Sommerwind - Gabriella Engelmann - E-Book
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Sommerwind E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung an die Insel Föhr ist dieser wunderschöne Liebesroman von Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann: »Geliebter Zugvogel, ich schreibe dir, wie ich es immer mache, sobald du die Insel verlassen hast« – so beginnt einer jener geheimnisvollen Liebesbriefe, unterzeichnet nur mit dem Initial »A.«, die die Hamburgerin Felicitas Mahler auf ihrem Dachboden findet. Alle Briefe wurden auf Föhr geschrieben, wohin Felicitas nur wenig später aus beruflichen Gründen reisen muss. Die Sehnsucht, die in jeder Zeile der Briefe steckt, berührt sie tief, obwohl sie nach einer großen Enttäuschung in Sachen Liebe ein gebranntes Kind ist. Auf Föhr erwarten Felicitas nicht nur beruflich einige turbulente Wochen: Als sie auf der wunderschönen Nordsee-Insel die Brüder Niklas und Frederick kennenlernt, bekommt die Frage, ob sie selbst je wieder lieben kann, eine neue Dringlichkeit. Gabriella Engelmann schreibt Wohlfühl-Romane zum Seele-baumeln-Lassen: Gönnen Sie sich mit dem Liebesroman »Sommerwind« eine kleine Auszeit auf Föhr mit Seeluft, Sonne und viel Romantik. »Eine wunderschöne Liebesgeschichte vor romantischer Nordsee-Kulisse. Einfach wegträumen und Seite für Seite genießen!« Sofie Crame

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Seitenzahl: 413

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Gabriella Engelmann

Sommerwind

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

»Geliebter Zugvogel, ich schreibe dir, wie ich es immer mache, sobald du die Insel verlassen hast« – so beginnt einer jener geheimnisvollen Liebesbriefe, unterzeichnet nur mit dem Initial A., die die Hamburgerin Felicitas auf dem Dachboden findet. Alle Briefe wurden auf Föhr geschrieben, wohin Felicitas nur wenig später aus beruflichen Gründen reisen muss. Die Sehnsucht, die in jeder Zeile der Briefe steckt, berührt sie tief, obwohl sie nach einer großen Enttäuschung in Sachen Liebe ein gebranntes Kind ist. Als sie auf der wunderschönen Nordseeinsel die Brüder Niklas und Frederick kennenlernt, bekommt die Frage, ob sie selbst je wieder lieben kann, eine neue Dringlichkeit.

Inhaltsübersicht

WidmungTeil eins1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelTeil zwei24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. KapitelTeil drei31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. KapitelNachwort & DanksagungFöhr-Karte
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Dieses Buch ist für alle, deren Herz für die Nordsee schlägt – und die daran glauben, dass wahre Liebe alle Hindernisse überwindet.

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Teil eins

1. Kapitel

Samstag, 6. Juli

Butterfly, ich beneide dich«, seufzte Tim. »In einer Woche bist du auf Föhr und kannst Hamburg eine lange Nase zeigen, während ich hier dumm herumsitze und darauf warte, dass mir endlich mal wieder jemand einen Job gibt.«

Ich stellte den Küchenwecker auf acht Minuten, die perfekte Kochzeit für Pasta. Dann setzte ich mich zu Tim an den runden, wurmstichigen Holztisch, den ich auf dem Sperrmüll gefunden und ein bisschen aufgearbeitet hatte.

»Wenn ich könnte, würde ich dir helfen, das weißt du«, sagte ich, bekümmert darüber, dass mein bester Freund, ein begnadeter Kameramann, mit seinen fünfunddreißig Jahren mal wieder arbeitslos war. »Ich habe dich für unsere Produktion vorgeschlagen, aber Lucas Kaiser zieht es leider vor, mit seinem persönlichen Hofstaat zu arbeiten, statt einem Unbekannten eine Chance zu geben. Du weißt doch, wie schwierig das in unserer Branche ist.«

Anstelle einer Antwort tunkte Tim eine dicke Scheibe Ciabatta-Brot in ein Schälchen mit Olivenöl und streute grobes Meersalz darüber, indem er es zwischen den Fingern zerrieb.

»Wenn ich weiterhin aus Frust so viel in mich hineinstopfe, bin ich nicht nur ein arbeitsloser Kameramann, sondern bald so fett, dass mich kein Typ mehr anschaut«, sagte Tim und sah mit theatralischem Blick zur Decke unserer kleinen, aber gemütlichen Küche in der Altbauwohnung auf St. Pauli. Ich verkniff mir ein Grinsen und dachte über eine passende Antwort nach, weil ich wusste, wie schnell Tim beleidigt war.

»Ach was, du bist nicht dick. Nur momentan ein klein wenig … moppelig. Was du aber ganz schnell ändern könntest, wenn du ein bisschen Sport machen und dich konsequent von Gummibärchen und dieser ekelhaft süßen Erdbeerschokolade fernhalten würdest. Allerdings mag ich dich genau so, wie du bist, mein Schatz, und finde dich irre attraktiv.«

Tim sah wirklich gut aus, nur vergaß er das zuweilen.

Er hatte rotblonde, wellige Haare, einen leichten Dreitagebart und wundervolle blaue Augen. Über seine eher breite Nase verlief eine kleine Narbe, die Folge eines Sturzes, als er noch klein gewesen war. Aber gerade dieser vermeintliche Makel verlieh seinem Gesicht etwas Markantes und ließ ihn männlich wirken.

Tim zog trotz meines Kompliments einen Flunsch und schob den Brotkorb demonstrativ von sich, während der Duft von würziger Tomatensoße die Küche erfüllte. Ich sprang auf, um die Soße umzurühren, die bereits gefährlich stark blubberte und über den Rand des Topfes spritzte.

Tim wischte den Herd ab und stellte die Flamme niedriger. »Du weißt, ich hasse Sport. Und gegen Gummiteddys bin ich machtlos. Sie gucken mich immer so traurig an und scheinen mich förmlich anzubetteln, sie zu essen. Das verstehst du doch, oder nicht?«, fragte er in flehentlichem Tonfall und schaute dabei so betreten drein, dass ich lachen musste.

»Wie wäre es, wenn du sie einfach nicht mehr kaufst«, schlug ich grinsend vor, probierte einen Löffel Soße und verfeinerte sie mit etwas frisch gemahlenem Pfeffer und einem Schuss Tabasco, meiner persönlichen Spezialmischung.

Bald würde ich mich vier Wochen lang vom Büfett des Film-Caterers ernähren, deshalb hatte ich die Gelegenheit genutzt und Tim und mir unser Lieblingsgericht gekocht.

Seit neun Jahren lebten wir nun schon als Zweier-WG zusammen, und es gab nichts Schöneres, als mit ihm am Tisch zu sitzen, lecker zu essen und über das zu plaudern, was uns beide bewegte.

Seit einiger Zeit waren Tims Figurprobleme und seine unerfüllte Sehnsucht nach einem sicheren festen Job und einer dauerhaften Partnerschaft das zentrale Thema.

»Was bist du heute wieder ekelhaft streng«, meckerte Tim und stand wieder auf, um die Soße zu probieren. »Aber du kannst kochen, und allein schon dafür bete ich dich an«, sagte er und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Und vergiss bitte die Kapern nicht, sonst fehlt das Wichtigste.«

Ich öffnete ein Glas mit dem säuerlich schmeckenden Gemüse und ließ den Inhalt vorsichtig in den Topf gleiten. Danach schnitt ich entsteinte Oliven in kleine Stücke und gab diese ebenfalls dazu.

»Und du könntest mir einen großen Gefallen tun und den Parmesan reiben, anstatt andauernd zu naschen«, entgegnete ich und schaute belustigt zu, wie Tim murrend die quietschende Tür unserer Vorratskammer öffnete und nach der Reibe suchte.

»Wusstest du eigentlich, dass Julian in Hamburg ist?«, murmelte Tim unvermittelt. Dann hörte ich es rascheln und poltern. Kurz darauf tauchte er wieder auf, allerdings ohne Reibe. Wie kam er nur auf Julian?

»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete ich und versuchte mich gegen das Gefühl zu wehren, das allein der Klang dieses Namens in mir auslöste.

Julian, meine erste, große Liebe.

Wie lange war das jetzt her?

Beinahe zehn Jahre.

»Er spielt bei diesem Liederabend mit, der als Sommer-Gastspiel im Thalia-Theater läuft«, erklärte Tim und schnitt den Parmesan in klitzekleine Stücke.

»Aha«, erwiderte ich lediglich und überlegte, ob ich Karten besorgen sollte. »Würdest du denn mit mir hingehen, wenn ich dich dazu einlade?«

Tim unterbrach seine Arbeit kurz und hob den Deckel des Topfes mit den Nudeln, die überzukochen drohten. Dann kippte er das Küchenfenster, dessen Scheibe mittlerweile beschlagen war.

»Hm, ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist«, entgegnete er. »Schließlich hat es lange genug gedauert, bis du über ihn hinweggekommen bist. Ich habe keine Lust, diesen ganzen Zirkus noch einmal mit dir durchzumachen. Vergiss einfach, dass er hier ist. Blöd, dass ich dir überhaupt davon erzählt habe.«

»Ach, ich hätte es ja so oder so mitbekommen, ich habe ja den Newsletter vom Thalia abonniert«, widersprach ich und versuchte durch hektische Betriebsamkeit die Erinnerung an den Mann wegzuwischen, der mir einst das Herz gebrochen hatte. Mechanisch kippte ich die Nudeln ins Sieb, schreckte sie mit kaltem Wasser ab, zupfte Blätter vom Basilikumtopf auf der Fensterbank und wusch sie.

Tim füllte unsere Gläser: stilles Wasser für mich, Cranberryschorle für ihn, trotz des vielen Zuckers, der darin enthalten war …

Nachdem wir uns beide gesetzt und ich die Soße über der Pasta verteilt hatte, hing das Thema Julian immer noch im Raum und trübte die Atmosphäre.

Ich hatte den talentierten Schauspieler in einem Café am Hofgarten in München kennengelernt, kurz nachdem ich mit meinem Regiestudium an der Filmhochschule begonnen hatte. Julian war zu dieser Zeit Schauspielschüler an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule gewesen und saß an jenem Nachmittag im Café, um ein Drehbuch zu studieren, genau wie ich. Neugierig hatten wir beide die Unterlagen des anderen beäugt und waren darüber schnell ins Gespräch gekommen.

Julian war kommunikativ, ich auch.

Kurz darauf hatten wir Telefonnummern ausgetauscht, und eine Woche später war ich so verliebt, dass ich glaubte, ohne Julian nicht mehr atmen zu können.

Keine Ahnung, ob ich so intensive Gefühle hatte, weil ich erst dreiundzwanzig war, oder ob es an Julian lag.

Doch trotz der großen Anziehung entpuppte sich unser Verhältnis als geradezu fatale Kombination. Beinahe sechs Jahre lebten wir eine ebenso anstrengende wie stürmische On-and-off-Beziehung. Wir liebten uns zwar heiß und innig, stritten aber die meiste Zeit, weil Julian ein äußerst dominanter Mann war, der sehr viel Aufmerksamkeit brauchte und wollte, dass die Dinge nach seinem Kopf liefen. Ich wiederum benötigte viel Konzentration und Hingabe für meinen Beruf, was Julian missfiel. Er wollte der Star auf jeder Bühne sein, auch auf meiner! Doch nach jedem heftigen Streit folgte eine leidenschaftliche Versöhnung, und jedes Mal gaben wir uns das Versprechen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Letztendlich zerbrach unsere Beziehung daran, dass Julian sich am Filmset in seine Kollegin Viola verliebte, die rein zufällig meine beste Freundin war und offenbar bereit zu sein schien, Julian zum Zentrum ihres persönlichen Universums zu machen.

Nachdem ich die beiden miteinander erwischt hatte, gab es aus diesem Desaster keinen Ausweg mehr – und auch die Freundschaft mit Viola war unwiderruflich dahin.

Ich hatte zwei geliebte Menschen verloren und war am Boden zerstört. Wieder zurück in Hamburg, lernte ich Tim bei dem Dreh eines Bewerbungsvideos einer befreundeten Theaterschauspielerin kennen, bei dem ich Regie führte.

Wir waren uns auf Anhieb sympathisch, weil auch Tim zu diesem Zeitpunkt Liebeskummer hatte, was uns beide natürlich verband. Und ich war froh, nachdem Viola mich so schrecklich hintergangen hatte, in ihm einen guten Freund gefunden zu haben, der mit mir fühlte und mich verstand.

Als in seiner Wohnung in Ottensen ein Zimmer frei wurde, bot er es mir an, und ich sagte mit Freude zu. Seit nunmehr zwei Jahren lebten wir jedoch auf St. Pauli, was uns beiden noch besser gefiel, weil Ottensen zunehmend schicker und teurer wurde.

Seit dem Tag meines Einzugs konnte ich mir kaum mehr vorstellen, mit jemand anderem zusammenzuleben als mit Tim.

»Weißt du noch, wie viele Nächte lang wir blöde, kitschige Liebesschmonzetten auf DVD geschaut, tonnenweise Schokoküsse und Chips gegessen und uns dabei die Augen aus dem Kopf geheult haben?«, fragte Tim wie aufs Stichwort. »Damals gingen mir die Süßigkeiten allerdings noch nicht so sehr auf die Figur wie jetzt.« Wieder folgte ein selbstmitleidiges Seufzen. »Ich hab es damals schon gesagt, und ich sage es auch heute: Sei froh, dass du diesen narzisstischen, eingebildeten Typen los bist. Er sah zwar irre gut aus und war talentiert, aber total beziehungsunfähig. Ich könnte ihn heute noch dafür schlagen, wie viel Unheil er in deinem Leben angerichtet hat.«

Ja, Tim hatte recht, da gab es nichts dran zu rütteln!

Die Katastrophe mit Julian hatte erheblich dazu beigetragen, dass ich seit Jahren als Single durchs Leben ging. Natürlich kreuzte immer mal wieder ein Mann meinen Weg, aber ich vermied es stets, mich wieder mit Haut und Haaren zu verlieben.

Bis auf die eine oder andere kleine Affäre hatte ich also in Liebesdingen nichts weiter vorzuweisen, sehr zum Kummer meiner Eltern, die keine Gelegenheit ausließen, mich daran zu erinnern, dass ich nächstes Jahr im Juni vierzig wurde.

Und dass sie sich Enkel wünschten …

»So, und jetzt lass uns bitte über etwas anderes reden als über die blöde Vergangenheit, ja? Freust du dich denn auf die Dreharbeiten?«, fragte Tim, und ich zögerte einen Moment, da ich noch immer an Julian dachte. Dass mich das alles nach so vielen Jahren noch so aufwühlte …

Aber warum sollte ich mir weiter darüber das Hirn zermartern!? Es gab eindeutig Wichtigeres in meinem Leben als Julian, nämlich meinen nächsten Film!

Endlich hatte ich in den kommenden Wochen einen Job und verdiente mal wieder gutes Geld! Allerdings ahnte ich jetzt schon, dass die Filmproduktion, für die ich als Regie-Assistentin angeheuert worden war, ihre Tücken hatte. Denn der Regisseur war nicht ohne.

»Na klar freue ich mich auf Föhr und auf die Crew, aber ganz bestimmt nicht auf Lucas. Du weißt ja, was für ein eitler Pfau er ist, und wie unglaublich launisch. Das nervt auf Dauer.« Und es macht mir Angst.

Der erfolgreiche Regisseur Lucas Kaiser galt seit Jahren als absolute Koryphäe für romantisch verklärte Feelgood-Movies, die regelmäßig die Herzen der meist weiblichen Fernsehzuschauer höherschlagen ließen und für sensationelle Quoten sorgten. Entsprechend aufgeblasen war das Ego des Regisseurs. Und am Set gebärdete er sich dementsprechend: Entweder er war gut gelaunt, charmant und euphorisch oder ein Kotzbrocken. In der Branche waren seine cholerischen Wutausbrüche gefürchtet, und es kam nicht selten vor, dass er während der Dreharbeiten Mitarbeiter davonjagte und dafür sorgte, dass sie von einer Minute auf die andere entlassen wurden.

Außerdem munkelte man, dass er trank, seit seine Frau ihn verlassen und die beiden gemeinsamen Kinder mitgenommen hatte. Lucas Kaisers persönliches Leben war also ganz anders verlaufen als das seiner Filmfiguren.

Dieses Schicksal würde mir hoffentlich erspart bleiben.

2. Kapitel

Montag, 8. Juli

Während ich über meine bevorstehende Reise nach Föhr nachdachte, stieg ich Montagmittag an der U-Bahn-Station Christuskirche aus und bog in den Weidenstieg, wo meine Mutter Sonja seit fast dreißig Jahren einen Hutladen hatte.

Bevor ich Hut ab! betrat, betrachtete ich das Schaufenster, das wie immer äußerst fantasievoll und mit viel Feingefühl dekoriert war und eindeutig die Handschrift meiner Mutter trug. Sie war gelernte Hutmacherin und hatte sich mit ihrer besten Freundin Rosa zusammengetan, die mit großer Leidenschaft strickte.

Beide waren darauf spezialisiert, Unikate für Kunden anzufertigen, die etwas Exklusives tragen wollten.

Einmal hatte meine Mutter sogar zwei Hüte für einen deutschen Kostümfilm angefertigt, bei dem ich ein Regiepraktikum absolvierte. Darauf war ich ganz besonders stolz gewesen, denn es hatten sich sehr viele beworben.

»Da bist du ja, Felicitas, mein kleiner Schmetterling«, rief meine Mutter freudig, kaum dass ich durch die Ladentür war.

Butterfly, Schmetterling … ich hatte diese beiden Kosenamen bekommen, weil ich in den Augen von meinen Eltern und Tim wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte flatterte, anstatt mich irgendwo dauerhaft niederzulassen.

Meine bodenständigen Eltern – meinem Vater Jörg hatte bis zu seiner Pensionierung ein Handwerksbetrieb gehört – taten sich schwer mit dem Gedanken, dass ich wegen meines Jobs kaum die Chance hatte, sesshaft zu werden.

Oder mich dauerhaft zu binden.

»Hey, Mama«, antwortete ich und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. Mit knapp zweiundsechzig sah meine Mutter immer noch toll aus: Sie färbte ihr Haar regelmäßig rötlich, so dass es meinen kastanienroten Locken ähnelte. Erst neulich hatte sie sich für einen kürzeren Stufenschnitt entschieden, ich trug meine Haare hingegen halblang und steckte sie meist hoch, damit sie mir nicht ins Gesicht fielen.

Wie ich hatte sie dunkelblaue Augen.

Nur die leicht abstehenden Ohren hatte ich von meinem Vater geerbt.

»Hast du Appetit auf Nudeln, oder wollen wir lieber thailändisch essen?«, fragte meine Mutter, weil wir die Mittagspause zusammen verbringen wollten.

»Ich hätte mehr Lust auf Thai«, antwortete ich. Tim und ich hatten gestern noch die Reste von Samstag vertilgt.

»Rosa, wir sind in eineinhalb Stunden wieder zurück«, rief meine Mutter, worauf ihre Freundin auf dem Treppenabsatz auftauchte und mir fröhlich zuwinkte. Im ersten Stock des Ladens war die Werkstatt, in der all die wunderschönen Hüte und Mützen gefertigt wurden.

Ein kleines Paradies, in dem ich als Kind stundenlang Zeit verbringen konnte. Eine fantastische Welt, erschaffen aus Stoffen, Wolle, Farben, Formen – und geheimen Plänen. Denn jede Kundin hütete den Entwurf ihrer Kopfbedeckung wie ein kostbares Geheimnis, bis zu jenem großen Tag, an dem dieses Geheimnis gelüftet und voller Stolz präsentiert wurde. Ich fand es toll, dass meine Mutter eine solche Zauberin war und mit ihren Künsten Menschen glücklich machte.

Kurze Zeit später saßen wir beide in einem asiatischen Imbiss in der Nähe des Ladens. Es war das letzte Treffen mit meiner Mutter, bevor ich Hamburg wieder für eine Weile den Rücken kehrte.

Wie immer überfiel mich ein Hauch von Wehmut, weil ich mich aus meiner vertrauten Umgebung lösen und die Menschen, die ich liebte, zurücklassen musste. Zum Glück ging es meinen Eltern gesundheitlich gut, aber das konnte sich jederzeit ändern …

Nachdem wir bestellt hatten, schaute meine Mutter mich fragend an, während sie in ihrem Ingwer-Honig-Tee rührte. »Du hast es mir zwar neulich gesagt, aber ich habe es zu meiner Schande wieder vergessen. Worum geht es noch mal in diesem Film? Wird das wieder so eine typische, vorhersehbare TV-Schmonzette, die sonntagabends im Zweiten läuft? Eine Art Rosamunde Pilcher auf Föhr?«

Ich grinste, weil meine Mutter gerade so tat, als würde sie ausschließlich Dokumentationen und anspruchsvolle Filme schauen. Dabei liebte sie es genauso wie ich, sich nach einem langen, anstrengenden Tag aufs Sofa zu kuscheln und sich von schönen Landschaftsaufnahmen, Traumhäusern und attraktiven Menschen ohne größere Probleme gefangen nehmen zu lassen.

Wie oft hatten wir beide schon zusammen sogenannte Schweineabende verbracht?! Zu einem solchen Abend gehörten Unmengen von kalorienhaltigem Essen und ein Glas Rotwein oder Rosé-Sekt.

Mein Vater verzog sich bei solchen Gelegenheiten augenrollend in sein Zimmer oder traf sich mit Freunden, um diesem heillos romantischen Weiberkram zu entfliehen.

»Die Handlung ist nicht gerade das, was die Welt noch nie gesehen hat, aber darum geht es ja auch nicht. Die Zuschauer sollen in tollen Bildern schwelgen, sie sollen sich wegträumen. Um es kurz zu machen: Die Heldin erbt von ihrer verstorbenen Großmutter ein Reetdachhaus auf Föhr, wo sie gelebt hat, bis sie zwanzig war. Sie fährt auf die Insel, um es zu verkaufen, weil sie sich in Berlin viel wohler fühlt und bald heiraten und eine Familie gründen will.«

»Lass mich raten: Auf der Insel trifft sie dann ihre Jugendliebe wieder, wegen der sie damals die Insel verlassen hat, und stellt fest, dass sie den Mann immer noch liebt«, ergänzte meine Mutter breit grinsend und würzte ihr ohnehin schon scharfes Curry mit einem Teelöffel Sambal Oelek. Allein der Anblick trieb mir den Schweiß auf die Stirn.

»Ja, so was in der Art«, antwortete ich amüsiert. »Aber ich verrate jetzt nichts weiter, lass dich einfach überraschen.«

Meine Mutter nickte und schaute gedankenverloren aus dem Fenster auf die belebte Kreuzung.

»Kannst du dich noch an den Urlaub auf Föhr erinnern?«, fragte sie. »Du warst fünf oder sechs, und wir haben in diesem entzückenden Dorf gewohnt, das wie eine Puppenstube aussah. Niebel oder so …«

»Du meinst Nieblum«, korrigierte ich sie. »Nein, ehrlich gesagt nicht. Aber lustig, dass du das erwähnst, denn ich bin mit einem Teil der Filmcrew in einer Pension in Nieblum untergebracht. Sie heißt Ogge und scheint wirklich schnuckelig zu sein, wenn man den Fotos im Internet glauben kann.«

»Hauptsache, du wohnst nicht auf einem Flur mit diesem arroganten Regisseur«, sagte meine Mutter und musterte mich eindringlich. Sie wusste, dass ich ein bisschen Angst vor Lucas Kaiser hatte. »Oder ist jemand wie er sich zu fein, seine Freizeit mit dem Rest des Filmteams unter einem Dach zu verbringen?«

Ich verschluckte mich beinahe an meinem Soi Sam. Allein die Vorstellung, schon morgens zusammen mit dem Regisseur frühstücken zu müssen, schnürte mir die Kehle zu.

»Nein, nein, er logiert zum Glück in der Villa Witt, zusammen mit den Hauptdarstellern.«

In diesem Fall traf logieren wirklich zu, denn das schöne Golfhotel in Nieblum mit seinen luxuriös ausgestatteten Suiten gehörte zu den Top-Adressen auf Föhr.

»Na, dann hast du ja Glück«, sagte meine Mutter und strich mir liebevoll übers Haar. »Und mach dir keine Sorgen, mein Liebling. Du bist mittlerweile schon so erfahren, dass dieser Herr Kaiser sich glücklich schätzen kann, eine so kluge und engagierte Assistentin wie dich an seiner Seite zu haben. Denk immer daran: Setz dem Mann rechtzeitig Grenzen und zeig ihm auf gar keinen Fall, dass er dich einschüchtert. So was nutzen solche Typen nämlich schnell aus.«

»Was habe ich nur für eine kluge Mutter«, antwortete ich schmunzelnd und freute mich mal wieder, dass wir uns so gut verstanden. Natürlich stritten wir uns ab und zu, aber im Großen und Ganzen verband uns eher eine Freundschaft als ein Mutter-Tochter-Verhältnis.

Allerdings nervte es mich manchmal, wenn sie mich drängte, mich aktiv auf die Suche nach einem Mann zu machen oder mich mit jedem Erstbesten zu verabreden, der irgendwie an mir interessiert zu sein schien.

Dass die meisten Männer in meiner Altersklasse entweder gebunden oder beziehungsgestört waren, wischte sie stets mit einem nonchalanten »Papperlapapp, der Richtige wartet auf dich« vom Tisch. Meist fügte sie noch hinzu: »Wenn du es dir nur lange genug einredest, wird es auch passieren.«

Im Gegensatz zu mir hatte meine Mutter einen gewissen Hang zur Spiritualität, glaubte an Zeichen, Schicksal, Zufall – und Bestimmung.

Ich hingegen glaubte eher an das, was ich sah: einen Haufen egomaner oder bindungsunfähiger Typen, Julian nicht unähnlich, die entweder auf der Suche nach der nächsten Jagdtrophäe oder nach einer Frau waren, die ihr angeknackstes Ego aufpolieren sollte. Dafür war ich mir zu schade, also konzentrierte ich mich lieber auf meinen Beruf, womit ich bislang eindeutig besser gefahren war.

3. Kapitel

Freitag, 12. Juli

Mist!

Wie sollte ich nur alles in einem Koffer unterbringen?! Unschlüssig schob ich die Stapel T-Shirts, Hosen, Kleider und Tops auf dem Bett hin und her.

Bestimmt gab es auf der Insel Waschsalons, aber ich hatte keine Lust, mich während der vierwöchigen Dreharbeiten auch noch um die Wäsche kümmern zu müssen.

Dummerweise war mein größter Koffer nach der letzten Reise kaputtgegangen, und ich hatte vergessen, mir einen neuen zu besorgen. Also musste ich mir wohl einen ausleihen.

»Darf ich reinkommen?«, schrie ich gegen den Lärm an, der aus Tims Zimmer dröhnte. Death Metal, ein Zeichen, dass mein lieber Freund gerade finsterer Stimmung war.

»Aber klar doch«!, brüllte er zurück und drehte die Musik leiser. Überrascht bemerkte ich, dass offenbar das Gegenteil der Fall war: Tim stand, eine Zeitschrift in der Hand, vor dem Garderobenspiegel und übte sich in irgendwelchen Posen. »Findest du nicht auch, dass ich eine gewisse Ähnlichkeit mit Henning Baum habe?«, fragte er und hielt den Atem an, so dass sein Bauch flach wie ein Bügelbrett war. Noch ein paar Sekunden, und Tim würde platzen! Neugierig schaute ich ihm über die Schulter und verglich die Fotos des beliebten deutschen Schauspielers auf der Doppelseite der neuen Gala mit Tim.

Tatsächlich. Bislang war mir die Ähnlichkeit zwar nicht aufgefallen, aber jetzt, wo er es sagte …

»Du siehst nicht nur so aus, du bist Henning Baum, Schätzchen«, antwortete ich grinsend und gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Po. »Aber nur, wenn du ein bisschen trainierst, anstatt die Luft anzuhalten. Was ich aber eigentlich wissen wollte: Hast du zufällig einen Koffer, den du mir borgen könntest? Meiner ist nämlich blöderweise kaputt.«

Tim atmete aus und wirkte sofort um einiges molliger.

»Auf dem Dachboden müsste eigentlich einer sein. Allerdings bin ich schon so lange nicht mehr verreist, dass ich nicht ganz sicher bin. Brauchst du mich, oder kann ich weitermachen? Ich übe nämlich für mein Date morgen Abend.«

»Ein Date?«, fragte ich verwundert. »Wie kommt das denn so plötzlich?«

Tims Augen blitzten.

»Ich habe gestern Abend im Club einen echt heißen Typen kennengelernt und gehe morgen mit ihm essen. Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass er nicht so ’ne Musical-Tucke ist, die den ganzen Abend lang nur von irgendwelchen sterbenslangweiligen Auditions erzählt und versucht, mir etwas vorzusingen.«

»Und wie alt ist er?«, wollte ich wissen, weil ich Tims Hang zu Männern unter zwanzig kannte.

»Hab ich nicht gefragt, war zu laut«, antwortete er, vertiefte sich wieder in das Magazin und verstrubbelte sich kunstvoll die Haare.

»Na, dann lasse ich dich jetzt wohl besser allein und gehe deinen Koffer suchen. Viel Spaß noch.« Mit diesen Worten schloss ich die Tür und nahm den Schlüssel zum Dachboden vom Brett im Flur.

Seit wir hier eingezogen waren, hatte ich hauptsächlich den ebenfalls zur Wohnung gehörenden Keller benutzt, der Boden war Tims Bereich.

Da wir im zweiten Stock wohnten, ging ich die restlichen Stufen bis zur fünften Etage zu Fuß nach oben. Im Treppenhaus roch es wie so oft nach Erbseneintopf und Zwiebeln, hier musste dringend mal gelüftet werden.

Unter meinen Füßen knarzten die alten Holzstufen. Aus dem Plan der Hausverwaltung, den Altbau endlich zu sanieren, war bisher nichts geworden. Als ich die Tür zum Dachboden öffnete, hatte ich sofort das Gefühl, den Staub vergangener Jahrzehnte aufzuwirbeln, der, beschienen durch die schräg hereinfallende Abendsonne, durch die Luft tanzte und Pirouetten drehte.

Ich hielt einen Moment die Luft an, denn es roch modrig.

Erst nach und nach begann ich mich an den Geruch zu gewöhnen, der sicher schon in meinen Kleidern und den frisch gewaschenen Haaren hing.

Im diffusen Licht einer Glühbirne, die kaum mehr als vierzig Watt hatte und nackt von der Decke herabbaumelte, öffnete ich mit dem winzigen, silbernen Schlüssel das uralte Vorhängeschloss des Bretterverschlags. Jeder, der gewollt hätte, hätte hier problemlos einbrechen können. Nachdem ich die provisorische Holztür geöffnet hatte, steckte ich das Schloss in die Tasche meiner Jeans, denn ich bekam plötzlich Angst, jemand könne mich hier oben einsperren.

Als Kind befiel mich Beklemmung, wenn ich in den Keller im Haus meiner Eltern musste, und ich war jedes Mal froh, wenn ich wieder heil im Kinderzimmer ankam, wo meine Kuscheltiere und das heißgeliebte Puppentheater auf mich warteten.

Neugierig suchten meine Augen den Raum ab, und ich staunte über das Sammelsurium, das Tim seit unserem Einzug hier eingelagert hatte: ein Crosstrainer (warum benutzte er den eigentlich nicht mehr?), stapelweise unbeschriftete Kisten, ein verdreckter Holzkohlegrill, eine Gartenliege, deren Bezug zerschlissen war. Großformatige Bilder und alte Schwarzweißfotos mit schweren Goldrahmen. Ein eingestaubter Plattenspieler und ein blauer Tretroller.

Ich würde Tim zu überreden versuchen, beim nächsten Flohmarkt mindestens die Hälfte dieses Krempels zu verkaufen, anstatt immer mehr anzuhäufen, obwohl ich wusste, dass er sich nur schwer von Dingen trennen konnte.

Tief in seinem Herzen war er ein Sammler.

Mit Hilfe einer Taschenlampe, die ich vorsorglich mitgenommen hatte, suchte ich den alten, wurmstichigen Bretterboden und die windschiefen Regale mit Tims ausrangierten Büchern und Schallplatten nach dem Koffer ab.

Was für ein Chaos!

Plötzlich erregte das Cover einer LP der berühmten Jazzsängerin Billie Holiday meine Aufmerksamkeit, und ich zog die Platte vorsichtig heraus. Die auf Vinyl gepresste Aufnahme stammte aus dem Jahr 1938.

Also lange bevor Tim und ich geboren worden waren.

Ich überflog die Titel auf der Rückseite und stieß auf den Song You Go To My Head.

Sofort ertönte in meinem Kopf eine wunderbar sanfte, zärtliche Melodie, und ich begann, erst zu summen und dann leise zu singen, während ich am ganzen Körper Gänsehaut bekam. Als hätte ich dieses Lied gestern erst gehört, sang ich: »You go to my head with a smile that makes my temperature rise, like a summer with a thousand julys«.

Es erinnerte mich an meine Kindheit, als ich diese Platte häufig bei meinen Großeltern gehört hatte.

Mein Opa war ein großer Jazzfan gewesen und meine Oma eine glühende Verehrerin von Billie Holiday.

Zu diesem wunderschönen Liebeslied hatten die beiden immer getanzt, wenn es in unserer Familie etwas zu feiern gegeben hatte. Meine Großmutter in einem wippenden Cocktailkleid aus knisterndem schwarzem Taft, mein Großvater in einem gutgeschnittenen silbergrauen Anzug. Ein attraktives Paar, das sich gegenseitig respektierte und abgöttisch liebte.

Sie tanzten Wange an Wange und hatten nur Augen füreinander. Ihre Gefühle waren noch genauso stark wie am ersten Tag.

Leider waren beide schon eine ganze Weile tot, aber durch diesen unerwarteten Fund hatte ich den Eindruck, direkt neben ihnen zu stehen und ihnen beim Tanzen zusehen zu können.

So hatte ich mir die Liebe vorgestellt, bis ich von Julian vom Turmzimmer meines Märchenschlosses in die Tiefe gestoßen worden war, hämisch verlacht von Viola, der bösen Hexe …

Ich vertrieb die Geister der Vergangenheit und beschloss, mir den Song für meine Reise nach Föhr auf meinen MP3-Player zu laden. Dann hatte ich wenigstens ein bisschen das Gefühl, mit meiner Heimat verbunden zu sein. Außerdem war es Mitte Juli.

Like a summer with a thousand julys …

Es dauerte eine Weile, bis ich mich durch Tims ausrangiertes Hab und Gut gewühlt und endlich gefunden hatte, wonach ich suchte.

Der Koffer stand in der hintersten Ecke des Dachbodens, kaum auszumachen zwischen zwei über und über mit Teeflecken übersäten Teppichen, die wie vieles andere hier eigentlich auf den Müll gehörten.

Als ich ihn herauszerrte, wirbelte ich mächtig Staub auf und musste niesen. Mit einem Mal gab der Boden etwas unter mir nach, und ein Dielenbrett knallte gegen mein rechtes Schienbein.

Aua!

Was hatte das zu bedeuten? Ich leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden. Offenbar war ich auf ein loses Brett getreten. Ich bückte mich, weil ich glaubte, darunter so etwas wie eine Schachtel gesehen zu haben.

Und tatsächlich!

Da lag ein wunderhübscher, mit bunten Vögeln verzierter Geschenkkarton versteckt.

Sollte ich ihn mir näher ansehen? Oder mich lieber ins Zeug legen, damit ich endlich mit dem Packen fertig wurde?

Natürlich gewann die Neugier Oberhand, und ich zog den Karton heraus, der wie alles mit einer feinen, gräulichen Staubschicht bedeckt war. Vorsichtig öffnete ich den Deckel und entdeckte handgeschriebene Briefe, eingewickelt in dunkelrotes und dunkelblaues Satinband.

Da ich nicht davon ausging, dass sie Tim gehörten, nahm ich den, der zuoberst lag, und begann im Schein der Taschenlampe zu lesen:

Geliebter Zugvogel,

 

wie immer schreibe ich dir, sobald du deine Koffer gepackt und die Insel verlassen hast.

Ich blicke aus dem Fenster, sehe die Sturmmöwen vorüberziehen, schaue ihnen hinterher und denke an dich.

Wie gern würde ich dir gegenübersitzen und dir erzählen,

dass bei den Lorenzens gerade das Reetdach erneuert wird. Der Weg liegt voller Stroh.

Weißt du noch, wie du mich gefragt hast, wie einfache Dachbalken das schwere Reet tragen können, das die Häuser vor Wind, Sturm, Kälte und Hitze schützt?

Ein wahres Wunder, nicht wahr?

Nun, du wirst es ja sehen, wenn du wieder hier bist und ich dich endlich in meine Arme schließen kann.

Ich vermisse dich jetzt schon.

Ich vermisse dich unendlich …

Die Schrift war eher zierlich, gut lesbar und sehr feminin.

Ich setzte mich auf einen verloren herumstehenden Campingstuhl.

Erst im Licht der Taschenlampe entdeckte ich oben rechts die Worte, die mich schlagartig elektrisierten:

Nieblum, 25. Mai 2006

Sicherheitshalber las ich den Brief ein zweites Mal, doch es stand dort immer noch Nieblum, der Ort, an dem ich in den nächsten vier Wochen wohnen würde.

Verwirrt schnappte ich mir den Koffer und die Schachtel mit den Briefen, die ich natürlich sofort Tim zeigen wollte, und ging wie benebelt nach unten.

»Krass!«, bemerkte Tim, als ich ihm meine Entdeckung unter die Nase hielt. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie die Briefe auf den Dachboden gekommen sind. Offensichtlich liegen die schon ein Weilchen dort herum. Wir könnten bei der Hausverwaltung Bescheid geben und nachfragen, wer hier vor uns gewohnt hat, und sie zurückgeben. Wir könnten uns aber auch einen netten Abend machen, bevor du fährst. Ich weiß gar nicht, wie ich ohne dich klarkommen soll, Butterfly.«

Ich dachte kurz über Tims Vorschlag nach.

»So wie ich die Verwaltung kenne, interessiert die das kein Stück. Außerdem habe ich dafür wirklich keinen Kopf, und du sicher auch nicht. Was hältst du davon, wenn wir uns eine Pizza bestellen, wenn ich fertig mit Packen bin?«, schlug ich vor, die Schachtel immer noch in der Hand haltend.

»Das ist eine geniale Idee, vorausgesetzt, ich bekomme eine Pizza für mich allein«, erwiderte Tim grinsend.

»Aber nur, wenn du den Crosstrainer, den ich da oben gefunden habe, entmottest und regelmäßig trainierst. Oder endlich aufhörst, über deine Figur zu jammern«, antwortete ich ungerührt und ging in mein Zimmer.

Die Schachtel legte ich zu den anderen Dingen aufs Bett. Tim hatte recht: Ich sollte mich besser auf meine Reisevorbereitungen konzentrieren, statt mich mit den Briefen fremder Menschen zu beschäftigen. Also suchte ich die Bücher heraus, die ich mit nach Föhr nehmen wollte, und setzte mich dann an den Rechner, um den Song von Billie Holiday downzuloaden.

Währenddessen dachte ich mit einer Mischung aus Vorfreude und Angst an meine Reise. Eigentlich wäre ich lieber an die Nordsee gefahren, um endlich einmal Urlaub zu machen, denn das Thema Freizeit war in den vergangenen Jahren häufig zu kurz gekommen.

Ich dachte flüchtig an die Woche auf Sylt, meinen letzten gemeinsamen Urlaub mit Julian, bevor seine Affäre mit Viola aufgeflogen war. Der Gedanke an diese Tage auf der nordfriesischen Insel löste immer noch einen tiefen Schmerz in mir aus. Ich ignorierte das leise Ziehen in der Herzgegend und holte den Föhr-Reiseführer mit den schönen Fotos aus der Schublade meines Schreibtisches. Meer, Sand, Möwen … traumhafte Landschaften, schier ungebändigte Natur, Salzwiesen, Marsch, Priele und faszinierende Wolkenspiele am Horizont. Was konnte die Nordsee dafür, dass ich so schmerzvolle Erinnerungen mit ihr verband?

Es war an der Zeit, endlich im Hier und Jetzt zu leben und nicht voller Trauer auf eine längst vergangene Phase meines Lebens zurückzublicken.

Als der Pizzabote an der Tür klingelte und ich einen letzten Blick auf mein Reisegepäck warf, fielen mir die Briefe aus Föhr wieder ein, die ich mitnehmen wollte.

Hatte es etwas zu bedeuten, dass der Zufall sie mir in die Hände gespielt hatte?

Gab es doch so etwas wie Schicksal?

Und wenn ja: Was hatte es mit mir vor?

4. Kapitel

Samstag, 13. Juli

Das Wetter meinte es an diesem Samstag nicht gut mit uns Reisenden, obwohl es Mitte Juli war.

Während meiner Fahrt mit dem Zug nach Dagebüll hatte der Himmel sich verdunkelt, bis es zu guter Letzt zu regnen begann. Um mich ein wenig zu unterhalten, nahm ich die Briefe an Zugvogel aus meiner Handtasche und betrachtete sie nachdenklich.

Die Korrespondenz begann Mai 2006 und endete am 20. Dezember 2012 mit einer Postkarte, abgestempelt in Wyk auf Föhr, mit folgendem Inhalt:

Geliebter Zugvogel,

 

diesmal schreibe ich dir, weil du kommst, und nicht, weil du gehst.

Ich muss dich etwas sehr Wichtiges fragen.

A.

Gespannt dachte ich darüber nach, wer wohl A war.

Schließlich gab es viele schöne Frauennamen mit diesem Buchstaben: Anna, Alexandra, Alma oder auch Annabelle. Und im Friesischen verwendete man gern Vornamen wie Ava oder Anke.

Aber warum brach der Briefwechsel so abrupt ab?

Weshalb hatte A nicht mehr geschrieben, und was hatte sie Zugvogel so Wichtiges mitzuteilen?

War ihre große Liebe gescheitert, weil er sich von ihr getrennt hatte?

Oder war A womöglich einem anderen Mann begegnet?

Lebte sie am Ende gar nicht mehr?

Dummerweise waren die Briefe ohne Umschlag und damit ohne Absender in die Schachtel gelegt worden.

In Gedanken immer noch bei der Unbekannten aus Nieblum und dem merkwürdigen Zufall, durch den sich unsere beiden Wege gekreuzt hatten, checkte ich die Wettervorhersage auf meinem Smartphone. Mittlerweile goss es wie aus Kübeln, eine mittlere Katastrophe in Hinblick auf den Film. Denn wir wollten auf Föhr eine leichte Sommerkomödie drehen, und dazu brauchten wir nun mal Sonne und Licht. Wetteronline meldete bis Montagmorgen einen Temperaturanstieg auf zwanzig Grad, leichte Windböen, einen Mix aus Sonne und Wolken und für den Rest der Woche glücklicherweise eine stabilere Wetterlage.

Wie gut, dass wir erst Donnerstag mit dem Dreh beginnen würden. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern des Filmteams reiste ich voraus, alle anderen würden Mittwochnachmittag auf Föhr eintreffen. Ich wollte zum einen die Insel allein erkunden und zum anderen alle Details vor Ort überprüfen, insbesondere die Suiten in der Villa Witt, wo der Regisseur und die Schauspieler untergebracht sein würden.

An sich gehörte dies gar nicht zu meinen Aufgaben, doch so war das mit Lucas: Er hatte eine gewisse Neigung, seine Mitarbeiter als persönliche Leibeigene zu betrachten.

Und ich wollte unsere erste, längere Zusammenarbeit keinesfalls mit einer Auseinandersetzung beginnen.

Für Montag stand ein aufwendiges Komparsen-Casting auf meinem Plan, die klassische Aufgabe einer Regie-Assistentin, die ich aus Kostengründen allein zu bewältigen hatte. Hoffentlich klappte auch das so, wie ich es mir vorstellte. Es wäre nämlich sehr viel leichter gewesen, hätte man mir noch jemanden zur Seite gestellt.

An der Mole in Dagebüll wuchtete ich meine beiden schweren Koffer aus dem Zug und rollte sie über die Rampe zum Fähranleger.

Die Rungholt legte um 12.35 Uhr ab und würde um 13.25 Uhr in Wyk auf Föhr eintreffen. Nachdem ich meine Fahrkarte vorgezeigt und mein Gepäck in den Aufzug der Fähre verfrachtet hatte, setzte ich mich im Bordrestaurant ans Fenster. Entsprechend der Witterung gekleidet trotzten viele Passagiere auf dem Deck dem Wetter, doch ich verspürte nicht die geringste Lust, mich durchpusten und nass regnen zu lassen, das würde mir mit viel Pech sowieso noch am Set passieren. Stattdessen bestellte ich mir ein Kännchen Kaffee und beobachtete gedankenverloren, wie die Fähre ablegte und winkende Menschen in Regencapes am Hafen zurückließ.

Kleine, bunte Punkte am Horizont, die irgendwann mit dem Grau dieses trüben Tages verschmolzen …

Auf einmal fühlte ich mich einsam und wünschte mir, Tim hätte mich begleitet.

Sosehr ich meinen Beruf auch liebte, einen großen Nachteil hatte er: Ich musste mich bei jedem Film auf eine neue Umgebung und ein unbekanntes Team einstellen.

Ich konnte mir in der Regel nicht aussuchen, wo ich untergebracht war, und war gezwungen, mindestens vier Wochen lang nahezu alle meine sozialen Kontakte brachliegen zu lassen, um sie anschließend wieder mühevoll zu beleben.

Während mich Einsamkeitsgefühle plagten, tobten Kinder um mich herum und spielten zwischen den Bank- und Tischreihen Fangen, bis ein leicht genervter Kellner sie zurechtwies.

Eine halbe Stunde später kam Land in Sicht – Föhr.

Dörte Nielsen, die Inhaberin des Hauses Ogge, würde mich am Hafen abholen.

Zwanzig Minuten später ging ich von Bord, begleitet von heftigen Windböen, die meine Haare zerzausten, obwohl ich sie zu einem Zopf gebunden hatte. Ich suchte die wartende Menge nach Frau Nielsen ab, die ein Pappschild mit dem Namen der Pension in der Hand hielt, so wie wir es telefonisch vereinbart hatten.

»Moin, Frau Mahler, herzlich willkommen auf Föhr«, begrüßte mich eine Frau Anfang fünfzig mit kurzem, braunem Haar. In ihren graugrünen Augen lag ein schelmischer Ausdruck, und ich fand sie auf Anhieb sympathisch. Gemeinsam gingen wir zu ihrem Kombi. Ich verstaute mein Gepäck im Kofferraum, und wir fuhren los.

»Toll, dass Sie mich abholen«, bedankte ich mich für den zuvorkommenden Service und schaute erwartungsvoll aus dem Fenster. Leider regnete es immer noch, was die Sicht erheblich erschwerte.

Die Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, als wir das Hafengelände verließen und auf die Straße bogen. Keine zehn Minuten später erreichten wir das hübsche Dörfchen Nieblum, das in vielen Reiseführern als das schönste der Insel angepriesen wurde.

»Hier rechts rein ist übrigens die Villa Witt, wo Herr Kaiser untergebracht ist«, erklärte Dörte Nielsen, und ich versuchte, mir die entsprechende Abzweigung zu merken.

Ich bestaunte Cafés und Restaurants, die Buchhandlung Leseinsel und die hübschen Friesenhäuser mit den bunt bepflanzten Friesenwällen und Bauerngärten, die den Straßenrand säumten. Alles sah so gepflegt aus und war ganz nach dem Geschmack der Touristen.

An einem weißgetünchten Haus mit dem Schild Käpt’n Nolte, Fisch & Feinkost bog Frau Nielsen ab und parkte kurz darauf das Auto.

»So, da wären wir«, sagte sie und stieg aus.

An der Gartenpforte wurden wir bereits von einem Herrn erwartet, der sich als »Sören Nielsen« vorstellte, mir freundlich lächelnd die Hand gab und meine Koffer zum Pensionseingang trug.

Zum Glück legte der Regen in diesem Augenblick eine Pause ein, und ich hatte Gelegenheit, meine neue Umgebung in Augenschein zu nehmen, bevor ich mein Zimmer bezog: Die Fassade des Friesenhauses war zur Straße hin weiß gestrichen, ansonsten rot geklinkert. Das dunkle Reetdach verlieh der Pension besonderen Charme, genau wie das alte Wagenrad, das an der mit Rosen berankten Mauer lehnte, und der kleine Teich, an dem ein eleganter Strandkorb mit grau-weiß gestreiftem Innenfutter zum Sonnenbaden einlud.

Um den Teich herum blühten Blumen in den schönsten frühsommerlichen Farben.

Aus den weißen Sprossenfenstern des Hauses hatte man bestimmt einen fantastischen Blick auf die pinkfarbenen Hortensienbüsche und den schnuckligen Garten hinter der Pension.

»Das ist ja wunderschön hier«, seufzte ich, glücklich darüber, vier Wochen lang hier wohnen zu dürfen.

»Dann hoffe ich, dass Ihnen das Zimmer ebenso gefällt«, entgegnete die Pensionswirtin schmunzelnd und ging durch den Flur die Treppe in den ersten Stock hinauf. »Im Übrigen feiern wir in diesem Jahr unser einhundertstes Jubiläum. Wir haben viele Stammkunden, die jedes Jahr kommen. Sie haben wirklich Glück, dass Ihre Produktionsfirma so rechtzeitig reserviert hat!«

Das Zimmer hielt, was der erste Eindruck der Pension versprochen hatte: Es war hell und freundlich, mit geschmackvollen dezenten Tapeten und weißen Holzmöbeln ausgestattet. Bunte Blumenbettwäsche machte sofort gute Laune, ebenso wie der frische Obstkorb und der Pfirsichsekt auf dem runden Holztisch, neben dem zwei gemütliche Korbsessel standen. Auf dem Kopfkissen lag eine kleine Tüte Gummibärchen, die mich sofort an Tim erinnerte.

»Und hier ist das Internet-Kabel«, sagte Dörte Nielsen. WLAN war hier offenbar ein Fremdwort. »Frühstück gibt es jeden Morgen ab sechs Uhr unten in der Stube. Sollten Sie einen besonders frühen Drehtermin haben, geben Sie einfach am Vorabend Bescheid, dann richte ich mich darauf ein. Schließlich sind Sie und der Rest des Teams in den nächsten Wochen meine einzigen Gäste. Im Eingangsbereich finden Sie übrigens auch eine kleine Teeküche und einen Kühlschrank, falls Sie zwischendurch mal etwas Warmes trinken oder sich eine Suppe machen wollen. Softdrinks stehen im kleinen Garten-Pavillon.«

»Sie haben ja an alles gedacht«, antwortete ich verzückt und nahm das Kabel. »Aber leider werde ich dafür keine Zeit haben. Außerdem haben wir am Set einen Caterer, der, egal wie früh es ist, alles zum Frühstück bereithält, was das Herz begehrt. Sie müssen sich also keine solche Mühe machen.«

»Na, wenn das so ist … Falls Sie nichts weiter brauchen, lasse ich Sie jetzt allein. Sollten Sie eine Frage haben, klopfen Sie einfach bei uns. Irgendeiner ist immer da.«

Nachdem Dörte Nielsen gegangen war, inspizierte ich das liebevoll gestaltete Badezimmer und öffnete den geräumigen Kleiderschrank im Zimmer.

Mit einem Mal überfiel mich bleierne Müdigkeit.

Kein Wunder, ich war ja auch sehr früh aufgestanden, hatte eine über fünfstündige Anreise hinter mir, und nun tat die gute, jodhaltige Nordseeluft ihr Übriges.

Das frisch bezogene Bett, das so herrlich nach Blüten und Meer duftete, schien meinen Namen zu rufen und mich förmlich aufzufordern, in seine daunenweichen Arme zu sinken.

Ich war nur allzu gern bereit, dieser Verlockung nachzugeben und mich hinzulegen.

Auspacken konnte ich später immer noch.

Während der Regen mit beruhigender Gleichmäßigkeit gegen die Fensterscheibe prasselte, legte ich mich aufs Bett und genoss die friedliche Stille.

Hier wohnte also die geheimnisvolle A.

Oder hatte gewohnt …

Es war irgendwie merkwürdig, dass sie womöglich ganz in meiner Nähe lebte und ich im Besitz ihrer Briefe war.

Über der Überlegung, ob ich mehr über sie herausfinden sollte, schlief ich ein.

Im Traum sah ich eine Schar Zugvögel am Horizont und Papierbögen, die sich, vom Wind getragen, über die ganze Insel verteilten.

Ich versuchte sie einzufangen, doch es gelang mir nicht, sosehr ich mich auch bemühte.

Von irgendwoher flüsterte eine Stimme:

 

Kümmere dich nicht um die Briefe, Felicitas. Sie sind Zeugen der Vergangenheit. Lass sie ruhen …

5. Kapitel

Das Klingeln des Weckers riss mich eine Stunde später unsanft aus meinem spontanen Nachmittagsschlaf.

Ich stand auf und öffnete das Fenster. Mittlerweile hatte der Wind die Regenwolken vertrieben, und die Sonne spiegelte sich glitzernd in den Pfützen auf dem Weg vor der Pension.

Ich wollte die Gunst der Stunde nutzen und den Ort erkunden. Im Übrigen wollte ich noch im Supermarkt einkaufen, den ich auf dem Weg zum Haus Ogge gesehen hatte.

Erfrischt und gutgelaunt trat ich wenig später aus der Haustür und blinzelte ins Licht. Dann marschierte ich aufs Geratewohl los und ging zur nächsten Kreuzung.

Als Erstes erregte die Auslage eines Geschenkeladens meine Aufmerksamkeit: Vor dem Eingang standen Ständer mit den üblichen Postkarten, Sonnenhüten und bunten Halstüchern, auf einem Tisch stapelten sich Inselsouvenirs wie Becher, Ballspiele, Strandspielzeug für Kinder und Seehunde aus Plüsch und mit dunklen Knopfaugen. Ich dachte sofort, dass sie Tim gefallen könnten, und schickte ihm eine SMS:

Bin gut angekommen, ist super hier! Lass es heute Abend krachen, aber nicht zu doll. Freue mich auf deinen »Bericht«.

Butterfly

Obwohl mir Hamburg gerade sehr weit weg erschien, war ich in Gedanken bei Tim und seinem Date.

Würde es diesmal bei ihm funken?

Neugierig auf meine neue Heimat zog es mich zu der Straße mit den Cafés und der Buchhandlung. Vielleicht fand ich dort statt der üblichen Reiseführer noch andere Bücher über die Insel.

Staunend über das touristische, aber dennoch angenehm ruhige Flair, schlenderte ich den Weg entlang, bis ich auf die Alte Friesische Theestube stieß, vor deren Eingang zahllose Tische, Stühle, Blumenkübel, mit Schmuck behängte Skulpturen und ähnlicher Schnickschnack standen.

Aus dem Innenhof zog der unwiderstehliche Duft von frisch gebrühtem Kaffee auf die Straße, dem ich folgte. Plötzlich stand ich mitten in einer Art Museum.

»Unfassbar, was die hier alles haben«, hörte ich eine Dame neben mir zu ihrer Freundin sagen. Beide betrachteten voller Begeisterung eine große Auswahl an friesischen dunkelblauen Fischerhemden mit hauchzarten, weißen Streifen, die auf Kleiderbügeln an einem Regal hingen. Davor standen Bastkörbe mit Muscheln, Seesternen und anderen maritimen Souvenirs.

»In Hamburg kosten die Dinger das Fünffache«, stimmte die andere Frau zu, und ich überlegte einen kurzen Moment, ob mir so etwas stehen würde.

»Dann probier eins an«, schlug Freundin Nummer eins grinsend vor. »Aber danach gehen wir nach nebenan in diesen Eso-Laden.«

Eso-Laden?, dachte ich. Das klang genau nach dem Geschäft, das ich suchte, da ich noch einen kleinen Botendienst für Lucas Kaiser zu erledigen hatte. Anstatt also in der zum Teeladen gehörenden Stuv einen Kaffee zu trinken, verließ ich den Innenhof wieder und ging ein Stückchen weiter nach links die Jens-Jacob-Eschels-Straße hinunter.

Mit einer Mischung aus Neugier und Belustigung betrat ich kurz darauf den Laden Träum weiter! Das Klingeln eines Glöckchens ertönte, als ich die Tür öffnete. Binnen Sekunden war ich eingehüllt vom betörenden Duft eines Räucherstäbchens, ganz so, als sei ich in einem Indien-Shop. Ich musste sofort niesen, was mit einem freundlichen »Na hoppla!« quittiert wurde.

Die Bemerkung kam aus dem Mund einer hübschen, elfenhaften Frau, die mich so begeistert anstrahlte, als sei ich der Mensch, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatte.

»Sind Sie etwa allergisch gegen Patchouli?«, fragte sie besorgt und zog ihre mit Sommersprossen übersäte Nase kraus.

»Aber es duftet hier gar nicht nach Patchouli, sondern eher nach einer Mischung aus Kräutern und Holz«, widersprach ich und musste ein weiteres Mal niesen.

Hoffentlich hatte ich mich nicht erkältet! Das Reizklima auf den nordfriesischen Inseln hatte es bekanntermaßen in sich.

Auf einmal strich mir maunzend eine silbergraue Katze mit weißer Zeichnung auf dem Köpfchen um die Beine. Die dunkelblonde Elfe mit den hüftlangen Korkenzieherlocken und Augen wie Nougatschokolade grinste.

»Darf ich bekannt machen: Das ist meine Katze Patchouli. Und Sie sind …?«

»Ich heiße Felicitas Mahler und komme aus Hamburg«, antwortete ich und bückte mich, um Patchouli zu streicheln, die dies wohlig schnurrend genoss. Was für ein seidiges Fell!

»Na dann, Felicitas aus Hamburg, willkommen in meinem Laden. Was kann ich für dich … äh, Sie tun?«

Wie alt die Ladenbesitzerin wohl war? Mitte dreißig? Auf jeden Fall ein bisschen jünger als ich.

»Sie können mich gern duzen, dann fühle ich mich gleich jünger. Also: Ich bin eigentlich auf der Suche nach Informationen über die Lembecksburg … und wenn wir schon dabei sind: eine Art Schutzengel oder so wäre auch nicht schlecht.«

»Okay, dann duzen wir uns. Ich bin Leevke Hennings«, sagte Leevke strahlend und führte mich zu einem Bücherregal. »Hier habe ich alles zum Thema magische Reisen, Kraftorte, Sagen und Mythen. Melde dich, wenn du eine Frage hast.«

Mit diesen Worten wandte sie sich zu einem Kunden um, der sie fasziniert anschaute und ins Stottern geriet, als er sie ansprach.

Während ich in dem reichhaltigen Buchangebot blätterte, ertappte ich mich dabei, wie ich Leevke beobachtete.

Im Grunde fühlte ich mich wie im falschen Film, weil ich bislang solche Läden so gut es ging gemieden hatte.

An die Magie der sagenumwobenen Lembecksburg glaubte ich im Grunde meines Herzens nicht. Lucas Kaiser bekämpfte seine Probleme offensichtlich gerade mit Hilfe von Esoterik und plante, einen kleinen Abstecher zu diesem Ringwall am Rande des Ortes Borgsum zu machen. Schlussendlich entschied ich mich für eine kleine Broschüre, in der die Lembecksburg zumindest auf einer Seite erwähnt wurde, und suchte dann nach dem gewünschten Engel, amüsiert darüber, dass ein Macho wie Lucas Kaiser mir diesen sehr persönlichen Auftrag anvertraut hatte.

Wie sich herausstellte, wimmelte es in Leevkes kleinem, aber sehr gemütlichen Laden geradezu von Talismanen aller Art: Steine, Amulette, Ketten, Engel, Krafttiere.

»Schwer, sich zu entscheiden, nicht wahr?«, fragte Leevke und stellte sich so dicht neben mich, dass ich ihr Parfüm riechen konnte. Es war etwas Schweres, Pudriges mit einem Hauch Karamell.

»Was würdest du mir denn empfehlen?«, fragte ich ein wenig verunsichert. »Es ist übrigens nicht für mich, sondern für meinen Chef.«

Leevke verzog den Mund. »Du sagst das so, als würdest du nicht an Magie glauben, kann das sein?«

»Im Grunde nicht, auch wenn mir gestern etwas Seltsames passiert ist, bei dem ich durchaus ins Grübeln gekommen bin«, hörte ich mich auf einmal wahrheitsgemäß antworten.

»Willst du drüber reden?«, fragte Leevke mit so unverhohlener Neugier im Blick, dass ich einen Augenblick versucht war, ihr vom Fund der Briefe auf Tims Dachboden zu berichten. Doch dann rief ich mich zur Ordnung: Ich kannte sie im Endeffekt erst seit ein paar Minuten.

Darum antwortete ich: »Nein, lieber nicht. Aber sag, was soll ich deiner Meinung nach für meinen Chef kaufen?«

Nachdem Leevke mir eine kleine, aber feine Auswahl an Talismanen zusammengestellt hatte, entschied ich mich zu guter Letzt für einen Malachit, laut Leevke auch der grüne Drache genannt, der Überzeugungskraft verlieh und Erfolg brachte. Nun blieb nur zu hoffen, dass dieser Edelstein auch Gnade vor Lucas Kaisers Augen fand.

Als ich zahlte, fiel mir ein, dass Leevke mir bestimmt einen Tipp für ein gutes Restaurant geben konnte.