Sonnenaufgang in Bad Dürkheim - Prita A. Smith - E-Book

Sonnenaufgang in Bad Dürkheim E-Book

Prita A. Smith

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Beschreibung

Die siebzehnjährige Julissa zieht mit einem Elternteil in ein anderes Bundesland. An ihrem alten Wohnort nannten Mitschüler sie eine Misanthropin. Das verletzte und drängte sie in eine Außenseiterposition. Gleichaltrige lagen nicht mit ihr auf einer Wellenlänge und sie nicht mit ihnen. Sie wünscht zu vergessen, ergreift die Chance für einen Neuanfang. Bei einer Erkundungstour des neuen Wohnorts entdeckt sie im Herbstwald eine alte Grabstätte, behütet von einer menschengroßen marmornen Engelsstatue, und eine verwitterte, mysteriöse Grabsteininschrift. Der Name des jung verstorbenen Mannes geht ihr nicht mehr aus dem Kopf - wie der heulende Streuner, der sich in der Nähe des Friedhofs herumtreibt. Seltsames geht da vor sich. Ein Albtraum für eine Siebzehnjährige, die sich nicht zugehörig und verloren fühlt, deren einziger Kumpel der eigene Vater ist! Geheimnisse summieren sich. Plötzlich steckt sie mitten im größten Abenteuer ihres Lebens, schließt außergewöhnliche Freundschaften und macht sich gefährliche Feinde. (Altersempfehlung: ab 14 Jahren)

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 697

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Sonnenaufgang in Bad Dürkheim Die Begegnung

Ein Fantasieroman von

Prita A. Smith

Prita A. Smith

Sonnenaufgang in Bad Dürkheim

Die Begegnung

Impressum

© 2019 Prita A. Smith

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Covergestaltung: Nico Pfrenzinger

Kommunikationsdesign

[email protected]

www.nicopfrenzinger.com

ISBN Taschenbuch: 978-3-7482-9186-2

ISBN Hardcover: 978-3-7482-9187-9

ISBN e-Book: 978-3-7482-9188-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Eine Kopfreise anzutreten, ist eine kostenlose Art, Abenteuer an echten Orten, gespickt mit Mystik und Fantasie, zu erleben. Kein Kofferpacken, keine Staus, keine Flugangst, keine Energieverschwendung. Null Stress. Lediglich abschalten und der Realität ein Weilchen entfliehen. Zu jeder Tageszeit, an jedem Platz.

Protagonist und Protagonistin Leben einzuhauchen, indem man einen klitzekleinen Teil der eigenen Innenwelt vergibt, ist ein unbeschreibliches Gefühl. Wo Wahrheit und Erfindung ineinander übergehen, verleihen sie Flügel. Wirklichkeit erscheint irreal und Fiktion real. Zu landen und wieder abzuheben, wann es einem gefällt, das ist wahres Glück.

Kapitel

Bad Dürkheim

Der alte Friedhof

Der neue Friedhof

Die Begegnung

Bernsteinfarbene Augen

Glaube, Hoffnung, Liebe

Nenne es nicht Date!

Der Beschützer und der Erlöser

Das Wolfsschutzprojekt

Einsam und verlassen

Das Wolfsrudel

Der erste Schnee und Schwips

She ain´t heavy, she´s my sister

Die Patientenkartei

Fanatiker und Weihnachtseinkäufe

Die Bescherung

Anonyme Drohung

Der Militärschutz

Ich will … Du nicht?

Ich hab es dir fest versprochen!

1+1=4

Es geht Lukas gut

Gieß in meine Seele deine, meine hast du längst getrunken, wie im Morgensonnenscheine untergehn der Sterne Funken.

Dass mit wonnevollen Schmerzen gleiche Flammen uns durchwühlen! Dass wir beide tief im Herzen eines Blutes Pulsschlag fühlen!

Robert Prutz

(1816 – 1872)

Bad Dürkheim

Der Wind trägt seit Jahrhunderten die Botschaft mit sich, dass des Schöpfers Engel getreue, rechtschaffene Seelen vor ihrer Geburt füreinander benennen.

In die Welt geboren, wachsen sie auf den Erdteilen Asien, Europa, Afrika, Südamerika, Nordamerika, Antarktis und Australien heran. Ihre kulturellen Identitäten sind dementsprechend mannigfach wie ihr Aussehen.

Über zehntausend Kilometer Luftlinie trennen manche voneinander, andere bringen ihre Kindheit auf demselben Kontinent, in demselben Land, Dorf beziehungsweise Städtchen zu.

Die einen erleben schwere Kinderjahre, ihre Zeitgenossen unbeschwerte. Fleißige Himmelsboten sorgen dafür, dass sie sich im Laufe ihrer Leben in ihrer Einsamkeit begegnen, sich ihre Wege kreuzen und sie sich ineinander verlieben.

Irgendwo auf der weiten Erde wird es irgendwie vonstattengehen. Ob durch einen versehentlichen Zusammenstoß in einem überfüllten Verkehrsmittel wie Bus, Zug, Straßenbahn oder durch einen flüchtig streifenden Blick, gefolgt von einem scheuen Lächeln von einer Straßenseite hinüber zur gegenüberliegenden.

Tausende nicht aufzählbare Momente, um den einen Menschen zu finden, der alles für einen bedeuten wird.

In Gedanken verloren schob ich die weiße Feder zwischen die Papierseiten, klappte das zerfledderte Engelsbuch zu und legte es auf den Rücksitz unseres Autos.

Groß wie die äußere Fingerschwinge am Flügel einer Taube, diente sie mir ab der ersten Klasse als Lesezeichen. Nach meiner Geburt lag sie im Krankenhaus in der Wiege, Paps steckte sie ein und brachte sie mit heim. Er betrachtete sie als gutes Omen.

Dort landete sie in einem Fotoalbum bei den Babybildern, bis ich in die Schule kam und sie zweckentfremdete. Jahre und Staub prallten an ihr ab, als tröge sie einen Schutzfilm, noch immer fühlte sie sich samtig an.

Mit einem Hauch von Wehmut starrte ich aus dem Seitenfenster. Bäume und Häuser zogen linienartig an mir vorüber und ich schloss für einen Augenblick die Augen. Die gelesenen, ermutigenden Worte inspirierten Tagträume, daran zu glauben, stand auf einem anderen Blatt.

Das Problem der treuen Seelen beginnt mit ihrer Ankunft, vertiefte ich mich in ein inneres Selbstgespräch. Sie können in einhundertvierundneunzig Staaten zur Welt kommen - vorausgesetzt, ich liege nicht daneben. Andrerseits, was machen bei der Zahl ein, zwei Staaten mehr oder weniger aus? Sie reifen in Jungs und Mädchen heran, erreichen die Blüte ihres Lebens, wo man sich verliebt.

Und das bringt sie zum nächsten Problempunkt: Wie sollen die aufrechten Seelen ihr Gegenstück finden, wenn sie auf verschiedenen Kontinenten wohnen und nicht dieselbe Sprache sprechen? Was können da Gottes Helfer ausrichten, außer sie tragen Übersetzungshelfer mit sich?

Die bildliche Vorstellung war belustigend und meine Mundwinkel zuckten. Nein, im Ernst: Das musste der wahre Grund sein, warum wir in der Schule Englisch, die Weltsprache, paukten - um uns beim Aufeinandertreffen zu verständigen. Einleuchtend und nachvollziehbar.

Komplikation Nummer drei: Was ist mit den Seelen, die vom Elternhaus eingetrichtert bekommen, dass es ratsam ist, sich in jemanden zu verlieben, mit dem man kulturelle Gemeinsamkeiten teilt, da sie vermeintlich verbinden? Falls das funktioniert, Liebe ist nicht ein- und ausknipsbar nach Belieben.

Und selbst ohne Einfluss der Familie, wie spüren die Seelen ihren Seelenverwandten auf, wenn sie tatsächlich auf unterschiedlichen Kontinen tengeboren sind? In der wohlverdienten Sommerfrische, einmal im Jahr, weil es Monate braucht, das Geld zu sparen?

Das bedeutet, dass sie in zehn Jahren lediglich zehn Chancen kriegen, sich in die Arme zu laufen. Vorausgesetzt, sie urlauben beide zum selben Zeitpunkt am richtigen Ort beziehungsweise eine von ihnen urlaubt dort, wo die andere permanent lebt. So viel zu Komplikation Nummer vier.

Unter Umständen ist das Glück mit den armen Dingern gnädig und sie domizilieren auf demselben Erdteil, in demselben Land, Dorf oder in derselben Stadt.

Im Laufe ihrer Leben rennen sie sich angeblich über den Weg, Geduld ist somit angesagt. Niemand verspricht, dass man sich mit achtzehn kennenlernt, vielleicht passiert es mit achtundzwanzig, achtunddreißig, achtundvierzig oder dazwischen. Gott behüte erst mit achtundfünfzig, da ist die innere Uhr zum Kinderkriegen unbestreitbar abgelaufen - zumindest für die weibliche Seele.

Je länger ich darüber nachdachte, schien dieses `Füreinander-benanntsein´ voller Tücken zu stecken. Im überfüllten Bus, auf dem Weg zur Schule und zurück nach Hause, stieß ich mit etlichen Jungs zusammen, es brachte mir keine Seelenverwandtschaft ein, sondern dumme Bemerkungen und blaue Flecken.

Und die flüchtigen Blicke, die ich mit einem scheuen Lächeln beantwortet hatte, weil ich annahm, sie seien an mich gerichtet, galten jedes Mal nicht mir, vielmehr Mädchen vor beziehungsweise hinter mir. Und die tausend nicht aufzählbaren Momente ereigneten sich bis jetzt nicht.

Das Fahrzeug wurde einen Gang heruntergeschalten, verlangsamte sich und ich öffnete die Augen. Ungeduldig stierte ich von der Beifahrerseite aus in den wolkenlosen Himmel.

Die goldene Sonne lachte. Ich konnte es kaum erwarten, an der frischen Luft ihre Wärme einzufangen, und fand es nebensächlich, dass ich direkte Sonneneinstrahlung auf der sensiblen Haut nicht vertrug.

Paps lenkte den grünen VW Passat in die stillgelegene Frühlingsstraße ein, der Ort unserer neuen Wohnstätte. Ein Blick auf die Autouhr verriet die Uhrzeit: kurz vor sechzehn Uhr.

Stickig trotz offenen Autoscheiben kräuselte sich mein langes rotblondes Haar von der hohen Luftfeuchtigkeit. Müde von der mehrstündigen Fahrt und ihr Ende in Sicht, begehrte ich unvermittelt eine Wanne oder Dusche, die Sehnsucht nach dem Tagesgestirn wurde vorläufig in den Hintergrund gedrängt.

Mein Augenmerk fiel auf ihn. Auch er machte einen schlappen Eindruck. Schweiß stand ihm auf der Stirn; die himmelblauen, heute schattenhaft umrandeten Augen wirkten schläfrig und das dunkle, brombeerfarbige Haar war vom Fahrtwind zerzaust. Mit einem Seufzer der Erleichterung und niedrigsten Gang kurvte er in die von einer grauen Gartenmauer flankierte Hofeinfahrt der Hausnummer zwanzig.

Genau in dem Moment wurde mir deutlich bewusst, dass das Leben in Bayern endgültig hinter uns lag und in Bad Dürkheim, am Rande des Pfälzer Waldes, ein anderes begann. Ich sah dem neuen Kapitel mit geteilten Gefühlen entgegen. Einerseits empfand ich es erleichternd, den letzten Wohnort aus privaten Gründen zu verlassen, andererseits scheute ich vor der neuen Schule und den damit verbundenen Herausforderungen.

Träumend verpennte ich regelrecht, wie das Auto zum Stillstand kam, der Motor erlosch, Paps den Schlüssel aus dem Zündschloss drehte und sich streckte.

„Kleines?“

Eine schwitzige Hand fuhr über die linke Wange und holte mich in die Realität zurück. Erschrocken starrte ich die vertraute Person neben mir an. „Äh, sagtest du was? Sorry, ich war kurz weggetreten.“ Ein Lächeln zeigte sich auf dem warmherzigen Gesicht. Die wiederkehrende Abwesenheit, dass ich Herumtreiben in Träumen dem Aufenthalt in der Gegenwart vorzog, überraschte ihn nicht.

„Wir haben´s geschafft, wir sind endlich da, Kleines! Mann oh Mann, die Fahrt zog sich in die Länge …“ Entspannt schnaufte er aus und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze des Fahrersitzes. „Wie ist dein Eindruck von der Stadt?“

„Geht so. Gab vom Auto aus nicht viel zu sehen.“

„Was ist mit dem Haus?“

„Von außen gleicht es den anderen Siedlungshäusern. Es scheint nicht auseinanderzufallen.“

„Das will ich schwer hoffen! Was ist der nächste Schritt? Kehren wir nach einer Verschnaufpause in eine Wirtschaft ein und nehmen ein anständiges, warmes Mahl zu uns oder laden wir das Gepäck aus und schauen eingehend das neue Heim an?“

Obwohl mein Magen seit einer Stunde knurrte, fand ich keine Energiereserve mehr in mir, irgendwohin essen zu gehen, nicht mal ein dampfendes Gericht reizte. Ich verspürte den Wunsch, aus dem Fahrzeug zu klettern und alle Körperteile zu bewegen, sie fühlten sich eingerostet an. „Paps, ich bin zu erschöpft, um eine Gaststätte aufzusuchen, und fühle mich im gegenwärtigen Zustand nicht wohl. Das Deo erlitt eine Niederlage und die Hitze im Auto trägt den Sieg davon. In anderen Worten: Ich stinke wie nach zwei Doppelstunden Sport, da schafft nur duschen Abhilfe.“

Ich roch unterhalb der Achseln am T-Shirt. Igittigitt. Okay, eindeutiger ging es nicht. Der unangenehme, peinliche Geruch, der mir in die Nase stieg, kam definitiv von dort. Beschämend. „Ist es für dich in Ordnung, dass ich das Haus ansehe, mich erfrische und kurz ausruhe? Wenn du allerdings erst wo einkehren willst … Du saßt die Strecke bis hierher am Lenkrad, letztendlich fällst du die Entscheidung. Dein Wunsch sei mir Befehl …“

Das klang ungewollt ironisch. Froh, dass die langweilige und ermüdende Fahrt endlich hinter uns lag, glühte ich nicht vor Freude bei dem Gedanken an einen Wirtschaftsbesuch. Das letzte, mit was ich mich jetzt anfreunden wollte: weiteres Herumkutschieren.

Seinen prüfenden Blick begleitete ein schlitzohriges Grinsen, das Lachfalten um die Mundwinkel legte. Keine Frage, der Herrgott segnete ihn mit unwiderstehlichem Charme.

„Nein, Schätzchen, die Idee entsprang dem Hunger. Jetzt, wo du es erwähnst, muss ich zugeben, dass ich selber nicht nach Rosen dufte, es scheint, wir haben beide eine Generalüberholung nötig.“

Den Sonnenschutz heruntergeklappt, betrachtete er sich im winzigen Spiegel. Unauffällig musterte ich ihn von der Seite. Äußerlich bestand zwischen uns null Ähnlichkeit. Gesicht, Oberkörper, Arme und Beine bräunte bei ihm die Sonne.

Er sah aus, als reise er von einem Mallorca Urlaub zurück, und ich, `Glück auf!´, aus einem unterirdischen Loch, im Gegensatz zu ihm glich ich einem bleichen Käsekuchen. Rein vom Aussehen her kam ich, laut ihm, in vielem meiner Gebärerin - ich umging das Wort Mutter möglichst - nahe.

Ich lernte sie nie kennen. Sie verließ mich im Säuglingsalter und ihn in der schwierigen Phase eines blutjungen Vaters. Wenigstens strebte ich seinem Wesen nach. Das Übel ihrer Nachteile behob er mit Pluspunkten.

Es gab keinen Grund, sie zu vermissen, er ging in der Mutter-Vater-Rolle auf. Ich verkörperte sein `Ein und Alles´ und er `meinen Fels in der Brandung´, zusammen ein unzertrennliches Team. Verglichen mit Erziehern früherer Mitschüler sah er kerngesund, taufrisch und knackig aus.

Klapp! Den Sonnenschutz hochbefördert, zwinkerte mir eines der himmelblauen Augen zu - himmelblau wie meine. Im sonnenverwöhnten Gesicht wirkte die Farbe viel kräftiger: schimmernde, blaue Glasknöpfeiriden.

„Träumst du etwa, Kleines? Die Sonne heizt den Passat im Stehen auf, dass es untragbar ist, und deine Neurodermitis blüht deutlich auf, seit du hier drinnen sitzt, also raus aus der Bruthitze!“

Ich betrachtete die schuppigen, rötlichen Ekzeme auf den Armen und kämpfte gegen den unerträglichen Juckreiz an, nun da er mich daran erinnerte. Derweil beugte er sich herüber und schnappte sich den Hausschlüssel aus dem Klappfach vor mir, den er vom Immobilienmakler bekam. Spielerisch wedelte er damit vor meiner Nase herum.

„Bereit?“

Jedenfalls war ich bereit, aus dem stickigen Auto zu steigen. „Bereit“, echote ich und wir stiegen synchron aus. Im Gegensatz zum Kfz-Innenraum hieß uns im Freien, trotz überschrittener Dreißig-Grad-Marke, ein angenehmer Luftzug willkommen.

Er umschmeichelte die Wangen und erfrischte den Nacken. Ich befreite das Genick vom feuchten, auf der erhitzten Haut klebenden Haar, indem ich es um die Hand wickelte und auf Pferdeschwanzhöhe nach oben zog.

Die Beine fühlten sich wegen der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeit zittrig und wackelpuddingmäßig an. Die ersten Schritte fielen mir schwer und ich schwankte in mehrere Richtungen.

Das Gleichgewicht zurückerlangt, dehnte ich mich, gähnte übertrieben laut und wurde mit Hilfe von fünfzehn Kniebeugen wieder Herr über mein brettsteifes Fahrgestell.

Paps lief in der Zwischenzeit zum Heck des Wagens und öffnete den Kofferraum, hob die Koffer, zwei Schlafsäcke und eine Kühlbox mit Broten, Trinkflaschen und Früchten heraus - der Rest unserer Erholungsaufenthalte.

„Weißt du Kleines, hier in Bad Dürkheim wird es dir gefallen. Alles ist vorhanden: gute Schulen und Natur pur. Die Stadt ist umgeben vom Pfälzer Wald und ich bete zu Gott, dass die lästigen Hautausschläge und das Asthma, das dich quält, bald der Vergangenheit angehören. Die Luft ist rein und die Gegend bietet an, viel Zeit im Freien zuzubringen. Das entspricht deinen Vorstellungen. Und sicherlich findest du neue Freunde.“

„Mhm, kann sein!“, brummte ich. Mit der letzten Äußerung sprach er einen wunden Punkt an: Freunde! Geselligkeit funktionierte bei mir nicht, ich blieb von Anfang an eine verschrobene Einzelgängerin. Darum führte ich unentwegt Selbstgespräche und verlor mich in Träumen und Fantasien.

Ich harmonierte mit keiner Clique, bei mir liefen die Dinge abweichend und das brachte mir den Außenseiterstempel ein. Normale Jugendliche und ich, das war wie Feuer und Wasser, das übliche klischeehafte Bild eines Teenagers passte nicht zu mir. Unverstanden von Mitmenschen und mit dem wechselhaften Hin- und Herspringen der eigenen Gefühle überlastet - Paps´ Diagnose.

Nur fühlte ich mich nicht wechselhaft. Unverstanden dahingegen traf zu. In mir wohnte ein ausgeprägter Hang zu Spaziergängen in abgetragenen Plünnen draußen im Wald an reiner Luft - für Mädchen im gleichen Alter nicht nachvollziehbar. Die Gänse bevorzugten die Kombination aus teuren Designerklamotten und Accessoires, stinkenden Discos, tonnenweise Haarspray, zu viel Make-up und Jungs, deren Verstand nicht im Kopf saß, sondern vorne in der Mitte der Oberschenkel baumelte.

Waldausflüge verbanden sie gleichzeitig mit Ungeziefer - bäh, Grasmilben und Zecken! -, schmutziger Kleidung, dreckigen Schuhen und dem muffigen Geruch von Unterholz.

Lud ich jemanden zu einer Wanderung ein, belächelte man die gutgemeinte Geste, als sei ich geistig unterbelichtet. Irgendwann gab ich auf und nahm mit mir allein vorlieb. Manchmal übermannte mich das Gefühl, dass Welten zwischen uns lagen, warum blieb eine offene Frage.

Zwei Wochen Sommerferien, bevor ich mich mit einer neuen Schulklasse herumschlagen musste. Es war das letzte Jahr auf dem Gymnasium. In absehbarer Zeit erreichte ich die Volljährigkeit und hatte das Abi in der Tasche.

Studienplätze bekam man gleich hier in Bad Dürkheim an der Uni und in der Umgebung, was mir nach dem Abschluss die Gelegenheit gab, einen Blick auf meinen mittelalterlichen `Erschaffer´ zu werfen.

Zwar gehörte er mit zweiundvierzig nicht zum alten Eisen, doch es würde mir schwerfallen, ihn zu verlassen, das Leben schweißte uns zusammen. Er personifizierte nicht nur Vater und Mutter, sondern den besten Kumpel - Korrektur - einzigen Kumpel. Und solange sein Lebensinhalt mir galt, Julissa Sommer, kurz `July´ oder `Kleines´, fand er niemals eine Frau.

„He Kleines, wovon träumst du?“

Finger schnalzten. Auf frischer Tat ertappt, eilte ich grinsend zum Kofferraum. Schuldbewusst griff ich ihm unter die Arme, übernahm einen Koffer und einen Schlafsack. „Ach, weißt du, Paps, ich grübelte über mein Zimmer nach. Du erwähntest mit keiner Silbe die Quadratmeter. Ist es kleiner als das alte?“ Mit zusammengepressten Lippen unterband er ein Lächeln. Den eigenen Schlafsack in die Achselhöhle gepresst, erfasste er die Kühlbox und mit der anderen Hand packte er das zweite Gepäckstück.

„Warum hörst du nicht auf zu trödeln und siehst selbst?“

Beladen wie ein Maultier lief er mir voraus. Mit großen Schritten hielt ich das Tempo mit, umging hinter ihm die Hausecke. Wir kamen an einem schön angelegten Garten mit Bäumen und Wildblumenbeeten vorbei, die in vielfältigen Farben um einen saftig grünen Rasen wuchsen.

Die Düfte, die sie verbreiteten, rochen süß und stark, ohne aufdringlich zu wirken. Mein Blick wanderte umher, bis wir die Haustür erreichten, sie setzte sich im hellbraunen Ton vom Putz des weißen Hauses deutlich ab. Die Kühlbox und den Schlafsack kurz abgestellt, steckte er den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

„Es ist nichts Riesiges und Besonderes“, entschuldigte er sich. Ich bekam Magenziehen. Zu viele Entschuldigungen bedeuteten kaum was Gutes. Von außen wirkte das Gebäude stabil. Um das Innere zu erkennen, fehlte mir der Röntgenblick.

Zogen wir in eine Bruchbude? Außen hui, innen pfui? Den Eingangsbereich strich eine Malerfirma in erfrischendem Weiß und der Geruch der Farbe dominierte die untere Etage. Der erste Eindruck stellte sich als annehmbar heraus, zumindest was Sauberkeit betraf. Paps trat in die Diele ein. Ich folgte ihm und wir ließen die Mitbringsel auf dem Boden stehen. Er präsentierte mir die Zimmer, die am Ende der Diele zur Rechten hinter einer Wohnungstür lagen. Wir beschritten einen länglichen Flurbereich, von dem mehrere Räume abgingen.

„Schau, Kleines! Das hier links ist mein Schlafzimmer, dann kommt das Wohnzimmer, daneben liegt die Küche und gegenüber dem Schlafzimmer findest du das Bad“, schilderte er. Ich begutachtete alles genauestens. Die Küche war mit modernen, weißen Schränken ausgestattet, ansonsten stand die Wohnung leer. Es roch fremd. Der Eigengeruch der Möbel, Teppiche, Kissen und des Bettzeugs fehlte, der vier trostlose Ecken in ein trautes Heim verwandelte. Bislang zeigten sich die Innenräume ungewohnt kalt. Nicht kalt im Sinne der Temperaturhöhe, sondern kalt, da die vertrauten Dinge, die unser Leben ausmachten und Geborgenheit schenkten, kreuz und quer verpackt in Decken und Schachteln in einem Umzugswagen steckten.

„Wann kommt das Mobiliar?“, fragte ich nach.

„Spätestens morgen sollte der Transporter aus Bayern eintreffen. Sobald die Sachen hier sind, richten wir uns gemütlich ein, das erleichtert das Eingewöhnen. Ich weiß, dass es derzeit nicht einladend erscheint“, antwortete er auf mein Gesicht hin. Er fühlte sich genau wie ich in den leeren Räumen verloren und versuchte, es mit einem Lächeln zu überspielen.

„Nein, alles passt. Was ist mit mir, Paps?“ Mit einem aufkommenden Gefühl von Unbehagen sah ich ihn an. Wenn das Erdgeschoss, bis auf das Schlafgemach, die Gemeinschaftsebene darstellte, wo befand sich dann mein Privatbereich? Nicht etwa der dustere Keller, wo es vor Spinnen und Kellerasseln wimmelte? Im Wald störten mich Kriechtiere nicht im Geringsten. Die Lebewesen dienten einem bestimmten Zweck, im Wohnraum lag die Sachlage anders.

„Oben, Kleines. Draußen die Holztreppe hoch gehört dir, so weit das Auge reicht!“

Den überraschten Gesichtsausdruck quittierte er mit einem fetten Grinsen. „Das komplette Dachgeschoss? Ist das dein Ernst? Das ist megaabgefahren!“, schrie ich vor Freude aus. Die Wogen der Begeisterung schäumten auf zu meterhohen Wellen.

Zurück in der Diele schleppte ich Koffer und Schlafsack polternd die Stufen hinauf, sie knarrten von meinen Fußtritten wie morsche Äste. Teenagertauglich sind die nicht!, quatschte ich lautlos mit mir selbst.

Ich öffnete die Wohnungstür des oberen Stocks, auch hier breitete sich überall ein Geruch von frisch Getünchtem aus. Gespannt lief ich durch die leeren Zimmer.

Ein kleiner Schlafraum hinten links, daneben eine Küche, in Weiß gehalten wie die Hauptküche. Neben der Eingangstür linksseitig das Wohnzimmer und gegenüber ein Bad mit Wanne und Duschkopf.

Das Dachgeschoss enthüllte sich als Minikopie des Erdgeschosses und die schrägen Wände störten kein bisschen. Im Gegenteil, ich fand sie gemütlich. Hier war es in jeder Hinsicht perfekt: genügend Platz, super Privatsphäre, Ausblick in mehrere Richtungen.

Es dauerte Minuten, bis ich es realisierte: ein eigener Wohnbereich! Im Gegensatz zu den letzten Wohnverhältnissen eine hundertprozentige Steigerung. Glücklich sauste ich zur Tür hinaus und schrie hallend die Treppe hinunter: „Paps, das ist unfassbar, eine komplette Wohnung!“ Vom Gebrüll alarmiert, erschien sein Kopf an der untersten Stufe.

„Kleines, alles zu deiner Zufriedenheit?“

„Machst du Witze? Ich liebe es!“ Ein Daumen schoss dreist nach oben. „Ich dusche jetzt und gönne mir Ruhe, später erkunde ich die Gegend. Ist das für dich okay?“, fügte ich lautstark hinzu und versuchte seine Mimik zu lesen.

„Da spricht nichts dagegen!“, klang es hoch. „Ich bevorzuge eine randvoll gelaufene Wanne, um den Straßenstaub von mir abzuschrubben. Danach statte ich der Kurklinik einen Besuch ab. Ein kurzes Hallo bei den neuen Kollegen ist angebracht, bevor ich in einer Woche durchstarte. Und ich muss mich mit der Umzugsfirma in Verbindung setzen und Druck ausüben, damit sie morgen mit unseren Möbeln antanzt.“

„In Ordnung …“ Glücklich blies ich ihm einen Luftkuss nach unten und kehrte zurück in die Wohnung. Dem Koffer eine frische Dreivierteljeans, ein gelbes T-Shirt, Unterwäsche, ein Handtuch, Duschgel und ein verwöhnendes Jasmin Öl entnommen, steuerte ich aufs weißgeflieste Badezimmer zu.

Dort schälte ich mich aus den verschwitzten Klamotten und ließ sie auf den Boden sausen. Mit einem lauten, tiefen Seufzer duschte ich ergiebig unter lauwarmem Wasser und wusch das Haar, das leimartig an mir klebte.

Das über den Kopf strömende nasse Element spülte das alte Leben fort und schaffte Platz für das neue. Ich fühlte mich neugeboren und die innere getrübte Stimmung änderte sich deutlich.

Genug Wasser verbraucht, drehte ich den Knopf des Hahns zu. Tropfnass fischte ich mit der Hand nach dem Frotteetuch auf dem Waschbeckenrand.

Abgetrocknet rieb ich mit dem ätherischen Jasmin Öl aus der Plastikflasche die trocknen, mit roten Flecken übersäten Hautstellen ein. Ich war hochgradiger Allergiker, was Asthma und Neurodermitis zur Folge hatte, darum vertrug ich auf der Haut nicht viel Sonne.

Eventuell behielt Paps recht damit, dass sich hier, an dem Kurort, eine drastische Besserung des Immunsystems einstellte. Die Hoffnung bitte nie aufgeben!, meldete sich die in mir wohnende Stimme optimistisch.

Kein Wunder, dass die Ausschläge in den vergangenen Wochen stark zunahmen, meine psychische Verfassung verschlechterte den körperlichen Zustand.

Vor der Abreise hatte ich mir vorgenommen, alles Zurückliegende zu vergessen und nicht länger an die schreckliche Erfahrung in Bayern zu denken.

Unschöne Gedanken zu verbannen, klappte nicht dauerhaft, unbewusst holten sie einen wieder ein. In Sachen Beziehungen schlug ich nach ihm, das Glück in der Liebe blieb aus, das Fatum ernannte uns zu Unglücksraben.

Für Tage erlebte ich am letzten Wohnort mit einem Jungen eine Romanze. Es wunderte mich zu dem Zeitpunkt, da ich den Kontakt zu anderen scheute und andere den Kontakt zu mir scheuten.

Nun brachte ich seinen Namen nicht über die Zunge. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, Fortuna lächele mich an. Attraktiv und angesehen vergötterten ihn die Mädchen wie einen Superstar.

Dass er sich unverhofft für eine Außenseiterin interessierte, erweckte Gefühle in mir. Er habe sein Herz an mich verloren und ich sei geschaffen für ihn, hob er mich in den Himmel.

Gezeigt hatte er mir die Zuneigung nie, was mir erst später auffiel. Er bekannte sich nicht öffentlich zu mir, die Verabredungen liefen wie ein Versteckspiel ab. Keine Kinobesuche, keine gemeinsamen Essen oder anderweitige Unternehmungen.

Er hatte es leicht mit mir: Ich wollte ein einziges Mal zu jemandem gehören, ein einziges Mal begehrenswert und verliebt aufwachen und das erleben, worüber Klassenkameradinnen ständig redeten.

Kleinkindnaiv schenkte ich ihm Glauben und es kam zu einem Schäferstündchen. Zum Dank jagte der Schürzenjäger am darauffolgenden Tag einem dunkelhaarigen Busenwunder hinterher.

Eine riesengroße Enttäuschung. Tja, Erfahrung ist eine nützliche Sache, leider hat man sie erst zur Hand, nachdem sie gebraucht wird.

Wegen den rotblonden langen Haaren, die den Rücken einhüllten, den himmelblauen Augen und der schmalen Figur wirkte ich ab und an verlockend.

Die zu den unmöglichsten Momenten auftretenden Krankheitsschübe entstellten das Hautbild ärgerlicherweise. Jeder liebte Kuchen, Torte und Schokolade mit Kuhflecken, nur nicht July mit Hautflecken. Und warum Zeit in unsere Beziehung investieren? Das Gehirn ausgeschaltet, gab ich ihm, auf was er von vornherein scharf war.

Seitdem herrschte in mir totale Verunsicherung. Ich empfand mich als unansehnlich, wie ein ausrangiertes Möbelstück; von der ersten, angeblich wundervollen Liebe hatte ich die Nase gestrichen voll.

Jungs. Primitiv gestrickt und unehrlich. Da bevorzugte ich ein Singleleben wie Paps und schloss mich der Devise an: allein und glücklich.

Der bayerische Blödian kann mir den Buckel runterrutschen, er verdient eine, die ihn sitzen lässt!, verlieh ich meinem Selbstwertegefühl Schwung, sprühte Deo in die rasierten Achseln - es brannte höllisch - und genoss den süßlichen Blumenduft. Ein unreifer Macker, ausschließlich auf das Äußere und das Eine erpicht, ist überflüssig. Verliebe ich mich je wieder, muss das Gefühl tief aus dem Herzen kommen, und die Person eine besondere sein. Leichtgläubig und unbefangen verschenke ich Vertrauen und Körper nie mehr!, säuselte ich weiter im Selbstgespräch vertieft.

Es hatte eine positive Seite: Null Widerreden. Schade, dass ich im bisherigen Umfeld niemandem der Art begegnete. Es kam wie gerufen, dass Paps die Stelle als Arzt in Bad Dürkheim angeboten bekam und rasch unser Haus verkaufte. Es bedeutete einen geschenkten Neuanfang und solch eine Fehleinschätzung, was das andere Geschlecht anbelangte, passierte kein zweites Mal.

Fehler sind da, damit man daraus lernt!, versuchte er mich nach der schmerzlichen Trennung - oder sollte ich sagen: dem schmerzlichen Laufpass? - zu trösten.

Er wusste, von was er redete. Von der Ex - meine Gebärerin - aufs Übelste enttäuscht, fiel es ihm leicht, sich in meine Gefühlswelt hineinzuversetzen.

Erst wenn ein Junge zum wahren Freund wird, indem er dir Beweise der Verbundenheit liefert, lasse dich zum nächsten Schritt verleiten, das ist der Weg zum Glücklichsein! Ein weiterer Rat von ihm, an den ich mich von heute ab hielt.

Zufrieden starrte ich kurz in den von winzigen Wassertropfen benetzten Spiegel über dem Waschbecken, das zurzeit einzige Utensil im Bad, und öffnete das Badefenster zum Lüften.

Die durchgeschwitzten Kleider vom Boden aufgesammelt und kein Wäschekorb zur Stelle, stopfte ich sie kurzerhand in eine verknitterte Plastiktüte, die neben dem Klo in der Ecke landete. Die Waschmaschine aufgestellt und angeschlossen, kümmerte ich mich um die Schmutzwäsche.

Ich dürstete nach Sauerstoff und Grünem. Achtung Pfälzer Wald, ich komme … Ein Naturfreak durch und durch, sah ich es als Schicksal oder göttliche Eingebung an, die Vergangenheit ruhen zu lassen und die Gegenwart in Angriff zu nehmen, indem ich die Wanderwege ausfindig machte.

Angezogen, nicht nackt.

Der alte Friedhof

Die Lebensgeister mobilisiert, jeglicher Schmutz von mir gewaschen, insbesondere der auf der Seele, kleidete ich mich an. Mit der Welt im Einklang stieg ich die knarzende Holztreppe hinunter. In der Küche fand ich auf der Kühlbox einen handgeschriebenen Zettel und den Zweitschlüssel des Hauses vor.

July, habe gebadet und fahre zur Arbeitsstelle. Die Umzugsfirma erreichte ich, unsere Sachen kommen morgen gegen Mittag. Entschuldige, die zwei rotbäckigen Äpfel verdrückte ich in der Wanne, es sind Brote und eine Cola in der Truhe. Für abends bringe ich uns was mit, okay? Viel Spaß beim Umschauen und verlaufe dich nicht, das Waldgebiet ist groß. (Ich weiß, es interessiert mein Mädchen mehr als der Ort.) Gewöhne dich erst an die Wanderwege und ja, du bist bald volljährig, dennoch sei bitte vor Einbruch der Dunkelheit zurück, sonst vergehe ich vor Angst. Bis später. Paps!

Lächelnd legte ich das Blättchen beiseite, langte nach dem Schlüssel und öffnete die Kühlbox, holte ein Putensandwich und die Cola heraus. Das Sandwich verputzt, am Erfrischungsgetränk genippt, und einen zweiten Rundgang durch die Erdgeschossräume beendet, brachte ich den Schlüssel am Schlüsselbund an und trat vor die Haustür.

Den Himmel trübte kein Wölkchen. Die Hitze, die bei der Ankunft herrschte, wich einer angenehmen, erträglichen Wärme. Ein leichter Wind strich mit einem spätsommerlichen, abendlich kühlen Hauch wohltuend über die Haut.

Das Auge kam ebenfalls nicht zu kurz und ich nahm den Garten unter die Lupe. Wildrosen in Purpurtönen und andere Wildblumen, deren Namen ich nicht kannte, vermischten sich zu einem bunten Sommertraum unterhalb schattiger Bäume.

Ein mittiger Rasen lud zum Sonnen ein. An seinem Rand wucherte bodendeckendes Heidekraut in allen Farben und Variationen fröhlich durch die Beete und beanspruchte jedes winzige Fleckchen.

Violette und gelbe Zaunwicken nutzten den drahtigen Grenzzaun zum Nachbarsgrundstück als Stütze und Kletterhilfe. Sie rankten hinter fliederblauen Dahlien und weißen Astern in die Höhe, die energisch ihre Plätze gegen das dreiste Heidekraut behaupteten.

Kurzum, das Zusammenspiel der Pflanzen mündete in einen einzigen Farbklecks, der Vorgänger sorgte offensichtlich gut für sie. Gewiss hatten sie regelmäßigen, täglichen Bedarf an Pflege. Ich setzte mir in den Kopf, am kommenden Morgen, bevor der Möbeltransporter anrollte, Bäume, Gras und Blumen zu gießen.

Um die Hausecke und durch die Hofeinfahrt an einer Garage vorbei, bog ich auf der Frühlingsstraße nach links ein. Unser Haus war eines der letzten in einer Linie verlaufenden und aufeinanderfolgenden Siedlungshäuser und in Minuten kam ich zu einem von mattgelben Getreidefeldern eingegrenzten Feldweg.

Er führte in Richtung eines Laubwaldes, der sich in vorzeitiger Herbstpracht hinter den Wohnhäusern erhob: der Pfälzer Wald. Die Sonne ging vor zwanzig Uhr nicht unter. Sie stand hoch am Himmel und schenkte mir genügend Zeit, das Revier zu erforschen.

Ein prickelndes Gefühl wanderte durch die Fingerspitzen, als ich den Fuß auf den unbefestigten Pfad setzte. Heidekrautgewächse zu beiden Seiten verliehen ihm optisch Breite und trennten ihn vom Getreide.

Sie leuchteten in typischen herbstlichen Kolorierungen wie bei uns im Garten. Der heiße Sommer öffnete für alle Pflanzen frühzeitig die Türen für die dritte Jahreszeit.

Die Landschaft erinnerte mich an einen Indian Summer, ein Naturschauspiel in Nordamerika, geprägt von rostigen, teils in Gold übergehenden Orangetönen sowie Zinnoberrot und Kupfer. Ein explodierender Rausch an Farben und gleichzeitig ein wahrer Augenschmaus!

Ein kräftiger, würziger Duft berauschte auf angenehme Weise die Sinne. In Turnschuhen, die Blasen vorbeugten, erreichte ich den Waldrand. Genau dort, wo der Feldweg in einen Waldweg überging, stand ein Holzschild mit einer Aufschrift versehen.

Die Stadt Bad Dürkheim deklariert eine Teilfläche am östlichen Rand des Pfälzer Waldes zum neuen Friedhofsgelände. Interessenten melden sich bitte im Bürgeramt.

In der Nähe des Hauses lag ein Friedhof? Als Sechsjährige benutzte ich oft auf dem Schul- und Nachhauseweg die Abkürzung durch unseren Dorffriedhof. Schräg für ein Kind, Gleichaltrige mieden den Ort wie einen Löffel Lebertran und Fischsuppe mit Gemüse.

An den Nachmittagen, Anfang November bis Ende Dezember, wenn es vor sechzehn Uhr dämmerte, gefiel es mir besonders. Ich liebte die uralten, knorrigen Bäume und die magische Stille, die sich auf dem Gottesacker ausbreitete. Die Lichter der Grablaternen wiesen mir mit ihrem zarten Schein den Weg durch den Nebel, der in dicken Schwaden über und zwischen den Gräbern wallte.

Sie erinnerten mich an die Kerzen am Weihnachtsbaum, die das Kommen des Jesuskindes ankündigten. Mit sieben versuchte ich, mir beim Lesen der Namen auf den Gedenksteinen vorzustellen, wie die Menschen einst aussahen.

Ob sie Familie unter den Lebenden hatten oder Gott sie mit ihren Lieben im Himmel vereinte. Zählte, nachdem ich den Zahlenraum bis Hundert beherrschte, von ihrer Geburt die Jahre bis zum Todestag, um ihr Alter ausfindig zu machen.

An der Pflege ihrer Grabstätte war ersichtlich, ob sie schmerzlich vermisst beziehungsweise in weit auseinanderliegenden Abständen besucht wurden, während man in liebevoller Erinnerung an andere Verstorbene wiederum allein zu Allerheiligen dachte.

Dann gab es die von Gebüsch überwucherten, winzigen, aus Stein bestehenden Grabstellen links vom Eingangstor. Auf ihren Gedenkflächen meißelte ein Steinmetz die Namen von Kriegsgefallenen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ein.

Die ovalen, vergilbten Keramikrahmen, die die Fotos von Männern in einst modernen Uniformen herzeigten, splitterten an den Seiten ab. Dicke und dünne Risse, in den Jahrzehnten durch die Witterung entstanden, zogen sich durch die ernsten Mienen der Porträts wie Narben.

Zu meinem Bedauern legte hier niemand Grabschmuck nieder. Die unmittelbaren Angehörigen der Gefallenen waren entweder ebenfalls tot oder weggezogen, darum schmückte ich die moosüberwachsenen Grabsteine mit Sträußchen selbstgepflückter Gänseblümchen und Gänseblümchenkränzen. Sie füllten die Leere und Vergessenheit aus, welche die kahlen Steine, wenn man vom Moosteppich absah, verbreiteten.

Im Laufe des Älterwerdens schätzte ich die Ruhe an diesem friedlichen Ort des Schweigens und in sich Gehens immer mehr. Dort sortierte ich die Gedanken und trennte Unwichtiges von Wichtigem. Alles Stressige blieb draußen vor dem Eisentor.

Vor dem Holzschild stehend erwachte ich aus den Tagträumen, unversehens bewegten sich die Füße in Richtung des Friedhofs.

Warum nicht.

Den Ort anzuschauen schmerzte nicht, für eine Erkundungsrunde genügte es. Je tiefer ich in den Laubwald eindrang, umso stiller, düsterer und kühler wurde es.

Wenige Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die vorzeitig bunten dichten Blätterkronen und ich fröstelte. Dumme Nuss, wieso bandst du dir keine Strickjacke um die Taille?, schimpfte ich mit mir.

Zu gern führte ich im Wald vermehrt Monologe. Der erste Schritt zum Wahnsinn oder die aus dem Alleinsein resultierende Folge, wie einer der Psychologen in Paps´ Freundeskreis es zitiert hätte.

Verschmitzt lächelte ich in mich hinein. Hatte nicht jeder irgendeine Marotte? Der nächste Besuch also mit Pulli, damit ich bei den Selbstgesprächen nicht fror.

Vogelgezwitscher dämpfte die Gedanken. Der von vermoderten Blätterresten überzogene Weg, ein natürliches, teppichartiges Überbleibsel des Vorjahrs, minderte das Geräusch meiner Tritte und wurde schmäler.

An einer Weggabelung stieß ich auf ein weiteres Holzschild.

Links alter Friedhof

Rechts neuer Friedhof

Zwei Friedhöfe? Hier stand ich, mitten in einem mir fremden Waldgebiet, und hielt mit mir Rat, welcher Weg in Frage kam - was sich für manchen absolut armselig anhören mochte.

Ich vernahm das Heulen eines Hundes. Das Gejaule kam von links und nahm mir die Entscheidung ab.

Die Abzweigung wand sich mehrere hundert Meter durch den buntgefärbten Wald. Verschiedene Düfte strömten betörend auf mich ein - Rinde, Moos, Sand, Humus - und ich verfiel in Träumerei, bis der Weg vor einem schmiedeeisernen, mit Schnörkeln verzierten Tor endete.

Mit einem Quietschen, das mir in der Stille dreimal so laut vorkam, öffnete ich das Tor und trat ein.

Ein rechteckiges stattliches Areal mit wunderschön angelegten Pfaden breitete sich vor mir aus.

Geziert mit weißen Kieselsteinen schlängelten sie sich zwischen den in gleichmäßigen Abständen auseinanderliegenden Gräberreihen dahin.

Uralte Laubbäume mit tiefhängenden knubbeligen Ästen, deren Blätter in leuchtenden Farben den Sommer verabschiedeten, verbanden die einzelnen Ruhestätten miteinander und fügten sie zu einem Ganzen zusammen.

Mit ehrfurchtsvollen Schritten und in mich gekehrt, ging ich von Grab zu Grab, las die Epigrafe und bestaunte die teils von Moos überzogenen heiligen Statuen.

Am Ende des Zauns angelangt, der das Grundstück umgab, fiel mein Blick auf einen grauen, alten Naturgrabstein mit verblasster, lesbarer Inschrift.

Die Erde davor war, im Gegensatz zu den anderen Begräbnisstätten, erst kürzlich gegossen, was ihr ein viel dunkleres Aussehen verlieh.

Frische Wiesenblumen, in einem schrägen Winkel niedergelegt, schmückten sie.

Eine seitlich stehende, menschengroße Engelsstatue aus Marmor hielt mit gefalteten Händen, ausgebreiteten Flügeln und geschlossenen Augen neben den Blumen Wache.

Der Gesichtsausdruck des Engels glich dem eines Kindes: lieblich, zufrieden, ohne die menschlichen Züge eines Erwachsenen, die negative Lebenserfahrung widerspiegeln.

Andächtig trat ich auf die Ruhestätte zu. Ihr Anblick fesselte mich und ich las die auf dem Grabstein eingravierten Worte.

Die von tiefsten Herzensängsten entzündete Lüge brannte lichterloh und glühte, bis sie in Schutt und Asche lag. Die Wahrheit löste sich aus dem grauen Staub und erhob sich wie ein wiedergeborener Phönix, prachtvoll das goldene Gefieder, als leuchte es im schönsten Morgenrot. Hoheitsvoll stieg sie in den Himmel empor und verkündete den errungenen Sieg über das Lügengespinst.

Alejandro Salvador

geboren

1958

gestorben

1975

Ein merkwürdiger Grabspruch. Und seltsam der Name, träumte ich versonnen, klingt nicht deutsch. Spanisch? Der Junge kam in meinem Alter ums Leben. Warum er den Tod fand? Krankheit? Unfall? Es gab unzählige Arten zu sterben. Wen hinterließ er? Eine Mutter? Einen Vater? Geschwister? War er ein Einzelkind?

Eine Weile blieb ich stehen, verloren in bedrückenden Gedanken.

Irgendwann bemerkte ich, dass die Dunkelheit hereinbrach und die Vogelgesänge verstummten, die den Herweg begleiteten.

Ich sah mich gezwungen, auf der Stelle den Nachhauseweg anzutreten, um nicht die Richtung zu verlieren.

Nachhauseweg. Zuhause.

Wie ein `Zuhause´ fühlte sich das Anwesen in der Frühlingsstraße derzeit nicht an. Die Räume standen leer wie ausgeraubt und die erste Nacht verbrachten Paps und ich in Schlafsäcken auf dem Boden.

Es war unser Haus und andererseits auch nicht. Ich vermisste die grüne Couch aus dem früheren Zimmer. Dellen bildeten sich im Lauf der Jahre darauf, da ich eine Hälfte als Lieblingsseite bevorzugte und mein Hintern die Sprungfedern einbeulte - vergleichbar mit einer tiefer gebetteten Brutstätte in einem Nest.

Der Computer fehlte mir ebenso. Und das Bett. Der kuschelige Bettüberzug und sein wohliger Duft, wenn ich ihn mir bis zur Nase zog. Selbst die Wohnzimmerausstattung, die Stühle und den Esstisch wünschte ich mir sehnlichst herbei. Sobald sich die gewohnten Möbel samt restlichem Haushalt einfanden, verging das Gefühl des Fremdseins hoffentlich binnen Tage.

Deprimiert wandte ich mich von Alejandro Salvadors Ruhestätte ab und lief schnellstens zum schmiedeeisernen Tor zurück. Dort blieb ich unvermittelt stehen und schaute, keine Ahnung warum, über die Schulter nochmals zu dem seltsamen Grab hin, das ein unwiderstehliches Verlangen in mir auslöste.

Bei dem dichten Blattwerk hüfthoher, undurchdringlich aneinandergewachsener Büsche, die hinter dem Zaun im Unterholz des Waldes in die Höhe ragen und das Friedhofsgelände von außen einschließen wie eine Festungsmauer … Sind das …? Nein. Ausgeschlossen.

Es kam mir vor, als leuchte ein orangegelbes, schrägstehendes Augenpaar daraus hervor und hefte den Blick auf mich.

Mädchen, du fängst zu halluzinieren an! Das sind Lichtreflexe, die auf den bizarren, schwarzen Schatten der Bäume tanzen, hervorgerufen vom Nachklang der untergegangenen, glitzernden Sonne, die du von deinenGängen her kennst!, erinnerte ich mit fahlen Wangen.

Für gewöhnlich schenkten mir Friedhöfe Ruhe und Frieden, diesmal bekam ich eine gehörige Gänsehaut. Irgendetwas verhielt sich heute anders. Verhielt sich hier anders. Ich registrierte es, mit jeder Nervenfaser. Nur was?

Als sei ein auferstandener Toter mit schwingender Sense hinter mir her, eilte ich zum Tor hinaus. Schleunigst schloss ich es, wie beim Eintritt begleitet von durch Rost verursachtem Quietschen der Scharniere, im Rücken.

Ohne es zu wagen, einen Blick zurückzuwerfen, flitzte ich durch den Wald, in dem sich gespenstisch die Finsternis auszubreiten begann, zum Feldweg zurück. Aus der Stadtmitte Bad Dürkheims vernahm ich den dröhnenden Glockenschlag einer Kirchturmuhr und zählte mit: genau einundzwanzig Uhr.

Erleichtert, den Schutz der offenen Landschaft erreicht zu haben, lief ich die restlichen Schritte bis zur Frühlingsstraße entspannter. Das Bild des Grabes mit der Inschrift `Alejandro Salvador´ verfolgte mich in den Gedanken bis zur Hofeinfahrt.

Ein besonderer Klang lag in dem Namen, wenn ich ihn aussprach. Alejandro Salvador. Die beiden `r´ rollten über die Zunge und vibrierten, dass es kitzelte bis in den Gaumen.

Im Erdgeschoss unseres Hauses brannte zu meiner Erleichterung Licht. Paps war da - das bedeutete absolute Sicherheit. Erschöpft und erlöst zugleich öffnete ich die Haustür. Drinnen in der Diele rief ich: „Hallöchen! Da plagt jemand ein Riesenhunger! Muss ich wegen eines leeren Magens umkippen oder gibt es was zum Futtern?“

Ich gab der Tür einen Schubs und sie fiel ins Schloss. Die Turnschuhe umständlich von den Füßen gestreift, stellte ich sie sorgfältig auf die unterste Treppenstufe. In dem Moment spitzte er durch die offene Wohnungstür in den Dieleneingang.

„Das darf ich keineswegs verantworten! Aus dem Grund besorgte ich vier Riesenburger, zwei mit Fleisch und zwei Veggieburger, plus einen Salat mit Käse und Eier, für den Fall, dass du auf deinen vegetarischen Trip bestehst. Es ist so gut wie dunkel, Kleines, ich machte mir ernsthaft Sorgen. Wo hast du gesteckt?“

Nach einer Kopfgeste, ihm zu folgen, tapste ich hinter ihm her in die weiße, steril wirkende Küche. Wir setzten uns am Fußboden im Schneidersitz gegenüber, die Kühlbox in der Mitte diente als Tisch. Darauf standen ein angezündetes Teelicht, zwei Limonaden, vier Bratlinge und das Grünzeug.

Ich erzählte von der Walderkundung und vom alten und neuen Friedhof, zu dem ich es zeitlich nicht mehr schaffte. Das mit dem seltsamen Grab, das noch seltsamere Gefühle in mir erweckte, sparte ich aus wie die orangegelben leuchtenden Augen im Unterholz - er hätte mich sonst für irre gehalten.

Ausgehungert verputzte ich zwischen Pausen den vegetarischen Anteil des Abendbrots. Paps quatschte von der Arbeitsstelle und informierte, dass der Stadtrat die Pläne für den neuen Gottesacker vor Tagen absegnete und das Grundstück brachlag.

Oh Mann, welche armen Seelen werden dort Einzug halten?, durchzuckte es mich und ein heftiger Schauder krabbelte dem Rücken entlang. Ich erzitterte kurz. Er interpretierte es als einen Anflug von Frieren, nahm seinen dicken, braunen Strickmantel ab und legte ihn mir auf die Schultern.

Gesättigt kroch er todmüde nach einem Gutenachtkuss in den Schlafsack auf dem Wohnzimmerboden und ich löschte, mit Spucke am Finger, das Teelicht in der Küche beim Hinausgehen. Mit schweren Schritten stieg ich die ächzende Holztreppe empor, putzte im Schnellverfahren die Zähne und hängte den Strickmantel über den Badewannenrand.

Meine rosa Lieblingsjogginghose dem Koffer entnommen - ich nutzte sie nicht zum Jogging, sondern für gemütliche Stunden daheim -, kletterte ich wacklig in die Hosenbeine und sank ausgelaugt ins sackförmige, provisorische Bett. Die Gedanken schwirrten zurück zu Alejandro Salvador. Die Tonfolge des Namens übte eine ungemeine Anziehungskraft aus. Geheimnisvolles lag darin. Alejandro Salvador. Er klang geheimnisumwittert.

Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen versuchte ich, ihn mir vorzustellen: Ein hochgewachsener, hünenhafter Spanier mit brauner Hautfarbe und nachtschwarzem, glänzendem Haar lächelte aus schokoladefarbenen, sanften Augen. Bei der Vorstellung überkam mich der ersehnte Schlaf und verrückte Träume trugen mich davon.

Der neue Friedhof

Paps´ Rufe aus dem Erdgeschoss weckten mich am nächsten Morgen unsanft aus dem Schlummer.

„July, es ist zehn Uhr! Unser Hausrat kommt in zwei Stunden! Wache auf, Schätzchen! Frühstück erwartet dich, damit du nicht melodramatisch wirst und wieder umkippen ankündigst!“

Von den Worten alarmiert, wollte ich mich aufsetzen. Ein Stich schoss durch den hinteren Halsbereich und ich rieb mit der Hand automatisch die Stelle. Das fehlte mir! Die Möbel im Anmarsch und ich bewegungsunfähig. Um umzukippen, hätte ich erst hochkommen müssen.

„Okay, ist angekommen!“, schrie ich zurück. Ein Mist! Warum passierte das heute? „Solang das Gestell verrenkt ist, gehe ich nirgendwohin“, fügte ich murmelnd an. Die Schritte verflüchtigten sich.

Ein Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee fand den Weg durch den unteren Türspalt der Wohnungstür, waberte unsichtbar durch den Flur bis ins Schlafzimmer und verführte meinen Magen zu ungewöhnlichen Geräuschen.

Ich reckte mich im Liegen. Einer der Halswirbel renkte sich ein und der Schmerz schwächte ab. Ich grinste. Na also, wieso nicht gleich. In Gedanken rannte ich den nächtlichen Hirngespinsten hinterher - was ich in der ersten Nacht hier träumte -, fing sie nicht mehr ein und rollte aus dem warmen, unbequemen Schlafsack. Leicht missgelaunt, dass mir die Erinnerung fehlte, erlosch das Grinsen.

Auf kühlem Boden lief ich barfuß zum Bad. Eine Katzenwäsche und ein rasantes Haarstyling folgten, das mit Kopf und Mähne nach vorne und Kopf und Mähne nach hinten verrichtet war.

Zum Schluss klemmte ich einen türkisfarbenen Haarreif ins Haar. Er bändigte es seitlich und über der Stirn, hielt es vom Gesicht fern und passte zu den türkisen Ohrringen. Das gelbe T-Shirt behielt ich an, besprühte mich zweimal mit einem blumigen Deo und ging runter ins Erdgeschoss.

Die Kühlbox zeigte sich von neuer Seite: mit Croissants und Kaffeepappbechern. Die Sonne schien durch die Fenster und versprach einen warmen Tag. „So früh beim Bäcker?“, gähnte ich verblüfft und Paps lächelte spitzbübisch.

„Abzuwarten, bis du Schlafmütze ausschläfst und einkaufst, hätte mir den Hungertod gebracht.“

Mit gespielt beleidigter Miene rollte ich theatralisch die Augen. „Eine Studie beweist, dass Jugendliche viel mehr Schlaf benötigen als die ältere Generation“, entschuldigte ich das Langschläfersyndrom. Ein weiteres Gähnen unterdrückend beäugelte ich ihn. Er strotzte vor Energie, im Gegensatz zu mir. „Schmerzt dir was von der Nacht?“, erkundigte ich mich und griff an den gedämpft hämmernden Nacken.

„Redest du vom Schlummern im Schlafsack?“

„Ja.“

„Es führte zu keinen gesundheitlichen Problemen. Ich sehe mich gern als durchtrainierten End-Dreißiger, den ein Nächtchen außerhalb des Betts nicht herunterbringt.“ Die Mundwinkel zuckten von einem angedeuteten Lächeln. „Und heute Abend ruhen wir wie Könige auf den Matratzen, das garantiere ich dir! “, setzte er hinterher und biss herzhaft in ein Croissant.

Die kommenden zehn Minuten herrschte Schweigen zwischen uns, eine Wohltat. Ich verabscheute das Gefühl, permanent quatschen zu müssen, um jemanden bei Laune zu halten. Gemütlich schlürfte ich Kaffee und langte beim Gebäck zu. Mir fiel ein, dass ich gießen wollte. Nach einem zweiten Hörnchen ging ich in den Garten.

Ein strahlend blauer Himmel empfing mich. Neben dem Wasserhahn, an der Hausmauer in der Nähe der Beete angebracht, stand eine graublecherne Gießkanne.

Misstrauisch hob ich sie an und begutachtete alle Seiten. Keine Löcher entdeckt, machte ich sie mit Wasser voll und goss die bunten Blumen, die Bäume und die Grasfläche - mehrmals füllte ich auf. Vögel zwitscherten in den Nachbargärten ein Morgenkonzert und eine schwarze Katze schlich zwischen Astern und Dahlien umher.

„Na du?“, quatschte ich mit ihr und ein langgedehntes Miau folgte. „Verlaufen, was? Befindest du dich auf Mäusejagd? Ich bin July. Und du?“ Sie maunzte. „Aja. Maunzi. Angenehm. Wie gut, dass ich nicht abergläubisch bin - schwarze Katze bringt Unglück und so, was für ein Schmarren! Wohnst du in der Gegend?“, führte ich das unsinnige Gespräch mit ihr weiter aus.

Gelangweilt von der Konversation, was ich ihr nicht verdenken konnte, verschwand sie fauchend hinter blühendem Heidekraut. „Okay, beim nächsten Aufeinandertreffen lasse ich dich geradeso links liegen!“, rief ich ihr dennoch ein wenig angesäuert hinterher.

Eine Nachbarin, die mit Gartenschlauch die Wiese wässerte, starrte mich missgestimmt an. Fühlte sie sich etwa angesprochen? Vorsichtshalber winkte ich ihr über den Drahtgeflechtzaun zu.

„Morgen! Eine streunende Mieze!“, betonte ich leichthin und lächelte dezent. Sie nickte verständnislos. Ihre Miene verriet, dass sich mich für schwachsinnig hielt, obwohl wir keine fünf Wörter miteinander wechselten.

Nach dem Bewässern pflückte ich einen bunten Strauß und in der Garage stöberte ich eine bauchige, weiße Vase auf; nicht nagelneu, dafür ohne Risse und wasserdicht.

Das sommerliche Blumenarrangement platzierte ich auf den Küchentresen in der unteren Küche, was dem Raum gleich ein stilvolles Ambiente verlieh.

Pünktlich zur Mittagsstunde stand das Möbelauto vor unserem Haus und die Möbelpacker trugen herein, bauten zusammen und stellten auf. Wir halfen, wo sich die Möglichkeit bot.

Für die Schwerstarbeit schwächelte ich und für den Aufbau erwiesen sich Paps geschickte Doktorhände als ungeeignet, sie verwandelten sich in zwei linke Handwerkerhände. Wie durch Zauberei fanden sich die Möbel an ihrem neuen Platz ein.

Sorgfältig räumte ich Kleidungsstücke aus dem Koffer und den Umzugsschachteln in den Schlafzimmerschrank ein und überzog das Bettzeug mit einem pinken Überzug, den aufgedruckte grüne Blüten zierten.

Unterdessen wurde im Erdgeschoss geklopft, gehämmert, mit Akkuschrauber gebohrt und geschraubt und emsig aufgebaut. Mit Vorfreude auf die Nacht strich ich übers Bett.

Oben tipptopp, rutschte ich mit dem Po auf dem Treppengeländer nach unten. Absolut hohl und stupide, das Risiko eines Genickbruchs hinzunehmen!, motzte die Stimme in mir. Ich teilte ihre Meinung. Hätte mein Alter Herr das mitgekriegt, hätte ich mir mit der waghalsigen, gefährlichen Nummer eine saftige Strafe eingeheimst. „Huhu, wo bist du, Paps?“

„Im Wohnzimmer! “

Ich stellte mich in den Türrahmen. „Geht es voran?“

„Wir sind hier bald fertig …“

Endlich standen alle vertrauten Möbel in den Räumen. Yippie!

„Wenn dich Hunger quält, Kleines, der Kühlschrank ist aufgefüllt.“

„Du fandst Zeit für einen Einkauf?“ Ich sah ihn verwundert an.

„Ein paar Sachen liefern lassen trifft es besser.“

Er rückte das TV Lowboard in Position und einer der Männer hievte den Flachbildfernseher oben auf und schloss ihn an. Paps startete die automatische Sendersuche und ich suchte die Küche nebenan auf, holte ein Käsesandwich aus dem Kühlmöbel und vertilgte es am heißersehnten Esstisch.

Die Möbelpacker klaubten zwischenzeitlich die grauen verfilzten Decken und Plastikschutzhüllen zusammen, die überall herumlagen. Paps zahlte unsere Rechnung und gab beim Verabschieden ein anständiges Trinkgeld, was ein Lächeln auf die müden Gesichter zauberte.

Mit einem Eiersandwich verzog er sich daraufhin ins Wohnzimmer. In mir wuchs eine Unruhe an, ich gierte nach Bewegung. Aufgestanden, schritt ich zur Stubentür hinüber und lehnte mich gegen den Türrahmen. „Du sag, brauchst du noch meine Hilfe?“

„Nein, Kleines.“

Eine wortkarge Antwort. Das Essen lag unberührt vor ihm auf dem Wohnzimmertisch.

„Hast du was vor?“

„Ja, ich kundschafte den Wald aus. Begleitest du mich?“ Auf der orangefarbenen Polstergarnitur in Jeans und braunem Shirt der Länge nach rücklings ausgestreckt, einen Arm angewinkelt hinterm Kopf und in der linken Hand ein Glas Rotwein, gähnte er vor Ermattung.

„Nicht heute. Geh und vertrete dir die Beine.“ Er hob das Trinkgefäß an die Lippen und nippte kurz daran. „Momentan fühle ich mich wie fünfzig, nein, sechzig! Ich bleibe liegen und genieße das Fernsehprogramm, nur ein Notfall kriegt deinen alten Vater von der Couch.“

„Okay.“

„Sei vor Dunkelheit zurück. Verstanden?“

Abgelenkt verfolgte er eine Serie. „Geht klar. Tschaui.“ Den Arm unterm Hinterkopf hervorgezogen, winkte er schlaff. Wieder in Ausgangsposition, den Kopf leicht angehoben, schlürfte er genüsslich vom Wein. Ich verkniff mir ein Grinsen, lief hinaus in die Diele zur Haustür, trat in Turnschuhen nach draußen und zog sie zu.

Sechs Stunden vergingen seit der Ankunft des Möbeltransporters und bis zur Abenddämmerung dauerte es. Was für ein Glück, dass Paps sich außerstand sah, mir Gesellschaft zu leisten; ich fragte ihn aus reiner Höflichkeit.

Nicht, dass ich nicht gerne Spaziergänge mit ihm unternahm, heute zog ich allerdings Alleinsein vor, um Gedanken nachzuhängen, anstatt eine Unterhaltung zu führen.

Die Siedlung hinter mir und den Feldweg erreicht, blies warmer Wind um meine Ohren. Getreideähren raschelten zu beiden Seiten. Derselbe Duft wie am Tag zuvor erfüllte die Luft. Der Geruch der Erde und des Korns mischte sich mit dem des spätsommerlichen Heidekrauts, betörte die Sinne und lud zum Träumen ein. Hier in der Natur fühlte ich mich wohl.

Flugs beim ersten Holzschild angelangt, stand ich kurz darauf vor der Abzweigung. Aus unerfindlichen Gründen schlug ich die andere Richtung zum neuen Friedhof ein, ein bislang ungenutztes Gelände. Nach einigen hundert Metern vernahm ich Prozessionsmusik und erspähte einen Trauerzug, der durch das Tor des Totenackers zog. An vorderster Spitze lief ein etwa sechzehnjähriger Ministrant in einem liturgischen Gewand und einem Vortragekreuz, das er vor sich an einer Stange in die Höhe hielt.

Ein Thuriferar folgte ihm. In der Hand baumelte ein orientalisch aussehendes silbernes Weihrauchfass an Ketten und räucherte die komplette Trauergesellschaft ein. Von den intensiven Duftstoffen des Weihrauchs wurde mir im Kindesalter im Gottesdienst stets unaufhaltsam schlecht.

Wie ein verscheuchter Störenfried versteckte ich mich hinter den Stämmen der Laubbäume, die mit ihren vielen dichten Blättern Schutz vor unwillkommenen Blicken boten. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in der Magengegend aus. Ich sollte gehen und die Privatsphäre der Trauernden respektieren. Nicht umsonst heißt es: Von Beileidsbekundungen bitten wir Abstand zu halten.

Warum rührte ich mich dann nicht? Befallen von siegender Neugier, die ich, zu dem Zeitpunkt, gleichermaßen abstoßend empfand, blieb ich, um zu erfahren, wer kürzlich verstarb und was sich dort vorne abspielte - abgesehen von einem Begräbnis. Aus dem Versteck äugte ich als ungebetener Gast hervor.

Vier schwarzgekleidete Männer mit ernsten Gesichtern trugen im einheitlichen Rhythmus einen Sarg unter verästelten Laubbäumen in Richtung eines offenen Grabes.

Mit gesenkten Häuptern schritten die Trauergäste hinterher. Sie versanken in frommer Andacht und sangen ein Lied aus einem Gebetsbuch, das ich nicht kannte.

Die Melodie klang herzzerreißend und der gesungene Text steigerte die niederschmetternde Schwermut zusätzlich, die zum Greifen in der Luft hing. Mein Blick fiel auf die Totenkiste.

Für einen Erwachsenen viel zu klein, transportierten die männlichen Personen sie auf den Schultern zu ihrem unausweichlichen, kargen Ziel. Ich erlitt physischen Schmerz, einen scharfen Stich in der linken Brustseite; das Herz schmerzte heftig und verkrampfte sich.

Ein verstorbenes Kind wurde hier zur letzten Ruhe gebettet. Auf diesen Anblick war ich nicht gefasst. Für einen greisen oder sterbenskranken Menschen bedeutete der Tod eine Erlösung, auf einen süßen Wurm, der das ganze Leben vor sich hatte, traf das nicht zu. Die niedergedrückte Stimmung zermürbte mich. Ich wollte davonlaufen, die bescheuerten Füße rührten sich keinen Millimeter.

Eine Frau Mitte dreißig, das kurze blonde Haar bis auf den Pony von einem schwarzen Hut bedeckt, stand vor Weinen und Schluchzen mühsam auf den Beinen. Einer der Trauergäste hielt sie aufrecht und sprach ihr bedachtsame Worte zu.

Mein Körper bebte. Die Bestattungsfeier wurde abgehalten. Die Trauernden am Fußende des Sarges zogen mit betrübten Mienen Taschentücher hervor, schnäuzten sich und wischten Tränen ab.

Weiße Nelken, kunstvoll zu einem üppigen Kranz geflochten, schmückten die rechteckige Holzkiste. Eine sanfte Brise wehte über die Blumen hinweg und ließ sie für Sekunden erzittern.

Die entsetzliche Dunkelheit des Lochs, in das die Totenlade hinabsank, fühlte sich an wie mein eigener Tod. Mit einem Male verwünschte ich den düsteren, endgültigen Ort und mir fiel kein einziger Grund mehr ein, weshalb ich ihn aufsuchte.

Nachdem sich die Trauergäste verabschiedeten, blieben die Dame mit dem schwarzen Hut und der Pfarrer an der frischen Ruhestätte zurück. Stumm verbarg ich mich weiterhin hinter den Baumstämmen, die Beine balancierten das Körpergewicht schwerfällig.

Um nicht zu kollabieren, klammerten sich meine Hände an einen der Stämme. Die Neugierde wurde mir zum Verhängnis. Das Lüftchen trug die Worte des Priesters zu mir herüber.

„Warum, Frau Braune, entschieden Sie sich, Ihren Jungen hier in Bad Dürkheim und nicht im Grabe seines Vaters zu bestatten?“

Sie schluchzte auf, verschluckte sich an der Flut ihrer Tränen. Gefangen in ihrem Leid, erstickte sie fast an der Antwort.

„Es mag Ihnen herzlos erscheinen, aber was gibt es Herzloseres, als einem das Kind und den Ehemann zu rauben? Ich fasse nicht, dass ich die beiden bei dem schrecklichen Autounfall verlor, dass man sie dem Leben und mir entriss. Der Grund für den Entschluss ist für einen Außenstehenden schwer nachvollziehbar. Mein Bub erschien mir nach dem Ableben im Traum und bat mich, ihn hier, auf diesem Friedhof, zur letzten Ruhe zu betten. Und sein Papa äußerte den ausdrücklichen Wunsch, am Geburtsort begraben zu werden. Hätte ich ihrem Ersuchen nicht entsprechen, ihr Anliegen verweigern sollen? Ich erfüllte die Pflicht, sie an verschiedenen Orten zu beerdigen, und es ist grausam, dass es sie im Tode voneinander trennt. Es zerreißt mir das Herz, letztendlich gab es keine andere Wahl. Verstehen Sie, Herr Pfarrer?“

Sie weinte fürchterlich. Die Tränen liefen über die fahlen Wangen und tropften hinab aufs frische Grab. Ihr Körper wurde von unkontrollierten Zitterschüben überrollt, war einem Zusammenbruch nicht mehr fern. Der Pastor streichelte sanft ihren Rücken und flüsterte beruhigende Worte, zu dezent fürs Gehör, um sie deutlich zu vernehmen.

„Und nun bin ich allein … wie mein Sohn, der hier auf dem naturbelassenen Grundstück liegt, und der Vater, der in der Heimatstadt ruht. Bitte sagen Sie mir, dass ich das Richtige getan habe. Die Mitmenschen begreifen nicht, warum ich beschloss, auf ein Familiengrab zu verzichten. Sie sind der Ansicht, ich drehe durch, und das ist nicht weit hergeholt. Morgen reise ich ab und fahre zu einer Freundin. Meine Eltern leben nicht mehr, ich bin ohne Geschwister aufgewachsen und besitze keine Kraft, die Zukunft zu meistern. Wo, Herr Pfarrer, ist die göttliche Gerechtigkeit, die uns von Ihnen versprochen wird? Alles wurde mir genommen. Alles. Wieso saß ich nicht in dem Auto und starb mit Bub und Mann? Weshalb bürdet mir der Allmächtige ein Los auf, für das ich zum Tragen zu schwach bin?“, jammerte sie schniefend und starrte mit dick verquollenen Augen ins Leere.

„Der Herrgott schickt uns auf seltsame Wege, die nicht gleich zu verstehen sind“, versuchte der Pastor sie mit Worten zu trösten. In ihrem Schmerz half das wenig.

„Wie erkenne ich in all dem Leid einen Sinn? Ich bete zu Gott, dass der Kerl, der Fahrerflucht beging, gefunden und bestraft wird. Aber keine Höchststrafe lässt den Täter das fühlen, was ich fühle, lässt ihn durchleiden, was ich durchleide. Ich bin am Leben und gleichzeitig ausgestorben. Eine lebende Hülle. Er entwendete mir das Liebste, was ich besaß. Niemand gibt mir das zurück. Weder das Gesetz noch die Verheißung auf Gerechtigkeit.“

Ihre Augen wirkten rot unterlaufen. Der Gottesmann sprach mit einem mimischen Ausdruck Anteilnahme aus und redete tröstend auf sie ein. Dabei schlang er einen Arm um die Schulter der Trauernden und führte sie mit bedachten Schritten vom Ort des Elends fort.

Mir war hundserbärmlich zumute. Die ungewöhnliche Stille des Waldes lastete schwer auf mir und wurde lediglich durch den eigenen Herzschlag unterbrochen.

Jeder Baum, jedes Blümlein, jedes Tier schien in Trauer versetzt. Mit Tränen kämpfend wartete ich geduldig hinter den dicken Baumstämmen, bis der Priester und die vom Verlust ihrer Familie gebeugte Dame aus dem Blickwinkel verschwanden.

Verstört wagte ich mich aus dem Versteck hervor. Ich schlotterte von Kopf bis Fuß. Zaghaft und schwerfällig bewegten sich die Beine durch den offen gelassenen Friedhofseingang auf das Grab des Kindes zu. Ein dichter Tränenschleier erschwerte es mir, die Worte auf dem provisorischen Grabstein in Form eines Holzkreuzes zu lesen.

Das Liebste raubtest du mir, oh Herr.

Begraben ohne Beisein des Vaters.

Betrauert für den Rest meiner inhaltslosen Tage.

Deine dich liebende Mutter

Lukas Braune

geboren

2006

gestorben

2016

Die unsicheren Beine gaben unvermittelt unter mir nach. Ich knickte zusammen wie ein abgebrochener Grashalm und landete auf den Knien. Mit zittrigen Händen strich ich über die frische Erde, als wollte ich den Jungen in der Einsamkeit auf die Weise streicheln und ihm Trost spenden.

„Es tut mir so unsagbar leid, Lukas Braune, und stünde es in meiner Macht …“, wimmerte ich, ohne den Satz zu vollenden. Tränen kullerten an den Wangen entlang, am Grab eines Zehnjährigen, den ich nie im Leben kennenlernte.

Was für ein Scheißkerl begann Fahrerflucht? Welches Schwein zeigte sich nicht Mann genug, für das furchtbare Vergehen einzustehen? Ein Alkoholiker? Ein Drogensüchtiger?

Was für eine Art von Mensch vereinbarte es mit dem Gewissen, ein verletztes Kind am Unfallort zurückzulassen, anstelle nachzusehen, ob es nicht noch lebte?

Womöglich hätte ein Notruf das Schicksal des Buben abgewendet? Mich fröstelte bei dem Gedanken an den Täter und die gefühllose Haltung. Er verhielt sich wie kein Zeitgenosse, dem ich begegnen wollte.

Von dem Jungen loszulösen gelang mir nicht. Ich blieb bei ihm, bis die Stille der Dämmerung hereinbrach und mich aus der Qual befreite. Erneut hörte ich die dröhnende Stadtglocke von Bad Dürkheim einundzwanzig Uhr schlagen.

Sie mahnte, nach Hause zu gehen. Schweren Herzens nahm ich Abschied von Lukas und rannte zurück zur Abzweigung, mit kurzem Atem und von Trauer erfüllt.

Ihn zurücklassen zu müssen, zwischen Bäumen und Büschen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, zerbrach etwas in mir. So stellte ich mir den abendlichen Ausflug nicht vor.

Ich fror. Aus dem gestrigen Tag gelernt, löste ich einen Pulli von der Taille und zog ihn über. Mit überkreuzten Händen strich ich an den Armen entlang und erzeugte Wärme. Das Heulen eines Hundes ertönte einmal mehr aus der Ferne und ich schreckte auf. Er weilte in der Nähe des anderen Weges. Ob es hier wilde Vierbeiner gab? In einem Kurgebiet?

Zu spät und dunkel, den Pfad zum alten Friedhof einzuschlagen und das Grab von Alejandro Salvador aufzusuchen, hielt ich frierend auf den Waldrand zu. Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut und das bewirkte keinesfalls allein Lukas´ Ableben.

Schätzungsweise hundert Meter vor dem Waldausgang, ich sah durchs Laub die gelben Lichter der am Siedlungsrand stehenden Straßenlaternen durchflimmern, stoppte ich. Aus einem Bauchgefühl heraus schoss ich herum, anscheinend wurde es zu einem Ritual. Eine eigenartige Ruhe lag über allem. Ich vernahm kein Rascheln von Blättern, nicht die Spur eines Windhauchs.

Der Wald erweckte den Eindruck eines Gemäldes. Die Pflanzen und Lebewesen froren ein in ihren Regungen. Oder rührte sich irgendwas?

Ich glaubte, hinter einem dichten Buschwerk Bewegungen zu erkennen. Vorsichtig und neugierig zugleich verminderte ich mit wenigen Schritten die Distanz. Ein hartes, breites Etwas schob Zweige auseinander. Unbewusst ging ich rückwärts. Ein Schatten erhob sich aus dem finsteren Dickicht des Unterholzes und aus heiterem Himmel stierten zwei orangegelbe leuchtende Augen zu mir her, die die ersten Mondstrahlen reflektierten. Ein Tierschädel. Der heulende Streuner. Wir starrten uns gebannt an, die Blicke aneinandergefesselt.

Aus dem über mich verhängten Bann erwacht, machte ich kehrt. Als hinge mein Leben davon ab, raste ich zum Waldrand hin und passierte ihn. Den Feldweg erreicht, wähnte ich mich in Sicherheit, die Siedlung lag nicht mehr weit entfernt.

Die Straßenlaternen erhellten das Ende des Pfades und der Mond bedeckte ihn und die Getreidefelder mit einem safrangelben Schein. Ein rosaroter Streifen zierte das ansonsten dunkle Firmament. Ein Rest Farbe der untergegangenen, vom nächtlichen Erdbegleiter abgelösten Sonne.

Wie ich Paps kannte, ging er gerade Hops vor Unruhe. Versprach ich ihm nicht, pünktlich vor Dunkelheit daheim zu sein? Genervt rannte ich die letzten Meter zu unserem Haus. An der Eingangstür zückte ich atemlos den Schlüssel, drehte ihn im Schloss und legte die Hand auf die Klinke.