Sommernachtssehnsucht - Karin Lindberg - E-Book
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Sommernachtssehnsucht E-Book

Karin Lindberg

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Beschreibung

Unter der isländischen Mitternachtssonne scheint das Glück zum Greifen nah.

Für die Hochzeit ihrer Schwester kehrt die Isländerin Víoletta in ihre Heimat zurück. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn einen Ortswechsel hat sie bitter nötig. Kaum angekommen, läuft Víoletta dem attraktiven Hákon in die Arme, der sie erst mit seiner arroganten Art auf die Palme bringt und dann schlammbespritzt an einer Tankstelle stehen lässt! Die Insel zieht die gebürtige Isländerin schnell wieder in ihren Bann, und zwischen Mitternachtssonne, taghellen Nächten und spiegelglattem Fjord kommt Violetta endlich zur Ruhe. Auch Hákon, der mit seinem Opa im malerischen Küstenort Hauganes Whalewatching-Touren organisiert, wird ihr mit jeder Begegnung sympathischer. Zwischen ihnen knistert es gewaltig, aber Hákon scheint Geheimnisse zu haben, und auch Violetta spielt nicht mit offenen Karten. Nur wenn beide bereit dazu sind, sich gegenseitig zu vertrauen, ist eine gemeinsame Zukunft möglich. Aber werden sie dafür ihre gebrochenen Herzen aufs Spiel setzen?

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Sommernachtssehnsucht

EINE ISLANDLIEBE - SOMMERROMAN

KARIN LINDBERG

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Zum Schluss …

Über die Autorin

Lektorat: Dorothea Kenneweg

Korrektorat Ruth Pöß

2. Korrektorat Dr. Andreas Fischer

Covergestaltung: Casandra Krammer - www.casandrakrammer.de

Covergestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: ©️ Olga_Bonitas – depositphotos.com, aslysun, Zapatosoldador, Tanya Syrytsyna – Shutterstock.com

Copyright © Karin Lindberg 2022

2. Auflage 2022

K. Baldvinsson

Am Petersberg 6a

21407 Deutsch Evern

www.karinlindberg.info

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Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Erstellt mit Vellum

KapitelEins

Die Scheibenwischer des roten Ford Fiesta schabten quietschend über das Glas. Dicke Regentropfen donnerten von allen Seiten herab und erschwerten die ohnehin schon schlechte Sicht zunehmend.

»Velkomin heim«, murmelte Víoletta, und ein Laut, der eine Mischung aus hysterischem Lachen und verzweifeltem Schreien war, löste sich aus ihrem Mund. Willkommen zu Hause.

Ihr war bewusst, dass sie überspannt und fix und fertig war. Die zwei Nächte auf der Fähre von Dänemark nach Seyðisfjördur, an der Ostküste Islands, hatten ihr Übriges nach dem Beziehungsdesaster mit Per dazu beigetragen, dass sie völlig am Ende ihrer Kräfte war. Nicht nur das, eine Dusche könnte sie auch vertragen. Aus Kostengründen hatte sie sich bloß eine Überfahrt ohne Kabine auf dem Sammeldeck leisten können, dementsprechend klebrig fühlte sie sich jetzt nach achtundvierzig Stunden auf See. Und übermüdet war sie sowieso. Das alles und die Entwicklung der vergangenen zwei Wochen waren schlicht zu viel für Víoletta, aber sie konnte und würde jetzt nicht aufgeben. Und der Typ für Nervenzusammenbrüche war sie auch nicht.

Sie fuhr rechts ran, stellte die Warnblinkanlage an und stieg aus. Eisiger Wind peitschte ihr den strömenden Regen ins Gesicht. Vío schloss die Augen und brüllte ihren Frust aus sich heraus, dass sie sogar die Gedanken in ihrem Kopf übertönte. Sie schrie sich alles von der Seele, was sich in den letzten Wochen in ihr aufgestaut hatte, bis ihre Stimme nur noch ein Krächzen war. Dann stieg sie wieder ein, stellte die Heizung höher und blickte durch die Scheibe. Die Landschaft war steinig, hier und da lag schwarzer Sand, es war eine isländische Felsenwüste. Nur wenige Pflanzen überlebten die harschen Wetterbedingungen in diesem Teil des Landes. Vor einigen Jahrzehnten noch war die Gegend im Winter nicht passierbar gewesen, man hatte den Osten über Monate nur mit dem Schiff erreichen können. Die Straße verlor sich irgendwo weiter hinten am Horizont, immer geradeaus, immer weiter. Kurven gab es nur wenige – warum auch, in der Gegend wohnte niemand. Die gelben Fahrbahnmarkierungen bildeten die einzigen Farbtupfer im tristen Grau des verregneten Sommertages.

Vío war zwar völlig durchnässt, aber sie fühlte sich besser. Ihr kleiner Ausbruch war wirklich befreiend gewesen, ein bisschen verrückt vielleicht, aber richtig gut. Der Knoten in ihrem Magen hatte sich gelöst, man würde sehen, was jetzt kam. Sie lächelte schief, startete den Motor und fuhr weiter in Richtung Norden.

Sie konnte sich Zeit lassen, sie hatte Urlaub, oder wie auch immer man ihren Zustand beschreiben sollte. Wenn jemand aus ihrer Familie fragte, wäre das jedenfalls die Antwort, und die würde nicht mal jemand anzweifeln, da Vío schon vor Wochen zugesagt hatte, bei den Vorbereitungen zur Hochzeit ihrer Schwester Hildur zu helfen und sich dafür freizunehmen.

Apropos, sie musste noch Bescheid geben, dass sie bald ankam. Sie hatte niemanden vorab über ihre Ankunft informiert, einerseits, weil sie den Kopf voll anderer Dinge gehabt und man auf der Fähre ohnehin keinen Handyempfang hatte, andererseits, weil es im Grunde nicht nötig war, sich lange im Voraus anzumelden. Bei ihrer Familie war sie sich wenigstens sicher, dass sie willkommen war. Ein schönes Gefühl.

Vío dachte an ihr Leben in Berlin und daran, dass sie andere Pläne mit Per und der Firma gehabt hatte. Per hatte sie während des Studiums kennen und lieben gelernt – es war für fünf Jahre gutgegangen. Dass sie nicht nur ein Paar gewesen waren, sondern auch zusammen gearbeitet hatten, hatte sich gut angefühlt, sehr gut sogar. So gut, dass Vío kürzlich ihre Wohnung gekündigt und ihren Hausstand aufgelöst hatte, um bei Per einzuziehen. Dumm nur, dass er sich kurzfristig anderweitig umgesehen hatte. Wobei man es so nicht nennen konnte – er hatte vielleicht einen Auftrag zu akribisch ausgeführt. Vío hatte Bilder im Kopf, die sie nicht sehen wollte. Per mit Caroline Schäfer … Die eigentlich nur eine Kundin hatte sein sollen, für die die Agentur eine Social-Media-Kampagne organisierte. Nun, Per hatte sich auch um andere Bedürfnisse gekümmert.

Das Schlimmste daran war, dass Vío es nicht mal mitbekommen hatte, weil sie so mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen war. Die Agentur hatte sich in den letzten Jahren einen Namen damit gemacht, kluge und witzige Internet- und Social-Media-Kampagnen, die anders waren und damit neu und erfrischend. Ein kleiner Start-up inmitten von Berlin mit einem kleinen, aber erlesenen Kundenkreis, der sich langsam, aber stetig erweiterte. Nicht zuletzt war das Vío zu verdanken, weil sie das kreative Köpfchen im Team hatte.

Sie begeisterte die Kunden mit unverbrauchten Ideen und schaffte es sogar, den introvertiertesten Promi dazu zu bringen, sich ein wenig für die neuen Medien zu öffnen. Vío war stolz darauf, denn es zeigte, dass sie nicht nur kreativ, sondern auch empathisch im Umgang mit ihren Klienten war. Sie liebte ihren Job und wollte jetzt nicht daran denken, welche Konsequenzen eine Trennung von Per mit sich bringen könnte. Irgendeine Lösung würde sich schon finden, wie man in Zukunft im Büro miteinander umgehen konnte. Oder auch nicht. Alles in ihr sträubte sich beim Gedanken daran, weiter mit ihm in einer Firma tätig zu sein.

Sie erinnerte sich noch sehr gut an den Moment, als Per sie in sein schickes Eckbüro gebeten hatte, als wäre sie nur eine Angestellte. Er hatte sich auf seine Schreibtischkante gesetzt und seine dicke schwarze Brille auf der Nase zurechtgerückt.

»Vío, wir müssen reden«, hatte er ganz ernst gesagt und sich seine gegelten Haare noch einmal glatt gestrichen. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte es in ihrem Bauch angefangen zu grummeln: Wenn man diesen Satz hörte, war immer irgendwas im Busch. Doch noch hatte sie damals nicht kapiert, was er ihr hatte mitteilen wollen.

Vío stieß einen tiefen Seufzer aus und starrte auf die Straße vor sich, die sich stur durch die karge Landschaft fraß. Hohe, dunkle Felsen auf der linken Seite ragten in den wolkenverhangenen, grauen Himmel. Die Szenerie hatte etwas von einer Endzeitstimmung und passte zu ihren Gedanken. Sie konnte es auch jetzt nicht wirklich fassen, dass ihr das tatsächlich passiert war. Per war nicht mal mit dem Standardspruch gekommen, ›Wir können Freunde bleiben‹, nein, er hatte sie nur gebeten, dass sie es im Arbeitsalltag professionell halten würden, weil er sich von ihr trennen wollte. Eiskalt und völlig emotionslos.

»Was für ein Drecksack«, schimpfte sie und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Das könnte ihm so passen. Einen Scheiß würde sie. Heute wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, die Agentur zwar gemeinsam aufzubauen, aber nicht am Geschäft beteiligt zu werden, weil sie damals als Isländerin einige Formalitäten noch nicht erledigt hatte. Heute wusste sie, dass sie gleich darauf hätte bestehen sollen. Per und sie hatten die Leidenschaft für eine Sache geteilt. Per hatte das Kapital in die Firma eingebracht, sie die kreativen Ideen – es hatte sich richtig angefühlt, bis zu dem Zeitpunkt, als sie kapiert hatte, dass Per sie ausgenutzt hatte.

Wie sollte es jetzt weitergehen? Einen Arbeitsvertrag hatte sie nicht. Gott, sie schüttelte erneut den Kopf. Jetzt dachte sie selbst schon typisch deutsch, obwohl sie Isländerin war. Sie würde einfach abwarten, ob Per ihr das Gehalt überwies oder nicht. Zu mehr Entscheidungen war sie gerade nicht fähig – sie brauchte eine Auszeit, Ruhe, um nachzudenken, wie sie vorgehen konnte. Sie war längst nicht bereit, einfach aufzugeben und Per das Feld zu überlassen. Sie wusste nur noch nicht wie. Später, sagte sie sich. Die Lösung für ihr Problem fand sie sicher nicht auf einer einsamen Landstraße, und sie brauchte etwas Abstand, um wieder klar denken zu können. Den Urlaub hatte sie sich in jedem Fall redlich verdient.

»Scheiße«, brummte sie und strich sich mit der Hand über die Stirn, dann konzentrierte sie sich wieder auf das Fahren. Sie wollte nicht mehr länger über das Desaster ihres Lebens nachdenken. Nicht jetzt zumindest. Es war nicht gut in ihrem übermüdeten und überanstrengten Zustand. Ihr Magen knurrte, was ihre Stimmung auch nicht unbedingt hob, aber sie tuckerte gerade über das Hochland, hier gab es weder Tankstellen noch Läden oder Restaurants. Im Grunde gab es hier nicht mal Gras, die Landschaft war so karg, so harsch und ursprünglich. Aber selbst mit dem Regen war es noch atemberaubend rau und schön. Nach Island reiste man nicht wegen des Wetters, obwohl man sich natürlich immer freute, wenn die Sonne schien. Und wenn nicht, machte man das Beste draus. Isländer waren von jeher unerschütterlich in ihrem Optimismus. Eigentlich. Gerade fühlte Vío sich alles andere als positiv gestimmt, wenn sie in die Zukunft blickte.

Vío war vielleicht zu lange fort gewesen. Es kam ihr so vor, als hätte sie etwas von ihrer bejahenden Grundeinstellung durch die Beziehung mit Per und die bittere Enttäuschung eingebüßt. Es war definitiv an der Zeit, das zu ändern. Aber zuerst musste sie Hildur anrufen. Sie wählte über die Freisprecheinrichtung, ihre Schwester nahm sofort ab und begrüßte sie mit einer Kanonensalve an Informationen. Vío grinste. »Es tut gut, mit dir zu reden.«

»Gleichfalls, Liebes. Wo steckst du? Alles okay?«

Ein warmes Gefühl breitete sich in Víos Magen aus, als sie den besorgten Tonfall ihrer Schwester bemerkte. »Ja, na ja. Ich bin unterwegs. Um genau zu sein, bin ich in anderthalb Stunden bei dir in Akureyri.«

»Waaas?«, kreischte Hildur ins Telefon. »Wie geil ist das denn?«

Vío musste schmunzeln. »Kann ich bei euch schlafen?«

Es folgte ein kurzes Schweigen. »Oh, ähm, na ja. Pierres Familie ist vorgestern angekommen, wir sind komplett voll.«

»Hm.« Vío überlegte. Sie hatte keine Lust, im Wohnzimmer auf einer Matratze zu liegen, umgeben von einer wilden Horde Franzosen. Sie grinste. Hildur war seit vier Jahren mit Pierre zusammen, er war für sie nach Island ausgewandert und arbeitete als Arzt im örtlichen Krankenhaus.

»Wie wäre es, wenn du bei Oma in Hauganes bleibst?«, schlug Hildur vor.

»Bei Oma?« So gern sie ihre Großmutter hatte, sie konnte mitunter ein wenig anstrengend sein. Und neugierig. Für ein paar Tage würde es gehen, aber da Vío keine Ahnung hatte, wie lange sie tatsächlich bleiben würde, wäre es nicht optimal. Zudem wollte sie nicht zu einer Belastung für ihre Oma werden, sie war immerhin gerade achtzig geworden. Sicher wäre es anstrengend für sie, ihre Enkelin andauernd zu betüdeln. Oma Guðný würde es sich nämlich einhundert Prozent zur Aufgabe machen, Vío zu versorgen, als wäre sie immer noch sieben und nicht achtundzwanzig. So war sie einfach. Nein, das kam nicht infrage, das würde Vío auch nicht aushalten. Sie lächelte in sich hinein, sie freute sich, alle wiederzusehen.

»Was meinst du?«, dachte Vío schließlich laut. »Vielleicht hat Tante Astrún ja noch ein Kämmerchen für mich frei?« Sie wohnte wie Oma in Hauganes am Eyjafjord und hatte ein großes Haus, zwei der drei Kinder waren bereits vor Jahren ausgezogen und hatten eine eigene Familie gegründet. Der Jüngste fuhr im Sommer zur See und war auch nur hin und wieder da.

»Ja, das könnte klappen. Oh, wie schön. Ich freu mich, dich zu sehen. Kommst du nachher vorbei?«

»Ich muss erst mal duschen und mich hinlegen. Bin mit der Fähre gekommen und total im Eimer.«

»Ach so, na gut. Dann melde dich, ja?«

Sie verabschiedeten sich, dann klärte Vío mit ihrer Tante, dass sie für ein paar Tage bei ihr unterkommen konnte. Als das alles geregelt war, tuckerte Vío bereits durch Akureyri. Von hier aus waren es nur noch zwanzig Minuten bis Hauganes. Ihr Tank war fast leer, und ihr Magen hing ihr in den Knien. Sie fuhr kurz an der Tankstelle ran, füllte Benzin auf. Zum Glück hatte es endlich aufgehört zu regnen, in den großen Pfützen spiegelten sich die dunklen Wolken und der Himmel. Die Luft war klar und kalt. Vío atmete tief ein und spürte, wie sich ihre Lungen ein Stück weiteten. Ihr war klar, dass sie kaum besser als eine Pennerin ausschaute, aber es war nicht zu ändern, und letzten Endes war es ihr auch wurscht, ob sie jemandem begegnete, den sie kannte. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf ihr Äußeres, das sich in der Glasscheibe reflektierte.

Okay, das war doch schlimmer als gedacht. Ihre dunkelbraunen Haare glichen einem wilden Vogelnest, die Jogginghose hatte Flecken, ihr Kapuzenpullover auch. Aber wirklich schlimm waren die tiefen, dunklen Augenringe und die von der Anstrengung geröteten Pausbacken. Sie klaubte ein paar Krümel von ihrer Hose, die vermutlich mal Käsepopcorn gewesen waren. Das Bedürfnis nach den beiden lebensnotwendigen Ks, Kaffee und Kohlenhydraten, wuchs mit jeder Sekunde. Ja, sie war eine Stressesserin und auch eine Gesellschaftsesserin. Jetzt musste sie doch schmunzeln. Im Grunde konnte sie immer essen, nicht nur das, sie kochte auch gern, was man ihr deutlich ansah. Sie zuckte die Schultern. Was solls, sagte sie sich. Interessiert jetzt sowieso keinen mehr. Immerhin etwas Gutes, dass sie Per los war. Der hatte immer ihren zu breiten Hintern kritisiert. Als Single konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Und jetzt wollte sie ganz dringend einen guten isländischen Hotdog und einen extragroßen Kaffee. Und vielleicht noch ein Eis – all das gehörte zu den Grundnahrungsmitteln der Isländer und war exakt das, was sie sich gönnen würde.

Vío straffte sich, ging hinein, trat an die Kasse, überflog das Angebot, das auf einer Tafel an der Wand angebracht war, obwohl sie genau wusste, was sie bestellen würde. O Gott, es tat so gut, wieder zu Hause zu sein! Allein hier zu stehen, war Balsam für ihre Seele, und sei es nur für einen dämlichen isländischen Hotdog, den sie gleich in der Hand haben würde. In der Tankstelle roch es nach Frittenfett und Zucker. Hinter der Kasse arbeiteten drei Jugendliche, die sich vermutlich nach der Schule was dazuverdienten. Das war der größte Unterschied zu Deutschland. Hier gab es überall junge Menschen, und die älteren waren in die Gesellschaft integriert und wurden nicht als Belastung angesehen. Wenn du in der Tankstelle jobbst, hast du nicht die Perspektive im Leben verloren, sondern machst einfach deine Arbeit, ohne gleich als Mensch zweiter Klasse beurteilt zu werden.

Vío wollte gerade ihre Bestellung aufgeben, als sich jemand vordrängelte. Sie öffnete ihren Mund und schloss ihn gleich wieder. Ein breitschultriger großer Kerl im gut sitzenden Anzug zückte seine Kreditkarte. Er wirkte, als hätte er es eilig. Nicht nur das, er roch auch ziemlich gut. Sein herbes Aftershave verströmte eine Note von Bergamotte. Vío schluckte und fing an, sich zu ärgern. Scheißegal, wie herrlich der Kerl duftete, das war noch lange kein Grund, sich nicht hinten anzustellen.

»Ähem«, machte sie auf sich aufmerksam.

Er reagierte nicht. Vío starrte auf seinen durchaus ansehnlichen Hinterkopf. Sein dunkelblondes Haar war mit Gel in Form gebracht worden und wirkte doch irgendwie zerzaust. Die junge Frau hinter der Kasse hatte Vío bemerkt, aber es schien nicht so, als ob sie eingreifen wollte.

»Hallo?«, wurde Vío deutlicher. »Ich glaube, ich war vor dir dran.«

Endlich drehte der Kerl sich um und blinzelte irritiert. Er wirkte gedankenverloren, und ihm schien erst jetzt bewusst zu werden, wo er sich befand. Aber vor allem hatte dieser Mann die blauesten Augen, die Vío jemals gesehen hatte. Sie strahlten so intensiv wie der isländische Winterhimmel an einem sonnigen Tag.

Ihr wurde schrecklich warm, während er sie durchdringend musterte. Ganz langsam, als ob sie nackt wäre. Sie versuchte sich nicht davon irritieren zu lassen. Leider musste sie feststellen, dass sein Blick heiße Wellen durch ihren Körper jagte, die sich direkt in ihrem Unterleib sammelten.

Heilige Mutter Gottes. Sie schluckte.

Wo kam diese Reaktion denn auf einmal her? Vío atmete zittrig ein und wieder aus.

O Shit. Hatte sie eben ein ›Wow‹ gehaucht? So viel dazu, cool bleiben zu wollen. Verdammt.

Mit einem Räuspern straffte sie ihre Schultern und richtete sich kerzengerade auf.

»War was?« Der Klang seiner dunklen, ein wenig rauchigen Stimme jagte kleine Schauer an ihrer Wirbelsäule auf und ab.

Und dann erinnerte sie sich, dass sie Leute wie ihn, die keine Rücksicht auf andere nahmen, nicht leiden konnte – scheißegal, wie attraktiv sie auch sein mochten. Sogar sein Hemd wirkte maßgeschneidert. Das alles sollte eher noch einen Minuspunkt extra geben, weil er mit ziemlicher Sicherheit ganz genau wusste, wie heiß er war und das zu seinem Vorteil ausnutzte, als könnte ein Tausendsassa wie er sich alles erlauben.

Ätzend! Von dieser speziellen Sorte Mann hatte sie genug. Ein für alle Mal.

»Du hast dich vorgedrängelt«, klärte sie ihn ruhig auf und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Ein Glück, dass es in Island kein ›Sie‹ gab wie im Deutschen, es schimpfte sich per Du nämlich viel deutlicher. Die blöde Strähne löste sich sofort wieder und kitzelte Vío im Gesicht. Leider war ihr Haar von der Reise störrisch und zerzaust. Von Souveränität keine Spur. Ihr lag eine ganze Armada an derben Flüchen auf der Zunge, aber sie schluckte sie herunter. Der Mann konnte nichts dafür, dass sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Er hatte ihr eben nur den berühmten letzten Tropfen geliefert, der das Fass überlaufen ließ. Vío rührte sich nicht, dabei funkelte sie ihn böse an.

Er hob eine Augenbraue, dann steckte er sich den Tankbeleg in die Innentasche seines Jacketts. Eine beiläufige Bewegung, die deutlich machte, dass er nicht nur absolut fantastisch aussah, sondern auch noch überaus definierte Muskeln unter dieser verdammten Anzugjacke verbarg – und sich von ihr nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen ließ.

»Ich bin ja jetzt fertig.« Achselzuckend marschierte er mit langen Schritten davon.

Fassungslos glotzte sie ihm hinterher. Einen Knackarsch hatte er auch noch. Sie verzog ihre Lippen und wusste nicht, wohin mit ihrem Ärger.

Der Typ hatte sich nicht mal entschuldigt. Sollte eigentlich keine Überraschung sein, überlegte Vío genervt. Manche Leute glaubten einfach, die Welt gehörte ihnen.

»Arschloch«, murmelte sie. Es war ihr egal, ob er das mitbekam. Gleichzeitig merkte sie, dass ihre Reaktion ein wenig übertrieben war. Er hatte sich vorgedrängelt, weil er sie nicht bemerkt hatte. Es gab Menschen, die hatten sie um einiges schlimmer behandelt. Sie sollte sich nicht so aufregen. Sie holte tief Luft und trat an den Tresen, um ihre Bestellung aufzugeben. Leider war sie leicht zu reizen, wenn sie hungrig war, und in ihrem Magen klaffte gerade ein riesiges schwarzes Loch. Genau wie in ihrem Herzen. Sie brauchte Zucker und Fett, und zwar schnell.

Víos Stimmung besserte sich mit der Aussicht auf ihre Snacks um ein Vielfaches, während sie die Tankstelle wenige Minuten später samt Hotdog, Eis und Kaffee verließ und auf ihren Wagen zusteuerte. Im Gehen biss sie schon mal ab, dabei – das war fast klar gewesen – tropften Senf und Remoulade auf ihren Pullover. Sie dachte nicht weiter daran und war soeben im Begriff, die Autotür etwas umständlich, weil sie alle Hände voll hatte, zu öffnen, als ein dunkelgrauer Pick-up an ihr vorbeibrauste. Sie registrierte gerade noch, dass es sich bei dem Fahrer um den rücksichtslosen Anzugträger handelte. Er lenkte seinen Wagen direkt durch eine riesige Pfütze. Sie sah es wie in Zeitlupe auf sich zukommen. Vío schloss die Augen, und dann passierte es auch schon. Sie bekam eine Regenwasserdusche vom Feinsten ab. Alles an ihr war nass – auch ihre Snacks.

Sie fluchte wie ein zahnloser Seemann und stampfte mit dem Fuß auf, als wäre sie wieder drei Jahre alt.

»Das gibts doch nicht, Idiot!«, kreischte sie, während sie prüfte, was von ihrem Hotdog noch zu retten war.

So hatte sie sich das Nachhausekommen nicht vorgestellt.

Hákon ließ die klare Flüssigkeit in seinem Glas schwappen und schaute aus dem Fenster über den Eyjafjord. Dunkle Wolken zogen über den Himmel, einige Möwen kreisten über der Wasseroberfläche. Auf den Kuppen der gegenüberliegenden Berge lag noch ein wenig Schnee vom letzten Winter, das tieferliegende Gras erstrahlte in einem satten Grün. Die letzten Tage waren regnerisch und kalt gewesen, aber das war nicht der Grund für seine nachdenkliche Stimmung. Im Gaskamin züngelten kleine blaue Flammen, aus den Lautsprechern drangen sanfte Klänge von Ólafur Elíasson an sein Ohr, er liebte die ruhige, melancholische Musik. Sie passte zu seiner nachdenklichen Stimmung.

Hákon war gerade aus Reykjavík zurückgekommen, wo er sich mit seinen Anwälten getroffen hatte, um die Investitionsvorschläge seines Freundes Joe zu diskutieren. Auf den ersten Blick hatte alles ausgezeichnet ausgesehen, ein bisschen zu sehr vielleicht. Er schlug vor, einen Immobilienkomplex in einer mittelgroßen Stadt in Connecticut zu kaufen und darauf ein Einkaufszentrum und Wohnungen zu errichten. Ein Plan, der logisch und plausibel klang, trotzdem wunderte sich Hákon, wie sein Kumpel gerade darauf kam. Hákon trank von seinem Glas und stellte es dann auf den Tisch. Isländisches Wasser war einfach das Beste, er genoss es auch nach Monaten, seit er aus den Staaten wieder hierhergezogen war, noch immer als einen nicht selbstverständlichen Luxus.

Er wollte gerade aufstehen und sich umziehen, als die Tür aufging und Flóvent eintrat. Sein Bruder hatte den Zugangscode zum schlüssellosen Haus, es war absolut nicht ungewöhnlich, dass er unangemeldet bei ihm auftauchte. Sie standen sich sehr nahe und waren nicht nur Geschwister, sondern auch enge Freunde.

Hákon drehte sich um und stieß einen Fluch aus, als er Fló mit seinem verdreckten Fahrrad im Flur stehen sah.

»Gehts noch?«, meckerte er.

Sein drei Jahre jüngerer Bruder grinste. Seine Sportklamotten waren mit Matschspritzern übersät, seine Wangen gerötet. Die zu langen blonden Haare hatte er zu einem kleinen Dutt zusammengebunden. Im Gegensatz zu Hákon, der sich hin und wieder rasierte, trug Fló einen gestutzten Vollbart, wie es zurzeit modern war.

»Entspannt dich mal, ich wollte es gerade in die Garage bringen, es stimmt was nicht mit der Feder.«

»Und warum stehst du dann in meinem Haus und saust alles ein?«

»Weil du deinen Pick-up so beschissen geparkt hast, dass ich mit dem Rad nicht vorbeikomme.«

Hákon musste grinsen. »Entschuldige, dass ich mein Auto in meine Garage stelle. Richte dir doch ’ne eigene Werkstatt ein, wenn es dir bei mir nicht passt.«

Fló grinste ebenfalls und zeigte seinem Bruder einen Mittelfinger. Die beiden hatten einige gemeinsame Hobbys, eines davon war das Fahrradfahren. Downhill – was seit einigen Jahren sehr populär geworden war –, zählte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen im Sommer.

»Du weißt genau, dass ich keine eigene Garage habe.«

»Eben. Also hör auf dich zu beschweren, sonst kannst du gleich putzen, ehe du dein Rad auf Vordermann bringst«, witzelte Hákon, stand auf und ging ein paar Schritte auf seinen Bruder zu. »Wie wars eigentlich?« Flóvent war mit einem Kumpel die Strecke vom Hlíðarfjall, einem Berg, der im Winter zum Skifahren genutzt wurde, mit den Rädern nach unten ins Tal gerast. Hätte Hákon nicht den Termin in der isländischen Hauptstadt gehabt, wäre er selbst mitgefahren.

Flóvents Grinsen wurde breiter. »Mega. Aber ziemlich nass. Und bei dir? Machst du es?«

Hákon rieb sich das stoppelige Kinn. Seinen Anzug hatte er noch nicht gegen legere Klamotten getauscht, das wollte er gleich nachholen. »Ich bin mir nicht sicher, keine Ahnung.«

Geld sinnvoll anzulegen, war grundsätzlich etwas, woran Hákon interessiert war, das war ja das Seltsame bei der Sache. Irgendwas störte ihn an dieser Investitionsmöglichkeit, er wusste bloß nicht, was es war. Rein objektiv betrachtet gab es keinen Haken, aber sein Bauch sagte ihm was anderes.

»Was ist?«, wollte Flóvent jetzt wissen.

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht bin ich auch paranoid oder so.« Er zuckte die Schultern.

»Denkst du, Joe will dich übers Ohr hauen?«

»Nein, auf keinen Fall.« Obwohl er diese Antwort sehr schnell gegeben hatte, war Hákon alles andere als restlos überzeugt. Joe und er waren seit Langem befreundet, und sie hatten schon einige gute Geschäfte zusammen gemacht. Joe war einer der wenigen Menschen, bei denen sich nichts verändert hatte, nachdem Hákon und Flóvent das große Los gezogen und reich geworden waren. Er konnte seinem Kumpel vertrauen. Nur, seit Hákon und Fló die Staaten verlassen hatten, war das Verhältnis ein wenig abgekühlt. Vielleicht rührte seine Skepsis bezüglich der Investition daher, überlegte Hákon. Der Gedanke beruhigte ihn ein wenig.

»Dann mach es nicht«, schlussfolgerte Fló und zuckte die Schultern. Er schob das Rad in Richtung Verbindungstür zur Garage und hinterließ eine matschige Spur auf dem hellen Steinzeug des Eingangsbereichs.

Hákon fluchte. »Das wischst du nachher aber wieder sauber, klar? Ich muss jetzt laufen.«

Er trollte sich ins Schlafzimmer, von wo aus er in seinen begehbaren Kleiderschrank kam. Viel hing nicht drin, er war, was Klamotten betraf, eher ein Minimalist – mit allem anderen auch. Er wunderte sich selbst noch immer, dass er sich dieses riesige Haus ans Ufer von Hauganes hatte bauen lassen. Ein wenig abseits vom Rest der Siedlung, aber doch nahe genug, um nicht völlig außerhalb zu wohnen. Er hängte seinen Anzug auf einen Bügel und stopfte das Hemd in die Wäschetonne, ehe er in seine Laufklamotten schlüpfte. Er musste raus, nachdenken und sich den isländischen Sommerwind um die Ohren pusten lassen. Vielleicht sah er danach einiges klarer. Er hoffte es zumindest.

KapitelZwei

Etwas drückte auf Víos Magen und ihren Brustkorb. Eine Last, die sich auch noch bewegte. Sie schnappte nach Luft und stieß dabei ein leises Quietschen aus. Als Nächstes bekam sie einen Tritt ins Gesicht. Sie stöhnte, als sie begriff, dass zwei von Astrúns Enkelkindern in ihrem Bett turnten und sie als Trampolin benutzten. Auf Isländisch hießen alle näheren männlichen Verwandten frændi und alle weiblichen frænka, sie hatte es in ihrer Zeit in Deutschland nie geschafft, die ganzen deutschen Begriffe wie Nichten, Neffen, Großnichte und all das Zeug zu lernen. Vío hielt die Augen geschlossen und dachte nicht mehr darüber nach, wie sie die Sprösslinge ihrer Cousine im Verwandtschaftsgrad auf Deutsch bezeichnen könnte.

»Kinder«, brummte sie. »Geht woanders spielen.« Sanft, aber bestimmt schob sie den dreijährigen Haukur von sich herunter und dann die fünfjährige Sarah.

»Steh auf«, forderte sie der blonde Junge auf und stupste sie immer wieder an.

Vío drehte sich auf die Seite und versuchte der Folter zu entkommen. »Ich will nicht«, knotterte sie. »Ich muss mich ausruhen.«

Tatsächlich war sie gestern erst spät ins Bett gegangen, und dann hatte sie Ewigkeiten gebraucht, bis sie eingeschlafen war. Ihr war einfach zu vieles durch den Kopf geschwirrt, gleichzeitig war sie irrsinnig froh gewesen, endlich angekommen zu sein. Nach zwei Nächten auf der Fähre schien der Boden noch immer unter ihr zu schwanken. Vío hatte sich, obwohl sie keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte, gefühlt, als wäre sie betrunken. Jetzt wäre die Zeit, den verpassten Schlaf der letzten Wochen nachzuholen, aber anscheinend wollten das diese kleinen Quälgeister nicht einsehen.

»Was muss ich machen, damit ihr mich in Ruhe lasst?«, versuchte sie zu verhandeln.

Sarah tauchte neben ihrem Gesicht auf, Vío hatte ihre Lider halb geöffnet.

»Ich will ein Eis«, erklärte das Mädchen.

Vío stöhnte und guckte auf ihre Uhr. »Gott, es ist gerade mal kurz nach sieben. Es gibt jetzt bestimmt noch kein Eis.«

»Dann spiel was mit uns.« Haukur war unter Víos Decke gekrabbelt und auf ihren Bauch geklettert. Er guckte sie mit der Bettwäsche auf seinem Kopf an. Der Kleine grinste breit und lachte glucksend.

»Ja, ist ja schon gut, ich gebe auf«, meinte Vío mit einem Seufzen, musste aber doch lächeln. Im Grunde fühlte sie sich geschmeichelt, dass die beiden, obwohl sie sich nur selten sahen, sie so ins Herz geschlossen hatten. Noch lieber wäre es ihr natürlich, wenn sie sie bis um neun schlafen lassen würden, um sie erst danach mit ihrer kindlichen Herzlichkeit zu beglücken.

»Hört mal zu, wie wäre es, wenn ich euch Frühstück mache, und dann spielen wir was?« Vío hob Haukur auf den Boden, stand dann selbst auf und streckte sich ausgiebig. Sie fasste ihre Haare und fasste sie mit einem Gummiband zusammen, anschließend schlüpfte sie in eine Jeans. »Geht schon mal vor, ich bin gleich da, na los.« Sie schob die beiden aus ihrem Zimmer und verschwand kurz, um sich frischzumachen.

Als sie wenige Minuten später nach oben in den Wohnbereich trat, entdeckte sie Astrún, die ihrerseits gerade aus dem zweiten Bad kam. Ihre Haare waren noch nass.

»Guten Morgen, ich hoffe, du hast gut geschlafen?«, wollte ihre Tante wissen und gab ihr ein Küsschen.

»Ja, danke.« Vío unterdrückte ein Gähnen.

»Die beiden haben dich geweckt, hm? Tut mir leid.«

Vío winkte ab. »Schon gut, ich kann später ja noch mal ein Nickerchen machen.«

Haukur und Sarah saßen auf einem Spielteppich im Wohnzimmer und reihten kleine Autos vor einem Parkhaus auf.

Astrún legte Vío einen Arm um die Schulter, gemeinsam gingen sie in die offene, behagliche Küche. Auf dem Boden lagen helle Fliesen, die Wände waren in einem zarten Zitronengelb gestrichen. An den Fenstern baumelten luftige Gardinen. »Du siehst wirklich erschöpft aus, gut, dass du da bist. Dann kannst du ein bisschen den Sommer bei uns genießen. Das Wetter soll jetzt auch besser werden.«

Astrún begann die Kaffeemaschine mit Filter, Wasser und Pulver zu bestücken.

»Soll ich den Tisch decken?«, bot Vío an.

»Lass nur. Entspann dich erst mal. Die Kinder essen sowieso Joghurt mit Cheerios und ein bisschen Obst. Da brauch ich nicht viel mehr hinzustellen.«

»Und ich geh nachher erst mal zu Oma«, meinte Vío. »Aber für einen Kaffee würde ich jetzt glatt einen Mord verüben.«

Ihre Tante lachte. Sie war Mitte fünfzig und arbeitete im örtlichen Kindergarten. Gerade war Sommerpause, und sie hatte daher zwei Enkel zu Besuch. Sie trug ihr volles kastanienbraunes Haar schulterlang. Vío vermutete, dass sie bei der Farbe mittlerweile ein wenig nachhelfen musste. Voller Entsetzen hatte sie letzte Woche selbst ein graues Haar bei sich entdeckt – und es sofort ausgerissen. Daran konnte nur Per schuld sein. Sie wollte jetzt nicht an ihn und die Misere ihres Lebens denken.

»Kaffee kommt gleich. Sag, was hast du geplant?«, fragte ihre Tante.

Vío liebte den Aktionismus ihrer Landsleute und vor allem den ihrer eigenen hyperaktiven Familie. Sie hatte das alles sehr vermisst. Wo es sonst in ihrem Freundeskreis in Berlin Mitte oft nur darum ging, die Freizeit mit chillen und Selbstfindung zu verbringen, hatten die Isländer eine ganz andere Philosophie: raus in die Natur und was erleben, solange das Wetter es zuließ. Die Winter auf Island konnten lang und kalt werden, und gerade in den letzten Jahren hatte es unglaublich viel Schnee und viele Stürme gegeben. Es war daher kaum verwunderlich, dass man die wenigen hellen Sommermonate so gut wie möglich ausnutzen wollte. Auch Vío, egal wie müde sie war. »Natürlich will ich Hildur mit der Hochzeit helfen, da gibts doch sicher noch viel zu tun.«

Astrún nickte. »Klar, aber die ist doch erst in vier Wochen.« Sie lachte. »Du bist ja echt schon halb deutsch geworden.«

Vío nahm die kleine Neckerei nicht persönlich, tatsächlich hatte sie sich in vielen Dingen angepasst, anpassen müssen. Nur mit der Pünktlichkeit war sie auch nach Jahren noch nicht auf einen grünen Zweig gekommen, was bei Per und ihr immer wieder zu Streitigkeiten geführt hatte. Er war, was Planung anbelangte, so penibel wie ein Buchhalter. Bedauerlicherweise hatte er es dafür mit der Treue nicht so genau genommen. Idiot.

»Was ist?«, fragte Astrún. »Du hast gerade so laut geseufzt?«

»Äh, nee, alles gut«, log sie.

Die Kaffeemaschine blubberte und gurgelte, während ihre Tante zwei Schüsselchen für die Enkel hervorkramte, dann nahm sie den Joghurt aus dem Kühlschrank und kippte etwas in die Schüsseln, danach kamen die Cheerios auf den Tisch.

»Kinder, kommt essen«, rief Astrún, und es dauerte keine zehn Sekunden, bis die beiden auf ihren Stühlen saßen und sich Cerealien in den Joghurt streuten.

»Herrlich«, murmelte Vío. »Ist Konráð schon los?« Ihr Mann arbeitete in Akureyri als Geschäftsführer einer Maschinenfabrik.

Sie nickte. »Ja, der hatte heute einen frühen Termin, ist nicht ungewöhnlich.«

Der Duft von Kaffee schwebte durch die Küche, und Víos Stimmung besserte sich merklich, als sie eine große Tasse vor sich stehen hatte, in die Astrún schon etwas Milch gekippt hatte.

Zwei Stunden später trat Vío frisch geduscht und ordentlich gekämmt vor Astrúns Haustür und holte tief Luft. Es roch herrlich würzig nach Meersalz und Gras. Ihre Tante wohnte in einem hübschen, gelb gestrichenen Häuschen in der Nähe des Ufers. In den Blumenkästen vor den Fenstern leuchteten rote Geranien. Etwas weiter die Straße hinab gelangte man zum kleinen Hafen, wie fast jedes Dorf an der Küste einen hatte. In Hauganes gab es nur drei Straßen und weniger als vierzig Häuser. Der Begriff ›Dorf‹ war schon hochgegriffen, überlegte sie fröhlich. Einige Produktionshallen reihten sich aneinander, Vío war nicht sicher, ob sie noch, und wenn ja, wie sie genutzt wurden. Daneben stand ein kleines Holzhaus mit einer großen Veranda. Früher war das ein Restaurant gewesen, aber es hatte vor ein paar Jahren geschlossen. Jetzt kam ihr so vor, als täte sich was darin, es wirkte ein bisschen wie eine Baustelle. Vío hatte ihren Lopapeysa, ihren isländischen Wollpullover, übergezogen. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen tiefblauen Himmel, es war windstill. Noch.

Vío wusste, dass es hier am Eyjafjord morgens oft so war, gegen Mittag änderte sich das meist, dann frischte der Wind auf, und es war nicht mehr ganz so gemütlich. Es gab sogar einen eigenen Begriff dafür: hafgola. Jeder Teil des Landes hatte so seine Eigenarten, was das Wetter betraf. Vío merkte erst jetzt, wie sehr sie das alles vermisst hatte. Sie war so mit sich und ihrem Leben in der pulsierenden Großstadt beschäftigt gewesen, dass sie irgendwie den Blick fürs Wesentliche verloren hatte. Sie atmete noch einmal tief ein und merkte, wie sich ihre verspannte Nackenmuskulatur ein wenig lockerte, dann latschte sie los. Etwas zischte an ihr vorüber.

»Shit«, stieß sie hervor und blinzelte.

Es ertönte ein quietschendes Bremsen, dann drehte ein Radfahrer sich um.

»Sorry, bist du in Ordnung?«, sprach der Typ sie an. Er trug seine blonden Haare in einem modernen Male-Bun und hatte einen Vollbart, der im Sonnenlicht leuchtete. Sein athletischer Körper steckte in einem traditionellen Wollpullover und Jeans. Die blauen Augen leuchteten auf, als er schuldbewusst grinste. Vío fand ihn sofort sympathisch, und das sollte was heißen, immerhin hatte er sie eben um ein Haar umgefahren. Gleichzeitig erinnerte er sie an jemanden, sie kam aber nicht darauf, wer es war.

»Äh, ja, ist noch alles dran«, erklärte sie und lachte. Mit einer wegwerfenden Handbewegung gab sie ihm zu verstehen, dass sie es ihm nicht übel nahm, dass er sie beinahe umgefahren hätte.

»Ich war in Gedanken«, erklärte er. »Tut mir leid, das nächste Mal schaue ich besser.«

»Schon gut, ich habe auch nicht damit gerechnet, dass mir hier gleich alles um die Ohren fliegt, und mich nicht umgesehen. Soweit ich mich erinnere, war das hier nie eine Hauptverkehrsstraße.« Sie grinste noch immer.

»Wohnst du jetzt hier?« Er neigte seinen Kopf ein wenig und wirkte interessiert, positiv interessiert, nicht lästig neugierig. Sehr sympathisch, dachte sie.

»Bin nur zu Besuch.« Sie wusste nicht, wie sie es sonst beschreiben sollte, und das war, selbst wenn sie sich näher kennen würden, eine ausreichende Info.

»Ah, bei Astrún und Konráð?«

»Ja, Astrún ist meine Tante, die Schwester meiner Mutter.« Sie fügte diese Erklärung automatisch hinzu, es war üblich, dass man seine Verwandtschaftsgrade gleich mit preisgab, das gehörte quasi zum isländischen Vorstellungsprozess. In Deutschland machte so was niemand, aber in Island war es was anderes, die Nation war eng verbunden.

»Coole Sache. Ich bin übrigens Flóvent, Freunde sagen Fló zu mir.« Er kam einen Schritt näher. Er zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die alte Salzfischfabrik. »Tryggvi ist mein Opa.«

Das war einer der Gründe, warum Vío Island so liebte. Gerade in der ländlichen Gegend ergab alles irgendwie einen Sinn. »Ah, verstehe. Ihr kommt doch von den Westmänner-Inseln?« Sie erinnerte sich dunkel, dass Tryggvi zwei Enkelsöhne hatte, die früher im Sommer immer mal wieder hier gewesen waren. Sie waren sich bestimmt schon mal begegnet, wenigstens vom Hörensagen waren sie Vío ein Begriff.

Er nickte. »Ja, stimmt. Aber jetzt wohnen wir nicht mehr dort, sondern hier. Ist ne lange Geschichte. Erzähl ich dir gern mal bei einem Bier.«

Sein breites Grinsen wirkte ehrlich, gleichzeitig kapierte Vío, dass er ein Kerl war, der nichts anbrennen ließ. Er versprühte einen männlichen Charme, der bei Frauen garantiert funktionierte. Vío hatte aber kein Interesse, in naher Zukunft von ihm oder jemand anderem flachgelegt zu werden.

»Äh, klar, gern. Machen wir mal«, gab sie ausweichend zurück, ohne unhöflich zu wirken.

»Super, dann … bis bald.« Fló schwang sich wieder auf sein ultracooles Bike und radelte davon.

Sie rief ihm ein »Schönen Tag noch« hinterher, dann war er auch schon um die Ecke verschwunden. Kopfschüttelnd setzte Vío ihren Weg fort, nicht ohne sich noch einmal über diese Begegnung zu wundern und irgendwie auch zu freuen. Vielleicht achtete sie jetzt mehr darauf, aber es kam ihr so vor, als wären die Leute in Island grundsätzlich viel besser drauf als in Berlin. Man machte hier nicht so viel Aufhebens um einige Sachen. In Deutschland gab es zu häufig Lärm um nichts, weil die Leute sich einfach gern aufregten, anstatt sich des Lebens zu freuen. Vielleicht war sie auch einfach noch sauer auf Per und projizierte das nun auf alle Deutschen. Möglich, jedenfalls hatte sie gerade genug von ihrem alten Leben und war glücklich, zu Hause im Norden zu sein. Vío war in Akureyri aufgewachsen, später waren die Eltern beruflich nach Reykjavík umgezogen und Vío zum Studium nach Deutschland gegangen, während ihre Schwester in Akureyri geblieben war.

Vío lief ein paar Meter die Hauptstraße entlang, bis sie zu einem Wohnkomplex gelangte, der für ältere Mitbürger gebaut worden war. Es war nicht direkt ein Seniorenheim, aber es gab eine Krankenschwester im Haus und eine Art Kantine, bei der man sich anmelden konnte, wenn man nicht selbst kochen wollte. Trotzdem lebte jeder in seiner eigenen Bleibe. Das Haus hatte drei Etagen mit je fünf Apartments. Jede der Eigentumswohnungen hatte einen atemberaubenden Blick auf den Fjord. Oma Guðný war vor einigen Jahren nach dem Tod ihres Mannes hergezogen, sie fühlte sich wohl dort. Vío freute sich, sie gleich wiederzusehen. Sie klingelte, durch die Gegensprechanlage ertönte die Stimme ihrer Oma. »Hallo?«

»Ich bins, Vío.«

»Oh, wie schön. Komm rauf, Schatz.«

Víos Mundwinkel bogen sich nach oben, als der Summer ertönte. Sie nahm den Aufzug – sie war noch nie besonders sportlich gewesen und hatte nicht vor, jetzt damit anzufangen. Im dritten Stock stieg sie aus, Oma stand schon an ihrer Wohnungstür und winkte ihrer Enkelin zu.

Vío eilte zu ihr und umarmte sie lange. Sie hatte sie wirklich vermisst. Oma drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

»Komm rein, Schatz«, meinte sie irgendwann und führte die Enkelin in ihre Zweizimmerwohnung. Vío zog ihre Schuhe und den dicken Pulli aus, dann ging sie weiter. Die Türen zum Schlaf- und Gästezimmer waren geschlossen. Es duftete nach frischem Gebäck. Víos Magen zog sich erwartungsvoll zusammen. Es war heimelig warm, dafür war das Fenster in der Küche offen und auch die Tür zum Balkon. Isländer hatten das Wort ›Durchzug‹ quasi erfunden, nicht ohne das ganze Jahr über zu heizen, selbstverständlich.

Vío grinste und setzte sich an den runden Tisch, auf dem eine Spitzendecke lag. Oma hatte ihr gutes Geschirr, das mit dem Goldrand, aufgelegt. In der Mitte standen eine Vase mit Plastikblumen und eine gelbe Kerze. Auf dem Herd entdeckte Vío das Waffeleisen, daneben lag ein bereits beachtlicher Stapel an fertig gebackenen Waffeln.

»Ich muss nur noch die Sahne schlagen«, erklärte Oma und band sich ihre Schürze um. Es war klar, von wem Vío ihre Kurven und die Vorliebe für gutes Essen geerbt hatte. Sie fühlte sich sofort wohl und um Jahre in ihre Kindheit zurückversetzt, als eine Waffel mit Marmelade und Sahne noch jedes Problem hatte lösen können.

»Erzähl mal«, forderte Oma sie auf. Erst jetzt hörte sie, dass sie leicht erkältet klang.

»Was meinst du?«, wollte Vío wissen.

»Na, hast du keinen Klatsch und Tratsch aus Berlin mitgebracht?« Oma hustete.

Für eine Sekunde überlegte sie, ob sie Oma reinen Wein einschenken sollte. Dann nieste sie, und Vío entschied sich, vorerst die Trennung auch ihr gegenüber für sich zu behalten. Wenn es Oma erfuhr, wussten es sonst ebenfalls alle anderen.

»Hm, nee, nicht wirklich. Kann ich dir was helfen? Bist du erkältet?« Sie stand auf.

Oma nahm gerade eine Packung Sahne aus dem Kühlschrank und kippte alles in einen Rührbecher, dann kramte sie den Handmixer hervor.

»Nur ein bisschen«, meinte Oma und winkte ab. »Unkraut vergeht nicht.«

Erst jetzt bemerkte Vío, dass auch im Backofen etwas garte. Sie schaute hinein und lachte.

»Toast Hawaii?«, wollte sie wissen.

»Magst du das nicht?«

»Doch, Oma, mag ich.« Vielleicht nicht unbedingt zum Frühstück, aber Guðný meinte es nur gut, also hielt Vío die Klappe und freute sich darauf, umsorgt zu werden. Sie dachte an Per und dass er ausflippen würde, wenn er mitgekommen wäre. Erstens war er Vegetarier mit immer größeren veganen Tendenzen, und zweitens achtete er peinlich genau auf gesunde Ernährung. Der würde die Nase rümpfen und ihr dann den ganzen Tag in den Ohren liegen, wie ungesund und unbekömmlich das alles wäre. Sie atmete leise aus und verdrehte die Augen. Er war zum Glück nicht hier. Und würde auch nicht mehr kommen.

Ihre Gefühle fuhren selbst heute noch Achterbahn, einerseits war sie erleichtert, andererseits verletzt.

---ENDE DER LESEPROBE---