasernackt. Meine Güte! Was für ein Bild von einem Mann. Sie war sonst kein Mensch, der besonders auf Äußerlichkeiten achtete, aber ihn konnte man nicht übersehen. Das war einfach unmöglich.

Der Kerl nahm ‚sich wie zu Hause fühlen‘ anscheinend absolut wörtlich. Sie versuchte, seiner abartig perfekten Erscheinung nicht länger durch übermäßiges Starren zu huldigen. Was gar nicht so leicht war, denn er war in der hellen Küche omnipräsent. Sein gebräunter Teint hob sich deutlich von den weißen Küchenschränken ab, und seine Muskeln …

»Hi«, sagte sie etwas atemlos und ließ ihre Sporttasche auf den Boden fallen.

»Hey«, erwiderte er sanft und guckte sie über den Rand seiner Tasse hinweg an. Das Türkis seiner Augen leuchtete intensiv.

Wo war der ganze Sauerstoff auf einmal hin? Sie schnappte nach Luft.

Ihr fiel leider absolut nichts Passendes ein, was als inhaltsloser Smalltalk durchgehen würde und der Situation gerecht wurde.

Hattest du Spaß mit deinem Blondchen?

Gut geschlafen?

Ist dein Besuch weg?

»Wegen letzter Nacht …«, fing er an, sie winkte direkt ab.

»Du kannst tun und lassen, was du willst«, sprudelte es aus ihr hervor, »nur erspar mir die Details.«

Er nagte an seiner Unterlippe und blinzelte sie reumütig an. Herzerweichend.

Mistkerl. Er wusste genau, was er da tat.

Mit diesem Getue bekam er sicher jeden weichgeklopft. Es funktionierte ja sogar bei ihr, was der beste Beweis dafür war. Darüber ärgerte sie sich wirklich, denn sonst war sie nicht so ein Mäuschen, das sich hoppladihopp um den Finger wickeln ließ. Es gibt ja gar nichts, weshalb er mich um den Finger wickeln müsste, erinnerte sie sich vorsichtshalber selbst. In ein paar Tagen wäre er verschwunden, und sie hätte wieder ihre Ruhe. Sie sehnte den Zeitpunkt herbei. Oliver machte sie auf eine seltsame Weise nervös, die sie nicht einordnen konnte. Nicht einordnen wollte. In ihrem Leben war kein Platz für romantische Anwandlungen.

»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht aufwecken. Sag mal, schläfst du eigentlich immer auf der Couch?«, erkundigte er sich beiläufig und nippte noch einmal an seinem Kaffee.

Sie zog die Augenbrauen zusammen und funkelte ihn an.

»Klar, du Blödmann«, gab sie etwas zu schroff zurück. Sie seufzte leise, und ihre aufbrausende Reaktion tat ihr bereits leid. Warum war sie überhaupt so empfindlich? Sie war doch sonst nicht so. »Natürlich nicht. Ich bin über der Arbeit eingeschlafen«, fuhr sie etwas milder fort und schaute zu ihm auf.

»An einem Freitagabend?«

Meine Güte. Ja, es war ein Freitag gewesen. Sie hatte absolut kein Interesse, sich ihre Nächte in Clubs um die Ohren zu hauen. Aber jemand wie er konnte das sicher nicht verstehen, das nahm sie ihm nicht übel. Was sie jedoch verletzte, war der Ausdruck in seinen Augen. Er hatte sie längst als Langweilerin abgestempelt. Eigentlich sollte es ihr egal sein, aber … das war es nicht.

Absurd.

Tamara presste ihre Lippen zusammen, ehe sie antwortete. »Ja, stell dir mal vor.«

»Ich dachte, du bist Lehrerin?«

Sie atmete hörbar aus. »Und das impliziert …?«

Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie so gereizt reagierte. Schlafmangel war die einzig logische Erklärung, denn sie hatte nach der seltsamen Begegnung in der letzten Nacht kaum mehr ein Auge zugetan. Was auch daran liegen konnte, dass der Geräuschpegel aus seinem Schlafzimmer deutlich über Zimmerlautstärke gewesen war. Ja, das musste es sein.

Er schüttelte den Kopf. »Ach, gar nichts. Aber mal was anderes: Hast du vielleicht Hunger?«

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Wieso? Denkst du, dass ich dir dann direkt was mitmachen könnte?« Sie blinzelte ihn herausfordernd an.

Oliver spuckte seinen Kaffee in hohem Bogen durch die Küche. Tamara machte einen Satz zurück.

»Shit!«, rief sie erschrocken und runzelte die Stirn, während sie beobachtete, wie er den Kopf über sich selbst schüttelte und sich mit der Hand über den Mund fuhr.

»Sorry.« Oliver lachte rau, fischte einen Lappen aus der Spüle und begann das Malheur zu beseitigen. Dafür musste er in die Hocke gehen. Das Handtuch spannte sich sofort bedenklich um seine Hüften. Sie schaute weg, hatte absolut kein Interesse zu glotzen. »Hör mal. Es sieht vielleicht so aus, als ob ich ein Depp wäre, aber … ich mache super Spiegeleier«, sagte er kurz darauf.

»Du willst für mich kochen?« Sie wandte sich ihm wieder zu und starrte ihn ungläubig an.

Das wurde ja immer skurriler. Ein nackter Mann in ihrer Küche wollte Eier für sie braten. Das war … lange nicht mehr vorgekommen. Eigentlich noch nie.

Er war leider wirklich süß, wenn er sie so von unten anhimmelte wie jetzt. »Kochen würde ich das vielleicht nicht nennen«, ergänzte er mit einem Zwinkern und stand auf. Im gleichen Moment löste sich das Handtuch von seinem Körper und segelte zu Boden.

Verdammt.

Tamara keuchte entsetzt auf – zu spät. Sie hatte alles gesehen, was es zu entdecken gab. Und das war … O mein Gott. Schnell hielt sie sich die Hände vor die Augen.

»Spiegeleier. Okay. Aber bitte, zieh dir was an«, brummte sie und rang nach Luft.

Er lachte noch einmal rau, als wäre es für ihn völlig normal, plötzlich unbekleidet vor jemandem zu stehen. Okay, das war es wahrscheinlich auch, bei seinen häufig wechselnden Bekanntschaften …

Sie bekam durch die Finger vor ihrem Gesicht mit, wie er das Handtuch aufhob und aus der Küche schlenderte – ohne es sich wieder um die Hüften zu schlingen.

Himmel! Einen Knackarsch hatte der Aufschneider, das musste man ihm lassen. Tamara griff sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und trank hastig mehrere Schlucke, um ihre trockene Kehle zu befeuchten.

In der Pfanne brutzelten vier Spiegeleier, während die Drähte des Toasters rot glühten und zwei Scheiben rösteten. Oliver hatte alles im Griff und nahm sich einen Augenblick, um seine Gastgeberin zu beobachten. Tamara saß mit einem Tablet an der Küchentheke und scrollte sich durch verschiedene Internetseiten. Einige Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst und umrahmten ihr herzförmiges Gesicht. Sie hatte eine gerade, süße Nase, für die andere Frauen viel Geld hinblättern würden. Ihre Wangen waren von einem leichten Rosa überzogen, was vermutlich vom heißen Kaffee herrührte, der neben ihr stand.

»Seit wann lebst du in Shanghai?«, wollte er von ihr wissen.

Sie hatte einen langen, schlanken Hals und hübsche Augen, aus denen sie ihn jetzt mit geneigtem Kopf prüfend anblickte.

»Noch nicht lange. Ich bin zu Beginn des Schuljahres hergezogen. Wieso?«

»Und? Wie findest du es hier?«

Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Pulsierend. Spannend. Anders.«

Er legte den Pfannenwender beiseite. »Aber?«

Sie zuckte die Schultern. »Nichts ‚aber‘.«

»Es klang mir so danach …«

»Da musst du dich getäuscht haben. Was führt dich nach Shanghai? Lucas meinte, die Arbeit?«

»Ja. Ich arbeite freiberuflich. Blogge und sowas.«

»Verstehe. Hat dein Blog auch einen Namen?«

»Sicher.«

»Ich würde mir die Seite gern mal ansehen. Wie heißt sie?«

Er hob eine Augenbraue. »Oh. Ach so. Na klar. OliverBarrettTraveler.com. Willst du dein Ei einmal gewendet?«

»Nein, sunny side up, bitte.«

»Gut.« Er drehte ihr den Rücken zu und überließ es ihr, sich eine Meinung über seinen Blog zu bilden.

»Wow, du hast ganz schön viele Follower. Hast du auch einen YouTube-Channel?« Er wandte sich ihr wieder zu und nickte. »Ach, da sehe ich es ja schon. Krass. Das sind ja richtig viele. Du bist in der Szene ja ein Superstar.«

Er winkte ab. »Man kann davon leben. Essen ist fertig.«

Oliver verteilte die Eier auf zwei Teller und legte je eine Scheibe Brot an den Rand. »Baked Beans hast du nicht zufällig da?«

»Glaube nicht.« Sie kräuselte die Nase.

»Na schön.« Er stellt das Geschirr auf den Tresen und öffnete den Kühlschrank. Als er den Ketchup und die Butter gefunden hatte, setzte er sich neben seine Gastgeberin. »Bon Appetit.«

»Vielen Dank, das war nett von dir.« Das Tablet hatte sie beiseitegelegt. »Was hast du schon von Shanghai gesehen?«

»Nicht viel, wenn ich ehrlich bin.«

»Aber du warst früher schon mal hier?«

»Ja, das schon. Klar. Mit Lucas.«

»Verstehe. Also, hast du was Besonderes vor auf dieser Reise?«

Er schob sich eine Gabel mit Ei in den Mund. »Nicht wirklich. Wieso? Hast du eine Idee?«

»Das ist dir sicher zu langweilig …«

Er grinste. Er fand sie entzückend. Sie wusste genau, was er über sie gedacht hatte, und sie war nicht sauer, sondern nahm es mit Humor. Vielleicht war sie doch nicht das zurückhaltende Mäuschen, für das er sie gehalten hatte. Wenn er so recht darüber nachdachte, konnte Lucas’ Schwester überhaupt nicht langweilig sein, wenn sie nur ein bisschen so war wie ihr Bruder.

»Meinst du?«, fragte er deshalb mit einem herausfordernden Blick in ihre Richtung.

»Na, die Bilder, die ich auf deiner Seite gesehen habe …«, gab sie zögerlich zurück, aber ihre Augen funkelten.

Nein, sie war vieles, aber sicher nicht langweilig. Schüchtern, ja. Aber gerade das fand er seltsam … anziehend.

»M-hm. Klappern gehört zum Handwerk.« Er winkte ab. Natürlich postete er nur die Aufnahmen, die auch was hermachten, und keine, die Leute zum Gähnen brachten.

Sie biss von ihrem Toast ab. »Sicher.«

»Sag schon, was ist dein Vorschlag?« Sie hatte definitiv sein Interesse geweckt, und er wusste nicht mal wieso.

»Ich bin heute Abend mit ein paar Kollegen verabredet, nur zum Essen … Also sicher zu spießig für dich.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich unterhalte mich gerne mit Leuten, die an den Orten leben, die ich bereise. Man bekommt da immer noch mal ganz coole Tipps, zu allem eigentlich. Gerade die Expat-Szene ist in Shanghai ja total spannend. Eine Parallelwelt sozusagen, davon habe ich als Tourist ja keinen Schimmer. Du würdest mich mitnehmen?«

»Klar. Kein Problem.« Sie nickte und lächelte ihn freundlich an.

Shit, er redete viel zu viel.

»Danach kann ich ja immer noch weiterziehen«, verkündete er, um seine Freude über ihr Angebot zu verbergen.

Keine Ahnung, warum es ihm so viel bedeutete, dass sie es doch in Betracht zog, mit ihm auszugehen.

---ENDE DER LESEPROBE---