Sonnengrün - Elenor Avelle - E-Book

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Elenor Avelle

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Beschreibung

Über Jahrhunderte lebten die Menschen auf der letzten Insel und der Stadt im Meer getrennt voneinander, nur durch eine Brücke verbunden, die niemand betritt. Nachdem Juliano nach einem Sturm von den Schwestern Rota und Wite am Strand gefunden wurde, versuchen sie gemeinsam Julianos Volk in der Stadt zu retten, das vom Aussterben bedroht ist. Mit Verbündeten aus ihren Familien suchen sie nach einer Lösung, denn ihnen ist klar, dass hinter der Trennung der Menschen Geheimnisse stecken, die sie alle in Gefahr bringen. Als es ihnen gelingt sie zu lüften, gerät ihre Weltsicht aus den Fugen und eine Konfrontation ist unvermeidlich.

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Seitenzahl: 222

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sonnengrün ist der dritte Teil der Reihe „Das Geheimnis der Lowa“.

Die Geschichte ist eine Märchenadaption von Schneeweißchen und Rosenrot, allerding nicht vom Märchen, sondern der ursprünglichen Fabel.

Dieses Buch enthält Darstellungen von gewaltsamem Tod und sexueller Gewalt.

Für Ali

Inhaltsverzeichnis

Teil 3 - Nivasi Drai

Die Brücke

Geheimnisse lüften

Die Maschine

Die Frau des Scovo

Das letzte Seufzen

Das Leben

glossar

Personen der Hada

Begriffe der Hada

Begriffe der Petu

Die Brücke

Es stürmte heftig, Agji brüllte durch den Bay und peitschte das Meer auf. Rota war zu dieser Zeit noch nie an der Bhagaruma Lief gewesen. Es war gefährlich an der Küste, wenn das Lowa wütete. Doch sie wollte dabei sein, wenn Sanrako die Bhagaruma Lief weckte, damit Juliano zu ihnen herübergelangen konnte. Es war herrlich dramatisch anzusehen, wie das Wasser an der Küstenmauer hochschlug, Wind und Regen die Luft grau zeichneten und sichtbar an ihr zerrten.

„Was für ein Spektakel.“

Rota kam mit Wite und Idis. Die Beziehung ihrer Schwester zu Sanrako brachte den Vorteil mit sich, dass sich niemand darüber wundern würde, wieso sie im Areal der Wateko unterwegs waren, sollte sich unerwartet jemand vor die Tür wagen. Die Fenster waren zwar verrammelt und die meisten Hada behielten ihre Nase bei diesem Wetter lieber in ihren Häusern, doch wer konnte schon ausschließen, dass nicht doch mal jemand rauskam.

Sie stellten sich wie eine zeremonielle Abordnung nebeneinander zwischen die Säulen, hinter denen die Bhagaruma Lief auftauchen würde. Sanrako ging zum rechten Pfeiler, musste sich gegen den Wind stemmen und achtgeben, nicht über den Rand der Mauer geblasen zu werden. Der Mechanismus lag über seinem Kopf, doch er musste nicht einmal hinsehen - was bei dem umherfetzenden Nunwasser auch schwierig war -, als er die erforderlichen Handgriffe tätigte.

Rota konnte ihn nur ungenau ausmachen bei der trüben Sicht. Sie blinzelte heftig gegen den Wind an. Durch den Lärm des Sturms verpasste sie die ersten Regungen der Bhagaruma Lief. Sie war schon fast ganz aufgetaucht, bis Rota die aufsteigenden Glieder entdeckte.

Idis stieß einen Laut des Entzückens aus. Sie war überglücklich, dass sie die Gelegenheit bekam, das Bauwerk zu sehen. Zuerst war sie skeptisch gewesen, als Rota ihr berichtete, es handle sich um kein Wesen. Von klein auf wuchsen die Hada in dem Glauben auf, die Bhagaruma Lief wäre so etwas wie die Manifestation Agiwes. Doch die Bhagaruma Lief war aus Stein und Metall, nicht aus Fleisch und Blut. Sie war von keinem Lowa bestiegen, funktionierte durch Mechanik. Und Mechanik war Idis’ Leidenschaft.

Ob Wite den Anblick genoss, war schwer zu sagen. Aber Rota ging davon aus, denn auch wenn ihre Schwester anderen Dingen zugetan war als den Hinterlassenschaften der Nivasi Drai, so war die Bhagaruma Lief eine beachtliche Erscheinung. Das Wasser stürzte von ihr hinab zurück in die gepeitschte See. Gischt spritzte an ihr empor.

„Und nun?“, fragte Idis.

„Wir warten.“ So hatte Rota es mit Juliano vereinbart. Sie hoben die Bhagaruma Lief um diese Zeit und er kam herüber. Niemand dürfte ihr Erscheinen bemerken, da niemand nach ihr sah oder sie erwartete. Auch in Ren Ima wütete Agji, ob die Petu an das Lowa glaubten oder nicht. Es war fast so, als würde es ihnen helfen, ihr Vorhaben vor aller Augen zu verbergen. Rota war nicht so vermessen zu glauben, das Lowa habe nichts Besseres zu tun, als Stürme heraufzubeschwören, damit sie das eine Sonnenwanderung zur Tarnung nutzen konnten, aber der Gedanke gefiel ihr dennoch.

Durchnässt und vom Wind geschubst harrten sie vor der Bhagaruma Lief aus. Es sah gefährlich aus, wie die Böen die Steinmauer überstiegen. Doch das würde Juliano bedenken, da war sich Rota sicher. Augenblick um Augenblick warteten sie, Sanrako hatte sich neben Wite gestellt, alle in gespannter Erwartung. Idis und der Wateko wahrscheinlich mehr als die Schwestern, denn sie hatten noch nie zuvor einen Petu gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Für sie war er eine bloße Idee.

Dann endlich war ein Schatten zu erkennen, eine Gestalt, die Rota erst für eine Sinnestäuschung im nadelfeinen Regenschleier hielt. Stück für Stück wurden die Umrisse größer, die Konturen klarer. Der Petu taumelte immer wieder zu Seite. Die Kraft von Wind und Wasser wirkten enorm, doch er schaffte es, nicht über die Brüstung gespült zu werden.

Da schrie Sanrako plötzlich auf. Eine große Welle fegte über die Bhagaruma Lief. Rotas Herz machte einen schmerzhaften Satz. Als sich die Flut auf der anderen Seite zurück ins Meer ergoss, erwartete sie eine leere Stelle vorzufinden, konnte sich einen Moment nichts anderes vorstellen. Dann entdeckte sie Juliano, zusammengesunken. Vom Gewicht des Wassers in die Knie gezwungen, hockte der Petu an der Randmauer. Noch nie in ihrem Leben hatte Rota so schwer aufgeatmet.

Mühsam kam Juliano wieder hoch, schleppte sich, offensichtlich unter Schmerzen, weiter. Als er nahe genug war, sah Rota, dass hinter ihm ein Seil zu den Metallstreben führte, auf denen die seltsamen Kisten fuhren. Sobald der Petu zwischen den Säulen stand, bückte er sich hinter sich und nahm den Strick ab. Am Ende baumelte ein ovaler Metallring, der an einer Stelle geöffnet werden konnte. Damit hatte er sich scheinbar eingeklinkt und hing gleichzeitig nicht fest. Bei Gelegenheit wollte Rota genauer erfahren, wo. Jetzt war es erst einmal wichtig, ins Trockene zu kommen. Sanrakos Hütte war die nächste Anlaufstelle.

Rota nahm Juliano bei der Hand und zog ihn mit sich, ohne eine Gelegenheit für Begrüßungsworte zu ermöglichen. Niemanden störte das, denn sie alle wussten, wie schwer es war, bei dem Getöse einander zu verstehen. Außerdem war niemandem entgangen, dass sich der Petu beim Aufprall der Welle verletzt haben musste. Kaum waren sie in die Hütte von Sanrako getreten, untersuchte Wite Juliano und fragte nach den Schmerzen. Der Wateko hatte bereits ein Feuer im Kamin entzündet und Kleidung bereitgelegt.

„Nur Prellungen“, stellte sie fest.

Rotas Puls beruhigte sich.

Als Sanrako die Kleider verteilte, wurde Juliano sich offenbar zum ersten Mal der ihm fremden Hada bewusst. Er musterte den Wateko mit großen Augen, öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, ließ es dann allerdings bleiben.

Anhand der unbewussten Bewegung, die Juliano mit der Hand machte, während er starrte, begriff Rota, dass es die Größe Sanrakos war, die den Petu irritierte. Er hatte noch nie einen so kleinen erwachsenen Menschen gesehen.

„Das ist Sanrako“, stellte sie die beiden einander vor. „Und das ist meine Mutter Idis.“

Juliano lächelte verlegen.

„Ado“, sagten Sanrako und Idis gleichzeitig.

Dann zogen sie sich hinter den Vorhang zurück, der bei Bedarf vor Sanrakos Schlafplatz gezogen werden konnte, um sich umzuziehen. Da Rota ihre Mutter und den Wateko darüber informiert hatte, wie schwer sich der Petu mit nackter Haut tat, war es für sie selbstverständlich, Rücksicht darauf zu nehmen. Schließlich blieb nur noch Juliano in seinen nassen, bestickten Strümpfen übrig. Er betrachtete die Hadakleidung skeptisch. Rota drückte sie ihm in den Arm und schob ihn zum Vorhang.

„Es ist immerhin eine Hose und kein Rock. Und dass sie wegen deiner außergewöhnlich langen Beine gerade mal bis zum Knie geht, dürfte dich nicht stören, das ist auch nicht kürzer als deine eigene Hose.“ Mit einem Ruck war der Vorhang geschlossen und der Petu vor Blicken verborgen.

„Wieso kein Rock?“, wollte Idis wissen. „Die sind auf nasser Haut viel leichter anzuziehen.“

„Das ist so ein Petuding“, sagte Rota. „Nur Frauen ziehen bei den Petu Röcke an.“

„Und Geweinari?“

Rota wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Juliano beharrte zwar darauf, dass es bei den Petu nur Männer und Frauen gab, aber das konnte sie sich nicht vorstellen.

Als Juliano schließlich umgezogen hinter dem Vorhang hervortrat, war Rota von seinem Aufzug irritiert. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, ihn in seinen bestickten Sachen zu sehen, dass die Hadakleidung ungewöhnlich an ihm wirkte.

Idis und Sanrako staunten über seine Größe. Wenn Juliano nicht achtgab, würde er sich den Kopf an einem Balken der Hüttendecke stoßen. Da die Hada allesamt kleiner waren als die Petu, bauten sie ihre Häuser niedriger. Rota frage sich, wie groß die Nivasi Drai gewesen sein mussten, denn die Häuser in Ren Ima hatten unglaublich hohe Decken.

Juliano stand ein wenig unbeholfen im Raum und musterte verlegen die ihm unbekannten Hada. Da Rota es nicht gewohnt war, Leute einander offiziell vorzustellen, kam ihr der Gedanke nicht, ihn einzuführen.

„Ado, Juliano“, übernahm der Wateko. „Ich arbeite hier bei der Bhagaruma Lief und helfe bei den Brokun Ke, die Opfergaben in die Wagen zu laden.“

„Und hältst die Gehässigen davon ab herüberzuschleichen.“ Juliano grinste frech. Rota hatte ihm bereits ein paar Dinge über die Wateko erzählt. Er war beinahe genauso neugierig auf die Kultur der Hada wie Rota auf seine. Der Petu bewegte die Finger, um zu verdeutlichen, wie rätselhaft ihm das alles war.

Sanrako zog die Augenbrauen hoch. „Weshalb ich jetzt eine genaue Untersuchung von dir einleiten muss.“ Er erhob sich, nahm Werkzeuge aus einem Regal, die Rota nur vom Töpfer- und Ziegelpakaiwerk kannte.

Juliano bekam große Augen. Als plötzlich alle Hada zu lachen begannen, fiel er erleichtert mit ein. Rota sah ungläubig in Sanrakos Richtung. Ihr war nicht klar gewesen, was für einen fiesen Humor der Wateko hatte.

„Keine Sorge.“ Sanrako setzte sich wieder. „Wite und Rota versicherten mir, sie hätten keine gehässigen Lowa in deiner Stadt entdeckt.“

Juliano presste die Lippen aufeinander. „Sie haben meinen Vater auch nur kurz gesehen.“

War es ein Scherz? Rota konnte es nicht mit Sicherheit sagen. In jedem Fall ging sie nicht davon aus, dass Julianos Vater von einem gehässigen Lowa bestiegen war. Dieser Mann schien einfach ein unangenehmer Mensch zu sein. Ähnlich vielleicht wie Zudei. Wie er sich als Krisco verhielt, konnte sie nicht beurteilen.

Sie fragte sich, wieso Juliano bei seinem Vater blieb und auf seine Anweisungen hörte, wenn es ihm so zuwider war. Kam ein Hada in einer Povar nicht zurecht, wechselte die Person in eine andere oder baute sich eine alleinstehende Hütte. Die Povarstruktur der Petu kam ihr eigentümlich vor. Sie schien auf direkte Blutsverwandtschaft beschränkt zu sein.

„Es ist schön dich zu sehen“, sagte Idis an Juliano gerichtet, ihre Stimme gefärbt von freudiger Erregung.

Als sein Blick auf sie fiel, brachte ihn das auf andere Gedanken. „Du bist Baumeisterin.“ Juliano musterte sie neugierig. Ob er nach Ähnlichkeiten suchte oder Anzeichen für ihre Fähigkeiten, war nicht klar. Vielleicht beides. „Das passt gut“, sagte er. „Ich habe in den Archiven etwas gefunden.“

Er trat noch einmal hinter den Vorhang und holte eine Tasche. Rota war sie nicht aufgefallen. Etwas irritiert stellte sie fest, dass es eine Rückentasche war, wie die Hada sie machten. Es sah nicht nach Petupakaiwerk aus.

„Woher hast du die?“

Er blickte verwirrt auf die Rückentasche. „Die lag im Archivraum unserer Bibliothek.“

Rota wandte sich an Sanrako. „Schicken wir solche Sachen in die Stadt?“

Der Wateko kam näher und betrachtete die Tasche. „Wir schicken Stoff, Fiasstoff, aber keine Dinge daraus.“

„Ja, eigentlich nicht.“ Juliano war nachdenklich. Offenbar hatte er sich bislang keine Gedanken darüber gemacht, was für einen seltsamen Beutel er gefunden hatte. Für ihn war er nur praktisch gewesen. „Die Dinge, die wir aus dem Leinen machen, sind anders gestaltet, Kleidung, Polsterbezüge. Taschen nicht. Waren tragen die Servari in Körben.“

Vorsichtig berührte Rota die Rückentasche. „Sie ist sogar gewachst.“ Solche Taschen nutzten die Mazafangenden und Kundschaftenden wie Rota selbst. Wenn es regnete, blieb der Inhalt trocken.

„Lasst uns über die Herkunft ein anderes Mal sprechen“, mischte sich Wite ein. „Was hast du gefunden, Juliano?“

Er zögerte, die Tasche zu öffnen, als würde das Rätsel ihrer Herkunft es zu einer fragwürdigen Tat machen, hineinzugreifen. Sie hatte jemandem gehört, das spürte Rota deutlich, aber sie konnte nicht sagen, wem.

Dann holte Juliano eine Rolle Papier heraus. „Das ist der Plan unserer Bibliothek.“ Er sah sich um und rollte dann das Papier auf einer freien Stelle des Tisches aus. Dabei wurde er von dem Möbel abgelenkt. „Was für eine schöne Arbeit.“ Er fuhr über das glatte Holz, die Schnitzereien an den Kanten und Beinen. „Ich dachte, eure Möbel seien grobschlächtig, rein praktisch.“

Idis lachte auf. „Das kommt doch auf den eigenen Geschmack an.“

„Verachtet ihr nicht allen Tand, unnötige Schnörkel? Muss nicht alles einen Nutzen haben?“

Das musste ihm wohl so vorkommen.

Sanrako tätschelte seinen Tisch. Soweit Rota wusste, hatte er ihn selbst angefertigt. „Ist Freude etwa nicht nützlich?“

Idis beugte sich vor und betrachtete die Schnitzereien. Sie verzierte selbst die Möbel, die sie herstellte. Allerdings nicht ganz so kunstvoll wie Sanrako, stellte Rota fest. Er integrierte Tiere und Pflanzen sehr plastisch.

„Du könntest mir bei Gelegenheit deine Technik zeigen“, bat Idis. Der Wateko nickte erfreut.

„Alle Möbel, die ihr in eurer Hütte habt, sind so ...“ Juliano sah Rota anklagend an und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

„Simpel“, half sie ihm aus. Sie zuckte mit den Schultern. „Weder Wite noch ich sind begabte Pakai mit Holz und wir haben viele andere Dinge zu tun. Außerdem waren es die Restmöbel von Haraiko in der Hütte. Die aufwändigeren Stücke sind verteilt worden, damit sie nicht nutzlos verrotten.“

„Wir legen nicht viel Wert auf Möbel und Dekoration“, fügte Wite hinzu. „Was nicht gleichbedeutend damit ist, dass es allen Hada so geht.“

„Gibt es bei den Petu denn niemanden, der es schlicht mag?“ Sanrako klang erstaunt.

Juliano dachte darüber nach. „Es ist schwierig, weil es ein Zeichen von Ansehen und Macht ist, mehr und üppigeren Besitz zu haben. Die Servari leben bescheiden mit simpleren Dingen, aber das suchen sie sich nicht aus.“ Da schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Defvoi Facile, sie lebt schlicht. Und einige der Nagoli sind auch der Bescheidenheit zugetan.“

Was Juliano unter schlicht und bescheiden verstand, konnte Rota nicht genau sagen.

„Nagoli?“ Idis und Sanrako standen Fragezeichen auf der Stirn. Bei all den Berichten aus Ren Ima war Rota noch nicht dazu gekommen, die unterschiedlichen Petu zu erklären. Sie holte es nach oder versuchte es zumindest. Juliano unterstützte sie dabei, doch verwirrte die anderen dadurch zusätzlich. Das Konzept von unterschiedlicher Wertigkeit von Menschen war ihnen fremd.

„Zurück zum Plan“, mahnte Wite, der diese Unterhaltung keinen Mehrwert brachte.

„Genau.“ Erleichtert, sich von der Frage der Menschlichkeit abwenden zu können, suchte Juliano Dinge, mit denen er die Ecken des sich windenden Pergaments festklemmte. Sie beugten sich darüber und entzündeten noch mehr Kerzen und Lampen, weil die Fensterläden aufgrund des Sturms geschlossen waren und kaum Licht in die Hütte drang. Dadurch entstand eine seltsame Atmosphäre, die Rota nicht bezeichnen konnte. Es fehlte ihr das Wort, um zu beschreiben, wie es sich anfühlte, Geheimnisse hinter geschlossenen Türen zu besprechen, die noch niemand sonst von den Hada erfahren sollte.

Idis saugte die Zeichnungen auf der Karte förmlich in sich auf. Sie fuhr mit dem Finger die Linien nach. „Das sind die Stockwerke.“ Niemand musste ihr erklären, was sie sah, es erschloss sich ihr einfach. „Können sich diese Kästen bewegen, hinauf und hinunter?“

Juliano nickte, stolz darauf, was seine Stadt zu bieten hatte.

„Nivasi-Drai-Konstruktionen, davon habe ich gelesen. Aber sie funktionieren nur mit Strom.“

Rota hatte nicht gewusst, dass es zu den Konstruktionen der Nivasi Drai noch Bücher im Bay gab. Allerdings war sie auch keine Baumeisterin wie Idis, die speziell dieses Wissen suchte und liebte.

Eine Weile redeten der Petu und Idis nur über die Fahrkästen. Die anderen wollten etwas zu den Dingen wissen, die Rota und Juliano auf ihrer Erkundungstour gefunden hatten.

„Es scheint mir so, als hätten die Nivasi Drai darauf gehofft, alles zurückbekommen zu können, was ihnen verloren ging.“ Sanrako strich sich das Kinn. „Wenn ihre Fahrzeuge in Ren Ima sonst keinen Nutzen haben, wozu aufheben?“

„Für Prestige“, sagte Juliano. „Hast du viel, dann bist du wer.“

„Oder, weil sie nicht loslassen konnten“, schlug Rota vor. Sie war sich sicher, dass es nicht nur einen Grund für Entscheidungen und Handlungen gab. Vor allem hatten bestimmt auch die Nivasi Drai nicht alle dieselben Ziele verfolgt.

„Und hier ist der geheime Raum.“ Juliano zeigte auf einen Teil der Karte, den blassere Striche bedeckten. Ein verzweigtes Netz aus vielen Linien und Symbolen daneben.

„Das ist mehr als nur ein Raum“, stellte Sanrako fest.

„Und das sind bestimmt die Zeichen, die den Öffnungsmechanismus beschreiben.“ Idis zückte einen Stift und ihr Notizbuch. „Darf ich?“ Sie sah Juliano an, die Spitze des Stifts nur ein Stück von der Blattoberfläche entfernt.

„Nur zu. Wir würden den geheimen Raum gerne öffnen.“

Sie studierten die Karte noch eine ganze Weile und redeten darüber, was die Symbole bedeuten könnten und welche Techniken die Nivasi Drai genutzt hatten. Dann rollte Sanrako die Karte zusammen, steckte sie in die Rückentasche und gab sie an den Petu.

Idis klappte das Notizbuch zu. „Ich gehe heim zum dunklen Mahl.“ Sie gab ihren Töchtern einen Kuss, verabschiedete den Petu hochachtungsvoll und den Wateko, wie sie es bei Santi tat. Dann war sie fort.

„Ich begleite euch zu eurer Hütte.“ Sanrako öffnete die Tür und spähte hinaus, um sicherzugehen, dass niemand unterwegs war. „Der Regen hat nachgelassen.“

Sofort überfiel Rota eine innere Unruhe, halb Aufregung, halb Scham, ob ihrer Heimlichtuerei.

Sie warfen dem Petu einen Umhang über, damit er nicht so auffiel. Obwohl er sich duckte, war der Stoff immer noch viel zu kurz. Deshalb nahmen sie ihn in die Mitte und liefen so bald wie möglich in den dichteren Bay.

„Kein Dunga?“, fragte er hoffnungsvoll, während er sich an sein Kleiderbündel klammerte.

„Zu stürmisch“, rief Rota über den Wind hinweg. „Die Flüsse sind reißend. Außerdem wäre der Weg länger. Ich möchte so schnell wie möglich hinein.“ Da krachte es neben ihnen, schreckte sie auf, als wolle der Wald daran erinnern, wie gefährlich er zurzeit war. Was den Lärm verursachte, konnten sie nicht sehen, doch Rota hielt es für berstendes Holz, eventuell ein brechender Baum.

„Als spränge mir das Herz nicht eh schon aus der Brust“, murmelte sie atemlos.

Sie waren alle erleichtert, als sie die Hütte erreichten. Dass ihre großen Tore geschlossen waren, wirkte ungewohnt, hatten die Schwestern sonst alle Läden offen stehen. Sie schlüpften durch ein kleines Portal in einem der Tore hinein. Erfreut stellten sie fest, dass jemand auch hier ein Feuer entzündet hatte. Rota hatte Nirm in Verdacht.

„Häng deine nassen Sachen hierher“, wies sie Juliano an und legte auch ihre eigenen über die Leine, die dicht am Kamin aufgespannt war. Als alles aufgehängt war und es regelmäßig auf den Boden tropfte, machten sie es sich im Haus gemütlich, Rota wie üblich in ihrer Hängematte. Juliano sah sich um. Seit er das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich einiges verändert. Es war wohnlicher geworden, Teppiche lagen auf dem Boden, Decken und Kissen bedeckten die Säcke voller Mos. Rotas Bücher füllten ein ganzes Regalbrett, daneben standen hübsche Tonschalen voller Nun. Wites Kräuter dufteten angenehm, baumelten teils in Bündeln von der Decke.

„Da ist ja die Pfanne.“ Er hob das Kupferstück an, als wolle er sichergehen, dass es die richtige war, untersuchte das Gestell darunter. „Gusseisern?“ Er schien überrascht.

„Dieses ja, es ist schon alt.“ Rota lachte. „Sonst machen wir sie aus Ton.“

Er schürzte beeindruckt die Lippen. „Brennt ihr den?“

„Ja.“ Rota hatte mit dem Gedanken gespielt, einen eigenen Brennofen in der Nähe der Hütte zu bauen.

Der Petu sah sich die Gefäße in den Regalen an. „Sehr kunstfertig.“ Er wirkte beinahe überrascht. Kein Wunder, hatte Rota bei den meisten Treffen im Bay Holzplatten und Bansarohre dabei gehabt, weil es unterwegs praktischer war.

„Davon schickt ihr gar nichts nach Seren Issima.“ Es klang nicht anklagend, der Petu sagte es achtlos. Die Lieferungen an seine Stadt waren für ihn ein üblicher Ritus.

„Wahrscheinlich, weil sich das Pakaiwerk ohne Planung der Nivasi Drai hier entwickelt hat.“ Sanrako schenkte ihnen Wasser ein. „Wenn die Menschen damals nicht wussten, dass die Hada solche Dinge haben würden, dann konnten sie sie auch nicht auf die Liste der Dinge setzen, die sie schicken sollen.“ Er holte ein frisches Brot aus seiner Tasche. Sie brachen davon ab, verteilten auch gekochten Camol mit Djinga. Die rosafarbenen Krebse aus dem Fluss direkt vor der Hütte hatte Rota zum hellen Wasserwechsel gefangen und direkt gebraten - in der neuen Pfanne, die ihr liebstes Beutestück aus Ren Ima geworden war. Nach dem Atlasbuch.

„Vielleicht brauchten die Petu die Töpferdinge aber auch nicht und hatten genug in ihren Lagern“, überlegte sie. „Und als langsam alles ausging, hatten sie vergessen, dass wir solche Sachen machen.“ Äonen waren eine lange Zeit, tausende von Oiezyklen vielleicht. Manchmal wurden schon nach zwei Generationen Dinge vergessen, wie Rezepte oder gute Sammelstellen.

Juliano grinste verlegen.

„Was?“

„Wir machen Geschirr aus Glas“, sagte er. „Dafür brauchen wir keine gefüllten Lager.“

„Das Glasgeschirr würde ich gerne sehen“, sagte Sanrako.

„Wenn du mal in das Haus meiner Familie kommst, zeige ich es dir. Wir haben Schränke voll davon.“

„Warum so viel?“ Wite zog die Augenbrauen zusammen.

„Für Gäste.“

Bei den Hada brachten Besuchende selbst etwas mit, meist nicht nur Geschirr, sondern auch Speisen. Dadurch hatte die gastgebende Povar nicht so viel Arbeit. Aber bei den Petu arbeiteten die Servari und bei allem, was Rota bisher gehört hatte, schien es ihr so, als hätten die Defrizio keine Probleme damit, wenn Servari viel Arbeit hatten.

Agji rüttelte an den Fensterläden, als wolle sich das Lowa am Gespräch beteiligen. Dem Petu war es sichtlich unheimlich, der Sturm war in Ren Ima seiner Aussage nach nicht so deutlich zu spüren. Zumal dort der Wald nicht auch noch Geräusche machte. Er nahm Wites Tee dankend entgegen, den sie vor dem Schlafengehen reichte. Rota nahm ihn nicht, sie konnte immer und überall gut schlafen.

„Wird es eigentlich nicht auffallen, wenn du nicht zu Hause schläfst?“ Das hatte sich Rota schon öfter gefragt, denn bei den Petu herrschten strenge Regeln. Aber sie hatte den Gedanken immer wieder vergessen, weil Juliano in der Hinsicht keine Besorgnis gezeigt hatte und es bei ihr daheim nicht unüblich war, wenn Povari spontan woanders übernachteten.

Er winkte ab. „Ich bin erwachsen. Mein Vater schaut nicht in mein Zimmer und die Servari werden sich hüten, ihm etwas zu berichten, was ihn zornig machen könnte.“

Er gähnte und kurz darauf schlummerten alle friedlich ein. Rota lag noch eine Weile wach und freute sich darauf, nach dem Sonnenaufgang über die Bhagaruma Lief zurück in die Stadt zu gehen.

Zur nächsten Sonnenwanderung war sie als Erste wach. Wite und Sanrako lagen eng aneinandergekuschelt auf dem größeren Speni-Mos-Sack. Juliano hatte den zweiten für sich, den Kopf unter Kissen begraben, als hätte er sich zu verstecken versucht. Ungehemmt rüttelte Agji noch immer an den Fensterläden. Nur spärlich drang Licht durch die Ritzen.

Rota verließ die Hütte, um frisches Wasser aus der nahen Quelle zu holen. Es lagen eine Menge Äste herum, die der Sturm von den Bäumen gerissen hatte. Sie musste achtgeben, wohin sie trat, nutzte einen Stock, um Blätter und andere Haufen zu stupsen. Bei der Quelle hockte sie sich in den Windschatten eines Felsens. Dort konnte sie geschützt ihre Kleider ausziehen und kaltes Wasser über sich schöpfen.

„Ado, mein Kind.“ Idis kam den Weg entlang. Sie gesellte sich zu ihrer Tochter, um aus dem reißenden Wind zu treten. „Eine gute Idee.“

„Ado.“ Rota machte ihrer Mutter etwas Platz und reichte ihr das Bansarohr, mit dem sie das Wasser geschöpft hatte. Sie linste zum Felsen hinauf. „Wäre es nicht eine gute Idee, hier eine deiner Installationen anzubringen? Du weißt schon, der Strick mit den Bansarohren.“

Rota hatte die Konstruktion schon mehrfach bei anderen bewundert. Doch bisher war es praktischer gewesen, auf ihren Spährunden in einem Fluss zu baden oder das Wasserfass vor dem Haus ihrer Povar zu nutzen. Doch hier bei der neuen Hütte bot es sich an und das Prinzip war genial. Mehrere der Rohre wurden nebeneinander an einer Stange befestigt und so in den Strom gelegt, dass sie sich mit Wasser füllten und gleichzeitig von der Strömung unten gehalten wurden. Mittels eines Seils, an dem gezogen wurde, schwangen die Rohre herum und ergossen den Inhalt in die andere Richtung.

Idis besah sich den Felsen, überprüfte mit der Hand, wie stark das Wasser floss. „Das ginge hier, denke ich.“

„Und allzu weit habt ihr es auch nicht“, sagte Rota.

„Ein bisschen weiter, aber ja, die Kinder hätten daran große Freude.“

Sie schlossen ihre Reinigung ab und kehrten zur Hütte zurück. Rota ließ die Tür offen, auch wenn der Wind eifrig daran riss. Frische Luft begleitete sie ins Innere und weckte die Hada. Der Petu verkroch sich noch weiter unter seine Kissen. Er grummelte, hatte wohl keine ruhige Mondwanderung gehabt. Oder er schlief gerne lange. Das konnte Rota nicht genau sagen.

Sie richteten sich eine einfache Mahlzeit aus Mokiküchlein, die sie mit Mah übergossen. Binnen kurzer Zeit roch es herrlich süß und Juliano steckte seine Nasenspitze aus den Decken. Er sah verstrubbelt aus, Haare standen ihm vom Kopf, während der Rest sich noch im Zopf zu halten versuchte. Sein Gesicht war voller Kissenabdrücke. Wortlos setzte er sich mit einem Kissen im Arm zu ihnen. Rota reichte ihm ein Küchlein. Genussvoll schloss er die Augen. Wite reichte ihnen dazu Tee, der kräftig gezogen war und die Lebensgeister weckte.

„Wie ist der Plan für diese Sonne?“, fragte Sanrako.

„Ich gehe mit Velia wieder ins Haus der Nagoli. Andrea will einem anderen Dottori die Wirkung der Salbe vorführen.“

„Daf ift der Daktara“, nuschelte Rota mit vollem Mund.

Juliano sah sie entgeistert an.

„Waff?“

Mehr als hochgezogene Augenbrauen brachte er nicht zustande.

Rota schluckte und spülte mit dem Tee nach. „Wir werden noch einmal in das Hiro Gar gehen. Ich möchte die Sonnenwanderungsbücher durchsehen.“

„Ich habe ein paar aus anderen Bibliotheken hingeschafft“, verkündete Juliano stolz. „So werden wir noch mehr erfahren, von verschiedenen Petu, die sich die Mühe machten zu dokumentieren, was sie wissen.“

Rota sah ihre Mutter an. „Hast du bei dem Mechanismus schon etwas herausgefunden?“

Idis schüttelte den Kopf und nahm sich noch ein Küchlein. Der Mah tropfte ihr in den Handteller. Sie leckte ihn gründlich ab. „Ich denke, ich werde mir die Mauer am Cyanal angucken. Den Zugang suchen, den Sanrako beschrieben hat, und schauen, ob ich mit den Symbolen von der Karte vielleicht herausfinde, wie ich ihn öffnen kann. Nirm wird die Niambo aufsuchen und in ihren Unterlagen lesen.“

Rota fühlte einen Mosklumpen in ihrem Magen, wusste nicht so recht, ob sie sich unwohl bei ihrem Plan fühlte oder nur aufgeregt war. Vielleicht auch beides zugleich.

„Ich werde Vigat beschäftigen, sollte er zu Hause sein“, erklärte Sanrako. Er wollte auch etwas tun und nicht nur darauf warten, wann die Bhagaruma Lief zu holen war. „Wenn niemand da ist, kann ich Idis zur Hand gehen.“

Alle waren damit einverstanden. Sobald sie sich mit Stricken ausgerüstet hatten, für die Juliano Metalldinger mitgebracht hatte - Karabiner sagte er dazu -, machten sie sich auf den Weg zu ihren Missionen.

Sanrako holte die Bhagaruma Lief. „Und denkt daran, nicht zu trödeln“, schrie er. „Sobald das eine Gewicht das Ende des Seils erreicht hat, schaltet der Mechanismus automatisch um. Dann zerlegt sich die Brücke wieder.“