Sophie L. - Matthew Blake - E-Book

Sophie L. E-Book

Matthew Blake

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Beschreibung

Was, wenn eine Erinnerung dich das Leben kosten kann? Olivia Finn, Gedächtnisexpertin an einem Londoner Krankenhaus, erhält einen merkwürdigen Anruf aus Paris: Ihre Großmutter Josephine ist im berühmten Hotel Lutetia aufgetaucht und behauptet, sie heiße eigentlich Sophie und habe hier vor Jahrzehnten einen Mord begangen. Olivia reist sofort nach Paris, um sich um die scheinbar verwirrte Josephine zu kümmern. Doch diese besteht darauf, dass sie eine verlorene Erinnerung wiedererlangt hat und die Wahrheit sagt. Als Josephine wenig später ermordet wird, ist klar: Jemand möchte verhindern, dass die Vergangenheit ans Licht kommt. Olivia muss sich fragen: War ihre Großmutter wirklich eine Mörderin? Und was hat das Ganze mit Olivias eigenen traumatischen Erinnerungen zu tun? Der neue raffinierte Psychothriller von Matthew Blake, Autor des weltweiten Bestseller-Phänomens »Anna O.«

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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Matthew Blake

Sophie L.

Thriller

 

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

 

Über dieses Buch

 

 

Olivia Finn, Gedächtnisexpertin an einem Londoner Krankenhaus, erhält einen merkwürdigen Anruf aus Paris: Ihre Großmutter Josephine ist im berühmten Hotel Lutetia aufgetaucht und behauptet, sie heiße eigentlich Sophie und habe hier vor Jahrzehnten einen Mord begangen. Olivia reist sofort nach Paris, um sich um die scheinbar verwirrte Josephine zu kümmern. Doch diese besteht darauf, dass sie eine verlorene Erinnerung wiedererlangt hat und die Wahrheit sagt. Als Josephine wenig später ermordet wird, ist klar: Jemand möchte verhindern, dass die Vergangenheit ans Licht kommen. Olivia muss sich fragen: War ihre Großmutter wirklich eine Mörderin? Und was hat das Ganze mit Olivias eigenen traumatischen Erinnerungen zu tun?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Matthew Blake ist der Autor des weltweiten Bestseller-Phänomens »Anna O.«, das auch in Deutschland auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste stürmte. Sein Markenzeichen sind raffiniert konstruierte Thriller, die sich mit komplexen psychologischen Themen beschäftigen wie Verbrechen, die im Schlaf begangen werden (»Anna O.«), oder mit der Frage, ob wir unserer Erinnerung wirklich trauen können (»Sophie L.«). Matthew Blake studierte Anglistik in Durham und Oxford und arbeitete als Rechercheur und Redenschreiber für das britische Parlament.

 

Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über fünfundzwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im Sauerland.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »A Murder in Paris« bei HarperCollins Publishers Ltd, London

Copyright © MJB Media Ltd 2025

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main

Redaktion: Katharina Theml

Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

ISBN 978-3-10-491801-3

 

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Inhalt

Prolog

Erster Tag

1 Olivia

2 Olivia

3 Olivia

4 Myles

5 Olivia

6 Olivia

7 Olivia

8 Olivia

9 Olivia

10 Olivia

11 Olivia

12 Olivia

13 Olivia

14 Olivia

15 René

16 Olivia

17 Olivia

18 Olivia

19 Olivia

20 Olivia

21 René

22 Olivia

23 Olivia

24 Olivia

25 Sophie

26 Sophie

27 Sophie

28 Josephine

Zweiter Tag

29 Olivia

30 Olivia

31 Olivia

32 Olivia

33 Olivia

34 Olivia

35 Olivia

36 Myles

37 Olivia

38 Olivia

39 Olivia

40 Olivia

41 Josephine

42 Olivia

43 Olivia

44 Olivia

45 René

46 Myles

47 Olivia

48 Olivia

49 Myles

50 Olivia

51 Myles

52 Sophie

53 Sophie

54 Sophie

55 Josephine

56 Josephine

Dritter Tag

57 Olivia

58 Olivia

59 Olivia

60 Olivia

61 Olivia

62 Olivia

63 Olivia

64 Olivia

65 Olivia

66 Olivia

67 René

68 Sophie

69 Sophie

70 Josephine

71 Olivia

72 Olivia

73 René

74 Olivia

75 Olivia

76 René

77 Myles

78 Sophie

79 Josephine

Vierter Tag

80 Olivia

81 Myles

82 Olivia

83 Myles

84 Olivia

85 Olivia

86 Myles

87 Sophie

88 Sophie

89 Sophie

90 Olivia

91 Olivia

6 Monate später

92 Olivia

Prolog

Das Lutetia, Paris, 1945

»Schon wieder eine Leiche«, sagt der Portier. »Im ersten Stock, Zimmer 11.«

Er seufzt. »Mord oder natürlicher Tod?«

»Das ist Ihr Problem, nicht meins. Ich habe gesagt, Sie würden sich das ansehen.«

Er ist der Morde und Leichen überdrüssig. Zwar ist der Krieg vorbei, doch gestorben wird weiter. Er steht auf, verlässt sein provisorisches Büro und geht ins Foyer. Im Hotel Lutetia, dem Juwel der Rive Gauche, wimmelt es nur so vor Menschen. Sie drängen sich im Eingangsbereich, bevölkern den prächtigen Speisesaal, stehen auf den Stufen des großzügigen Treppenaufgangs und in den Fluren. Die Besatzungszeit ist nur noch eine Erinnerung. Oder ein Albtraum.

Jetzt tummeln sich in Paris amerikanische GIs, britische Verbindungsoffiziere und französische Widerstandskämpfer.

Doch niemand beachtet sie. Man sieht nur die Überlebenden. Die Überlebenden aus den Lagern erreichen in ihren Lumpen den Gare d’Orsay, völlig entkräftete Gestalten mit kahl geschorenen Köpfen. Das Grandhotel ist ihre neue zeitweilige Unterkunft. Sie sind wie Geister, die ins Land der Lebenden zurückkehren.

Er geht hoch in den ersten Stock. Hotelgäste stehen im Korridor herum, hoffen auf Informationen. Das Opfer ist eine junge Frau. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Tragisch, aber vieles ist nach dem Krieg in dieser Stadt tragisch. Er bückt sich und hält die Finger an den Hals der Toten, um den Puls zu fühlen.

Sie ist tot, eindeutig. Er prüft ihren Namen in den Unterlagen. Das Rote Kreuz will nicht, dass das Hotel als Sterbeort in den Akten steht, deshalb wird er angeben, die Frau sei auf dem Weg nach Paris gestorben, eine von vielen, die es nicht zurück in die Heimat geschafft haben.

Er verlässt Zimmer 11 und geht die eindrucksvolle Treppe des prachtvollen alten Hotels hinunter, vorbei an der neusten Gruppe Überlebender, die auf dem Weg zu ihren Zimmern sind. Früher war dieses Hotel weltberühmt. Gäste belagerten die Bar, dinierten im überfüllten Restaurant, hatten leidenschaftliche Affären in den Suiten und diskutierten Zigarre rauchend in der Lounge. Er erinnert sich an die Magie dieses Ortes, bevor der Krieg ausbrach. Paris war immer die Stadt der Lichter. In den letzten fünf Jahren hat sich das geändert. Zu lange war es eine Stadt der Dunkelheit.

Er kehrt in sein Büro zurück, füllt das Formular aus und drückt den Stempel darauf. In der Mittagspause macht er einen Spaziergang am linken Seine-Ufer, um den Kopf freizubekommen. Mit zitternder Hand raucht er eine Zigarette, Tränen brennen ihm in den Augen. Mächtige Gefühle, die er sich nicht erklären kann, überwältigen ihn.

So war er nicht immer. Wie das Hotel Lutetia wirkt die Pracht der Vergangenheit jetzt geisterhaft. Hier ist jeder auf die eine oder andere Art ein Überlebender.

Paris wird nie mehr so sein wie zuvor.

Auch er nicht.

Erster Tag

Gegenwart

1Olivia

Der Anruf kommt zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt.

Ich bin gerade damit beschäftigt, TJ für die Schule fertig zu machen. Wie immer weigert er sich, seine Socken anzuziehen, weil sie angeblich kratzen, dann will er nicht in seine Schuhe schlüpfen, und ob seine Hausaufgaben in Erdkunde schon im Rucksack sind, frage ich besser gar nicht. Wir sind nur zu zweit, und TJ hat auch als Sechsjähriger genug Energie, um den morgendlichen Ablauf in einen Wrestling-Kampf zu verwandeln. Manchmal wünsche ich mir, The Rock würde bei uns wohnen. Mit Sicherheit hätte der das Schuhthema in glatten dreißig Sekunden abgehandelt. Ich bin aber nun mal allein. Auch wenn es sich immer anfühlt, als würde ich die Arbeit von zweien machen.

Irgendwann kann ich mir TJ auf der Treppe schnappen und schaffe es, ihm die Schuhe anzuziehen. Bevor er sich wehren kann, drücke ich schnell die Klettverschlüsse zu. Da sehe ich, dass seine eselsohrigen Hausaufgaben gefährlich nah am Marmeladenglas auf dem Küchentisch liegen. Er hat den Kontinent Asien mit »Afrika« beschriftet und Europa zu Nordamerika erklärt. Zu spät. Nur die obere Ecke klebt, ich wische schnell mit dem Finger darüber und stecke den Zettel in seinen Rucksack. Letzten Endes schleppe ich das verdammte Teil wieder selbst.

»So, los jetzt, hopp, hopp!«

TJ singt vor sich hin, eine verstümmelte Version von Dua Lipa und Taylor Swift, die er auf dem Weg zur Schule im Autoradio gehört haben muss. Ich glaube nicht, dass meine Mutter sich mit mir damals so aufgerieben hat. Zu dieser Zeit saß sie im Morgenmantel herum und rauchte eine von ihren sechzig Zigaretten am Tag. Ihrer Meinung nach war traditionelle Kindererziehung völlig out, eine überholte Methode, nichts für Freigeister wie sie. Ich musste selbst dafür sorgen, dass ich rechtzeitig zur Schule kam. Jetzt stehe ich in meiner ordentlichen Doppelhaushälfte in einem absolut durchschnittlichen grauen Londoner Vorort – Redbridge, wen es interessiert, weder glamourös wie Islington noch angesagt wie Camden; die Wörter »Redbridge« und »cool« sind noch nie zusammen in einem Satz aufgetaucht – und halte meinem singenden sechsjährigen Sohn die Tür auf. Ich bin Mutter, Chauffeurin und nicht zuletzt Psychotherapeutin und Gedächtnisexpertin.

Ich schließe die Haustür hinter mir zu. TJ hüpft zum Wagen. Während ich unseren klapprigen alten Ford Mondeo anlasse, schaue ich auf die Uhr. Das Radio geht an. Uns bleiben noch sechs Minuten für eine zehnminütige Fahrt. Ich habe unser Morgenprogramm wie eine militärische Übung durchgeplant, warum fehlen an Schultagen trotzdem immer mehrere Minuten? Ich stehe weit vor sieben Uhr auf, um mir zehn Minuten Dehn- und Kraftübungen sowie ein bisschen Me-Time zu gönnen. Mein Ziel, bis um halb neun vor der Schule zu stehen, ist trotzdem so unwahrscheinlich zu erreichen, wie die hundert Meter unter zehn Sekunden zu laufen. Ich begreife es einfach nicht, so wenig wie Algebra oder das perfekt gegarte Risotto.

»Muuuuuuum …«

Noch so etwas, das TJ sich angewöhnt hat, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Er weiß, dass es mich nervt, wenn er meinen Namen so in die Länge zieht, gerade deshalb hört er nicht damit auf. Er hat es von Kyle gelernt, seinem Vater und meinem Ex, der sich gern damit hervortut, Namen anderer Menschen mit übertriebener Betonung auszusprechen.

Gerade will ich TJ zurechtweisen, da klingelt das Handy über die Freisprechanlage. Eine fremde Nummer. Ich erwarte keinen Anruf. Es könnte allerdings eine Patientin oder jemand aus dem Krankenhaus sein. Ich nehme das Gespräch an, bringe TJ zum Schweigen und stelle Sabrina Carpenter mit ihrem »Please Please Please« im Radio leiser.

»Hallo?«, melde ich mich. »Hier Dr. Finn.«

Normalerweise ist dies die einzige Möglichkeit, TJ ruhig zu bekommen. Diese andere Person namens »Dr. Finn« hat ihn schon immer fasziniert. Dr. Finn sieht aus und klingt wie seine Mutter, benutzt aber ganz andere Wörter und sagt ihm nicht ständig, er solle nichts Klebriges anfassen oder sich die Hände waschen. In TJs Kopf bin ich die Pepper Potts von Dr. Finns Iron Man, eine effiziente persönliche Assistentin, die Nachrichten weitergibt und alles am Laufen hält.

»Spreche ich mit Dr. Olivia Finn vom Zentrum für Gedächtnisstörungen am Charing Cross Hospital?«

»Ja. Wer ist da?«

»Ich rufe an aus dem Hotel Lutetia in Paris.«

Das erklärt den Akzent und die ungewöhnliche Telefonnummer. Zuerst halte ich es für einen Scherz, trotz der ernsten Stimme. Ich habe ein heimliches Laster, und zwar nehme ich gerne an Verlosungen teil, bei denen man beispielsweise einen Kurzurlaub in den Cotswolds oder eine fünftägige Kreuzfahrt im Mittelmeer gewinnen kann. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, irgendwo mitgemacht zu haben, wo es um Paris und das Hotel Lutetia ging. Ich bin Halbfranzösin, habe aber noch nie im Lutetia übernachtet. Dort kostet selbst eine Besenkammer im fünften Stock eine vierstellige Summe pro Nacht, was mein Budget deutlich überschreitet. Ich habe zwar eine Verbindung zum Lutetia, aber das ist etwas anderes. Und eigentlich habe nicht ich die Verbindung, sondern meine Verwandtschaft.

Ich denke an meine Arbeit. Könnte der Anrufer ein ehemaliger Patient sein, der meine Visitenkarte behalten hat? Oder ein alter Kollege? Doch eine Psychotherapeutin ist kein Software-Ingenieur aus dem Silicon Valley, und niemand, mit dem ich zusammenarbeite, hat das nötige Kleingeld, um im berühmtesten Fünfsternehotel auf der Rive Gauche zu übernachten.

Ich schaue auf die Uhr. In Paris ist es eine Stunde später als in London. Wenn ich Mutter in Paris wäre, käme mein Sohn jetzt auf jeden Fall zu spät zur Schule. Andererseits, wenn ich eine Pariserin wäre, hätte ich eine Taille wie eine Selleriestange und eine charmant unbekümmerte Einstellung zu schulischen Zeitvorgaben. Wahrscheinlich hätte ich schon zwei Espresso intus und wäre auf dem Weg zu meinem heißen Geliebten, der ein paar Jahre jünger ist und auf einen sexy Namen wie Gabriel oder Jean-Luc hört. Stattdessen habe ich um halb zehn einen Termin mit einem Patienten namens Alan, der über quälende Erinnerungen an den Schwimmunterricht in der Schule sprechen will. Glamour ist mein zweiter Vorname.

»Tut mir leid«, sage ich, »aber ich bin in London und bringe gerade meinen Sohn zur Schule. Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich Sie zurückrufe.«

Der Mann am anderen Ende überlegt. »Kennen Sie eine Frau namens Sophie Leclerc?«

Ich habe in meinem Leben schon viele Menschen kennengelernt. An die Namen meiner Patientinnen und Patienten erinnere ich mich, solange sie bei mir in Behandlung sind. Danach werden sie zu Akten. Ich habe mal gelesen, dass das menschliche Gehirn nur rund hundertfünfzig engere Beziehungen bewerkstelligen kann. Alles darüber hinaus funktioniert nicht. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, schon fünfzig Beziehungen sind mehr als genug.

»Nein«, erwidere ich. »Nicht dass ich wüsste. Hören Sie, ich rufe Sie zurück …«

»Madame Leclerc sitzt im Foyer des Lutetia hier in Paris. Sie ist völlig aufgelöst und beharrt darauf, dass nur Sie ihr helfen können.«

»Das tut mir leid, da müssen Sie sich verwählt haben. Ich bin in London, nicht in Paris. Und ich kenne keine Sophie Leclerc.«

Ich schiele zu TJ hinüber. Er hat jedes Interesse an Dr. Finn und dem Anrufer verloren und spielt mit dem Chelsea-Anhänger an seinem Rucksack herum. Immer wieder drückt er den Daumen unter das spitze Ende des Schlüsselrings. Ich warte auf das Geschrei, das Blut, die Tränen. Dieser Morgen entpuppt sich als mittlerer Albtraum. Und es soll noch schlimmer kommen.

»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll«, erwidert der Anrufer. »Aber die Frau, die im Foyer sitzt, nun ja, sie …«

Ich will auflegen, damit ich endlich meinen Sohn zur Schule bringen kann.

Dann spricht er es aus:

»… sie sagt, sie sei Ihre Großmutter.«

2Olivia

Gran?

Das erklärt zumindest die Verbindung nach Paris. Ich habe einen absolut englischen Namen, besitze aber zwei Reisepässe. Meine Großmutter mütterlicherseits ist so französisch, wie man nur sein kann; sie gehört zu den schon erwähnten Pariserinnen mit Wespentaille und lockerem Zeitverständnis, wenn es um Termine geht. Als Jugendliche in London starrte ich oft aus dem Fenster in den Regen und stellte mir mich in Paris vor, wo ich am linken Ufer der Seine entlangbummelte. Die französische Olivia trank Café au Lait und diskutierte über Existenzialismus, sie verliebte sich schnell und fertigte abends eindrucksvolle Aquarelle an. Die von mir idealisierten Franzosen waren deutlich charmanter als die pickeligen Kevins, Mikes und Andys mit ihren Zahnklammern an der Highschool Oaks Park. Mein Pariser Traum war deutlich cooler als Biologieunterricht und Chorproben in England.

»Könnten Sie die Frau bitte beschreiben?«, frage ich.

»Schlank, mittelgroß, graue Haare, Pferdeschwanz, eine Jacke in einer Art japanischem Stil. Da könnte ich aber auch falschliegen.«

Ich seufze. Jetzt ist es so weit. Es ist passiert. Dies ist der Anruf, den jede oder jeder Verwandte am meisten fürchtet. Gran ging es schon länger nicht gut, aber ich habe nicht sehen wollen, wie sehr sich ihr Zustand verschlimmert. Einen Sechsjährigen mit Schuhvermeidungssyndrom großzuziehen, ist schon schwer genug. Sich noch dazu um eine Sechsundneunzigjährige zu kümmern, die sich an nichts erinnern kann, ist der schnellste Weg zum Herzinfarkt. Ich hätte gern jemanden, der mir hilft. Aber Kyle hat seine »Neue«, und als Mum starb, war ich noch ein Teenager. Außer mir gibt es niemanden.

»Klingt ganz nach Gran«, sage ich. »Aber sie heißt nicht Sophie Leclerc.«

»Wie bitte?«

»Meine Großmutter heißt nicht Sophie Leclerc. Sie heißt Josephine. Josephine Benoit.«

Normalerweise spreche ich den Namen nicht mit so viel Nachdruck aus. Er ist mein einziger Berührungspunkt mit der großen weiten Welt. Insgeheim bin ich stolz darauf. Früher an der Schule konnte ich damit nicht groß angeben, denn Gran ist Malerin, nicht Mittelstürmer bei Man United oder Halbfinalistin in einer Talentshow. Aber die Enkelin einer der weltbesten Porträtmalerinnen zu sein, hat so seine Vorteile. Am anderen Ende folgt eine kurze Pause, als würde der Anrufer die verwirrte alte Dame in neuem Licht sehen.

»Wie die Malerin?«, fragt er. »Diejenige, die das Porträt im Foyer des Lutetia gemalt hat? Das Bild, unter dem sie gerade sitzt?«

Da hätten wir es. Seit den 1960er Jahren ist Grans berühmtestes Werk die große Attraktion im Foyer des Hotels Lutetia. Sie hat noch andere Porträts gemalt, alle aus dem Krieg, aber dieses wurde so richtig bekannt. Wenn die Gäste durch die Drehtür kommen, erblicken sie eines der bekanntesten Pariser Porträts seit Kriegsende. Es hängt auf der linken Seite, kurz vor der Rezeption; Touristen posieren davor für Fotos. Die meisten wissen wahrscheinlich nicht, wer es gemalt hat oder was es zu bedeuten hat. Dennoch ist es sehr bekannt geworden. Vor kurzem ist es auf TikTok viral gegangen. Ich habe versucht, Gran zu erklären, was der Ausdruck bedeutet.

»Ja. Aber nicht wie die Malerin. Sie ist es selbst. Und sie heißt auf jeden Fall Josephine und nicht Sophie.«

»Entschuldigung. Sie hat gesagt, sie heiße Sophie. Und dass ich diese Nummer anrufen und mit Dr. Olivia Finn sprechen solle.«

»Verstehe.«

Tue ich wirklich. Selbst Menschen, die nichts von Kunst verstehen, wissen eins über Gran: Sie lebt völlig zurückgezogen. Sie ist berühmt dafür, nicht berühmt sein zu wollen. Grans Einsiedlerdasein entpuppte sich als ihr großes Alleinstellungsmerkmal. Nur meine Mutter und ich kennen die wahre Gran. Dem Rest der Welt bleibt nur Spekulation.

»Können Sie herkommen und Ihre Großmutter abholen?«

»Wie schon gesagt, ich bin in London«, wiederhole ich. »Ich bringe gerade meinen Sohn zur Schule.«

»Sie kann nicht hier im Foyer sitzen bleiben, auch wenn sie das Porträt gemalt hat.«

Ich schalte in den Dr.-Finn-Modus um. Ein Aspekt meines Berufs als Psychotherapeutin besteht darin, genau darauf zu achten, was andere sagen. Ich rufe mir die Worte des Anrufers ins Gedächtnis.

Ich rufe an aus dem Hotel Lutetia in Paris.

Er hat nicht gesagt, dass er im Hotel arbeitet oder an der Rezeption steht. Das habe ich nur angenommen.

»Arbeiten Sie im Hotel Lutetia?«

»Nein«, erwidert der Mann. »Mein Name ist Capitaine Vidal. Ich bin bei der Pariser Abteilung der DNPJ, der Nationaldirektion der Kriminalpolizei.«

Das klingt nicht gut. Allmählich wird mir klar, wie ernst das hier ist. Offenbar hat Gran ihre Kunst mit dem Leben verwechselt. Wie ein Kind, das zum ersten Mal woanders schläft und nachts orientierungslos im Haus herumtappt. »Warum wurde die Polizei eingeschaltet?«

»Dazu kommen wir noch.«

»Gran wohnt ungefähr zehn Minuten vom Lutetia entfernt. Ihre Pflegerin kommt jeden Morgen um sieben Uhr vorbei und schaut nach ihr.«

»Sie hat doch bestimmt Freundinnen hier in Paris, die sie abholen können, oder?«

Nein, möchte ich sagen. Eremiten haben keine Freunde. Sie haben nur Verwandte, und ich bin die letzte, die noch lebt. Ich habe sogar schon mehrmals erwogen, nach Paris zu ziehen, aber Gran legt großen Wert auf ihre Unabhängigkeit. Sie hasst es, wenn ich mich einmische. Wenn man schon das Wort »Pflegekraft« in den Mund nimmt, erntet man einen bösen Blick von ihr.

»Ihre Freundinnen sind entweder alt oder tot. Mit Mitte neunzig ist das leider eine Berufskrankheit.«

»Bleiben nur Sie.«

Letztlich ist mir längst klar, dass ich noch heute nach Paris fahren werde, um diesen Schlamassel in Ordnung zu bringen. So ist das immer bei Töchtern beziehungsweise Enkeltöchtern und älteren Verwandten, oder? Ich hatte mal angenommen, dass mein Leben mit Ende dreißig darin bestände, Geburtstagskuchen zu backen und herrlich teure Weinflaschen zu entkorken, während ich auf meinen wunderschön gestalteten Innenhof schaue. Dass ich die geölten Terrassendielen betrachten, mich an den Feuerkorb setzen und mit alten Freunden und charmanten neuen Nachbarn draußen essen würde.

»Ich muss mir was überlegen. Kann sich das Hotel um meine Großmutter kümmern, bis ich da bin?«

»Ich frage mal nach.«

»Danke.« Ich schaue auf die Uhr. TJ kommt schon jetzt zu spät zum Unterricht. Jeden Moment beginnt die morgendliche Schulversammlung, ein Lehrer mit Klemmbrett steht am Tor und hakt alle Schüler ab. Dieser Aufpasser jagt nicht nur TJ Angst ein, auch ich habe riesigen Respekt vor dem Mann. Ich könnte ihm sagen, dass meine demente künstlerisch tätige Großmutter der wahre Grund dafür ist, dass ich zu spät dran bin. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir glauben würde.

»Was will Gran denn in dem Hotel?«, frage ich. »Warum ist sie überhaupt da?«

»Da wird es leider noch komplizierter«, sagt der Kriminalbeamte. »Wie sich herausstellte, wollte sie ein Verbrechen gestehen.«

3Olivia

Ich bin völlig bestürzt, doch Capitaine Vidal gibt mir keine Möglichkeit, nachzuhaken. Das gefällt mir überhaupt nicht. Es fühlt sich an, als würde die Vergangenheit an die Oberfläche gezogen.

»Wie alt ist Ihre Großmutter?«, will er wissen.

Am liebsten würde ich ihm sagen, dass man Damen nicht nach dem Alter fragt, aber mir ist die Lust zum Scherzen vergangen. Gran gehört zu der Kriegsgeneration, die bis heute gern ihr wahres Alter verschweigt und sich bei Bedarf ein paar Jährchen jünger oder älter macht. Offiziell ist sie sechsundneunzig.

»Sie ist über neunzig«, sage ich diplomatisch.

»Das heißt, am Ende des Zweiten Weltkriegs müsste sie schon erwachsen gewesen sein?«

Das brauche ich gar nicht nachzurechnen. Capitaine Vidal kennt offensichtlich Grans Namen, aber hat keine Ahnung von ihrem Werk. Sie ist berühmt für ihre Porträts aus dem besetzten Paris und der Kriegshölle. Ich weiß nicht, ob sie je versucht hat, etwas anderes zu malen, erfolgreich war sie damit jedenfalls nicht.

»Mehr oder weniger.«

»Laut Aussage des Hoteldirektors hat Ihre Großmutter behauptet, Sophie Leclerc zu heißen, und Zugang zu Zimmer 11 verlangt.«

»Gran hat schon seit längerem Gedächtnisprobleme. Sie ist offensichtlich verwirrt. Nach Ihren Schilderungen sogar sehr. Sie verwechselt die Kunst mit dem wirklichen Leben.«

»Ist das eine offizielle Diagnose?«

An der Stelle wird es kompliziert. »Meine Großmutter hasst Ärzte und Untersuchungen. Sie hat immer gesagt, dass sie gar nicht wissen will, was mit ihr nicht stimmt. Aber es geht ihr schon seit Jahren nicht mehr besonders gut.«

Keine von uns traut sich, das D-Wort auszusprechen. Es ist verflucht, wie das K-Wort. Es ist immer einfacher, so etwas »altersbedingte Gedächtnislücken« zu nennen. Ich spreche berufsbedingt ständig über Gedächtnisprobleme, und selbst ich kann manchmal nicht aus meiner Haut.

»Sie haben immer noch nicht erzählt, was passiert ist.«

Capitaine Vidal hustet. »Vor ungefähr einer Stunde betrat Ihre Großmutter das Foyer des Hotel Lutetia und sagte, sie heiße Sophie Leclerc. Dann legte sie ein Geständnis ab.«

Ich bin vor der Schule angekommen. Sie liegt direkt neben der Highschool Oaks Park, die ich früher besucht habe. TJ hat den Rucksack auf den Knien. Ich beuge mich zu ihm hinüber, umarme ihn unbeholfen und flüstere ihm zu, er solle schnell zur Schulversammlung laufen. Ich habe Schuldgefühle, ihn wieder nicht rechtzeitig hergebracht zu haben, und frage mich, ob ich meiner Mutter nicht doch ähnlicher bin als gedacht. Sie sagte mal, zu spät zu kommen, sei ihre Form des Protests gegen den späten Kapitalismus und den militärisch-industriellen Komplex. Das behauptete sie auch, wenn sie mich aufforderte, den Müll rauszubringen.

Ich konzentriere mich wieder auf den Anrufer. Gran hat ein Verbrechen gestanden? Sie ist ja so einiges, aber gewiss nicht kriminell. Obwohl sie Künstlerin ist, ist sie ziemlich vernünftig. Doch hochrangige Kriminalbeamte der französischen Polizei rücken nicht wegen eines Ladendiebstahls aus oder weil sich ein älterer Mensch im Luxushotel kurz ausruhen will. Das hier scheint ernster zu sein.

»Was für ein Verbrechen hat sie denn gestanden?«, frage ich.

Vidals Stimme ist ruhig, aber unheilvoll. Sie macht mir Angst.

»Mord«, sagt er schließlich.

4Myles

Im Schlaf hört Myles das Telefon klingeln.

Er hofft, dass er nur träumt, aber greift danach, wischt übers Display. Bitte nicht heute …

»Myles Forsyth.«

Nein, es ist kein Traum. Sein Chef klingt, als hätte er schon den zweiten Espresso getrunken, ein anstrengendes Work-out hinter sich und nebenbei japanische Grammatik gelernt.

»Myles, ich habe eine pikante Information für Sie. Entschuldige die Störung beim Frühstück, aber ich weiß, dass es Sie interessiert.«

Myles sieht auf die Uhr. Er hat heute nicht einmal Dienst. Der Anruf kommt unvorhergesehen, ungeplant, spontan – alles Wörter, die Myles hasst. Doch das gehört jetzt zu seiner Arbeit dazu, da er die gemeinsamen britisch-französischen Ermittlungen zum Tod von Ingrid Fox leitet. Immerhin muss er keine zusätzlichen Aufgaben mehr übernehmen, so wie letztes Jahr. Dieser Auftrag reicht ihm vollkommen aus.

»Morgen, Chef. Ich bin ganz Ohr.«

Den heutigen Tag hatte er nur für sich reserviert. Er hat seine Aktivitäten genau aufgelistet, konnte sich gerade noch zusammenreißen, sie nicht auszudrucken und zu laminieren. Er liebt Ordnung. Die Welt liebt das Chaos. Warum können andere nicht auch so organisiert sein wie er?

»Capitaine Vidal vom DNPJ hat sich gerade bei mir gemeldet«, sagt sein Chef. »Er glaubt, es gibt vielleicht eine neue Entwicklung im Fox-Fall. Er hat Ihnen eine E-Mail mit den Einzelheiten geschickt, auch wenn es erst mal nur eine kurze Meldung ist, aber vielleicht interessiert es Sie ja, schließlich leiten Sie die Ermittlungsgruppe. Es geht wieder um die Teilnehmer des Prozesses, einschließlich Olivia Finn. Ich gebe das nur weiter.«

Der magische Name lässt ihn innehalten: Olivia Finn. Gleichzeitig macht er ihm Angst. Wenn je herauskommt, was Myles getan hat, wird er alles verlieren. Die Aufgabe als leitender Ermittler hat er erst nach Ingrids Tod übernommen. Sie starb zu Hause, verblutete nach einem vermeintlichen Selbstmord. Doch die Obduktion legte nahe, dass eine andere Person beteiligt gewesen sein mochte und der Selbstmord vielleicht eine Inszenierung war. Myles hat schon viele Fälle bearbeitet, aber dieser besondere will ihn nicht loslassen, und zwar nicht nur aus beruflichen Gründen. Er will die Antworten finden und die Akte schließen. Aber er will nicht zu viel darüber nachdenken, genauso wenig wie über die Geschehnisse im letzten Jahr und wie stark er bei seiner Suche nach Gerechtigkeit die Vorschriften strapaziert hat.

Damals ist er davongekommen. Jetzt darf er keinen Fehler machen.

Eigentlich wollte Myles heute den lieben Onkel spielen und seine Schwester Laura mit ihren beiden Kindern besuchen. Genau genommen ist sie nicht seine leibliche Schwester, aber im Pflegesystem wurde sie so genannt, und seitdem stehen sich die beiden nahe. Myles ist jetzt ehrenamtlicher Onkel.

Vielleicht kann er den Spielepark und das Kino weglassen und rechtzeitig zu Pizza und Eis zurück sein. Auch wenn das Eis nichts für ihn ist. An Neujahr hat er sich spontan vorgenommen, keinen Zucker mehr zu essen. Seitdem bereut er es.

»Okay, danke für das Update. Ich kümmere mich darum.«

Das Gespräch wird beendet. Myles schaut in seine E-Mails und sieht die Nachricht von Capitaine Vidal. Während Myles den Fall leitet, ist Vidal die Ansprechperson auf französischer Seite. Myles liest von Josephine Benoit, Dr. Finn, dem Lutetia, Zimmer 11 und dem Geständnis eines Mordes. Er stellt sich Lauras Gesichtsausdruck vor, wenn er ihr heute wieder wegen der Arbeit eine Absage erteilen muss. Nichts hasst er mehr, als sie und ihre Kinder zu enttäuschen. Okay, die wichtigen Sachen bekommt er schon hin – rechtzeitig Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten besorgen, bei einer Tischtennispartie oder einer Runde Monopoly mitspielen –, doch wenn sie groß sind, erinnern sich Kinder an die Kleinigkeiten. Er geht noch mal durch, was Vidal in seiner E-Mail geschrieben hat.

Olivia Finn. Paris. Wiedergewonnene Erinnerungen.

Still und stumm schwebt darüber natürlich Louis de Villefort, Olivias Mentor. Womit er wieder bei Ingrid Fox wäre. Nein, er muss sich um die Sache kümmern. Vielleicht ist es nichts, aber das Risiko kann er nicht eingehen. Es ist sein erster wirklich großer Fall.

Myles zögert. Er hätte jetzt gern einen Saft oder einen Proteinshake. Am Vorabend ist er erst spät heimgekommen, hat den Rest Salat im Kühlschrank ignoriert und stattdessen an einem enttäuschenden Nudelauflauf mit Hühnchen und Schinken herumgepickt. Sein Magen zieht sich zusammen. Die Waage heute wird ihn fertigmachen. Er fühlt sich schon wie ein Balletttänzer, dem im Traum ein halber Apfel oder ein Löffel körniger Frischkäse erscheint.

Myles überlegt, wie er das, was er sagen muss, bestmöglich verpacken kann. Ihm fällt nichts ein. Er wählt die Nummer von Laura und stellt sich ihr vertrautes Gesicht vor. Du lässt mich im Stich, du lässt die Mädchen im Stich, du lässt dich selbst im Stich.

»Ein Anruf so früh am Morgen?«, sagt sie. »Das hat nichts Gutes zu bedeuten, oder?«

Er beichtet es ihr, mit den üblichen Entschuldigungen.

»Ich versuche, zum Eis zurück zu sein.«

»Welches Eis?«

»Ich versuche, rechtzeitig zurück zu sein, damit ich da bin, wenn du und die Mädchen Eis essen. Dann kann ich mir Gedanken über die Vorzüge gesunder Ernährung machen.«

»Klingt schon besser.«

Grinsend legt Myles auf, dann geht er duschen. Während er sich einseift, wandern seine Gedanken zu dem Fall und den Ereignissen nach dem Prozess.

Ingrid Fox hatte schockierende Anschuldigungen über ihre Zeit als Patientin von Louis de Villefort am Quai Voltaire in Paris öffentlich gemacht. Kurz vor ihrer Aussage im Verleumdungsprozess wurde sie tot zu Hause gefunden.

Wurde Ingrid ermordet, oder nahm sie sich selbst das Leben?

Vielleicht bekommt er heute die Antwort auf diese Frage.

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Manchmal kann ich kaum glauben, wie sehr sich alles in so kurzer Zeit verändert hat. Es ist noch nicht lange her, da saß ich mit TJ im Fisherman’s Cottage und trank heiße Schokolade. Da hatte ich Tom noch nicht kennengelernt, der Prozess lag noch vor mir, Gran war in Paris und konnte sich an alles erinnern. Sicher gab es Probleme, aber die waren nicht mehr als ein Steinchen im Schuh. Dann ging es bergab.

Der Prozess veränderte alles.

Ich rufe im Zentrum für Gedächtnisstörungen an und sage meine Termine für diesen Tag ab, fahre nach Hause und beginne zu packen. Ich kann nicht glauben, dass Gran etwas mit einem Mord zu tun haben soll. Ich schreibe Kyle eine Nachricht, erkläre, was passiert ist, und suche die schnellste Verbindung nach Paris heraus. Ich buche ein Ticket für den nächsten Eurostar von St Pancras. Beim Packen schiele ich zu den Bücherregalen in meinem Schlafzimmer hinüber und registriere die unterschiedlichen Ausgaben von Memory Wars. Ich habe das Buch geschrieben, während ich mit Tom zusammen war. Oft saß er mit seinen strubbeligen Haaren da, die Brille vorn auf der Nase, einen Becher English-Breakfast-Tee neben sich, vapte wie ein Teenager und malte Hieroglyphen an den Rand. Er verdrückte Unmengen von Schokokeksen und beseitigte immer alle Krümel. Er war total widersprüchlich, in allem.

An manchen Tagen beginnt und endet alles mit Tom.

Nachdem ich gepackt habe, bestelle ich mir ein Uber, dann verlasse ich das Haus und wähle unterwegs Louis’ Nummer. In der Zeit vor dem Prozess haben wir fast jede Woche miteinander gesprochen. Jetzt nur noch einmal im Monat. Das Telefon klingelt ewig, bis seine treue persönliche Assistentin Charlotte Fouquet sich meldet. Sie hält die psychotherapeutische Praxis von Louis am Quai Voltaire am Laufen. Ihre Stimme hat einen schönen Singsang.

»Olivia?«

»Hi, Charlotte, entschuldigen Sie, dass ich Sie ohne Vorwarnung anrufe, aber es ist was mit meiner Großmutter. Ich wollte, dass Louis und Sie es als Erste erfahren. Offenbar gab es heute Morgen einen Zwischenfall im Hotel Lutetia.«

Charlotte wird munter. So ist es immer, sobald der Name ihres Chefs fällt. Louis’ Lebenslauf könnte ohne weiteres von Hollywood verfilmt werden. Er war ein Held des französischen Widerstands und wurde nach dem Krieg ein wegweisender Psychotherapeut. Er wurde an der Sorbonne ausgebildet; seine ersten Patienten waren Überlebende aus den Konzentrationslagern, die nach der Rückkehr nach Paris im Lutetia untergebracht wurden – eine typisch unkonventionelle Nachkriegskarriere. Später gründete Louis seine Praxis, die zu ihrer besten Zeit über die Grenzen Frankreichs Berühmtheit erlangte, bis er vom Alter eingeholt wurde und sich aus der Öffentlichkeit zurückzog.

Er sieht sogar gut aus, wie eine Mischung aus George Clooney und dem letzten Zaren von Russland. Mittlerweile ist er über neunzig, aber immer noch lässt er sich jeden Abend seine Kleidung rauslegen; er legt großen Wert auf gutes Handwerk, und wenn er sich mal in der Öffentlichkeit zeigt, ist er wie aus dem Ei gepellt. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit; er war der Grund, warum ich in seine Fußstapfen trat und Psychologie studierte. Gran ging oft mit mir zum Tee in Louis’ Luxusapartment am Quai Voltaire, wo sich auch die Praxis befindet. Während sich Louis und Gran unterhielten, spielte ich mit seinem Sohn Édouard, den er erst im mittleren Alter bekam.

In vielerlei Hinsicht war das eine ganz andere Welt als in unserer Doppelhaushälfte in Redbridge. Als meine Mutter dann starb und ich aus der Spur geriet, nahm mich Louis unter seine Fittiche und half mir, wieder Sinn im Leben zu finden. Ich ließ London zurück, studierte an der Sorbonne und ging zu täglichen Sitzungen in sein Behandlungszimmer, wo er mich langsam wieder aufbaute. Er half mir, Erinnerungen an Mums Tod auszugraben und mich dem Trauma zu stellen, anstatt es zu verdrängen. Bis heute bin ich ihm unglaublich dankbar dafür.

»Was für einen Zwischenfall?«, fragt Charlotte.

Das Uber ist da. Ich vergleiche das Kennzeichen mit dem in der App angegebenen und komme zu dem Schluss, dass der Fahrer keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben darstellt. Ich setze mich auf die Rückbank.

»Sie hatte eine Art Zusammenbruch. Ihr Gedächtnisverlust wird offensichtlich immer schlimmer. Ich fahre jetzt im Eurostar rüber, um mich um sie zu kümmern.«

Grans Geständnis und die Möglichkeit, dass sie jemanden umgebracht haben könnte, erwähne ich nicht. Der Gedanke ist abstrus, ich will Gran nicht noch mehr kompromittieren. Es könnte sein, dass sie unter ihrem eigenen Gemälde sitzt und es mit ihrem Leben verwechselt, dennoch ist und bleibt sie eine stolze Französin aus einer Generation, die keine Schwächen zugibt.

»Ich hatte so einen selbstgefälligen Wichser von der Kripo am Ohr, der mir die Hölle heißgemacht hat, als wäre Gran eine Verbrecherin«, sage ich. »Jetzt denke ich, ich hätte sie öfter besuchen sollen. Wahrscheinlich wollte ich mich nicht damit beschäftigen, dass es so kommen könnte. Dabei waren alle Anzeichen da. Gran muss offiziell untersucht werden. Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen.«

Charlotte hat vor allem eins: eine Stimme, die perfekt fürs Telefon ist. Sie kann Mitgefühl hörbar machen. »So ein Blödsinn«, sagt sie. »Ihre Großmutter kann von Glück sagen, Sie zu haben. Jeder versucht, den Gedächtnisverlust bei nahestehenden Menschen zu verdrängen, aus Angst, ihn irgendwann bei sich selbst zu bemerken.«

Sie hat natürlich recht. Tagein, tagaus behandele ich Menschen mit Gedächtnisstörungen. Ich kompartmentalisiere wie die meisten Mediziner. Ich kann das ganze Elend nicht jeden Tag mit nach Hause nehmen und dann am Morgen fröhlich aufstehen. Das schafft niemand.

»Ich wollte, dass Louis und Sie es als Erste erfahren«, sage ich noch einmal. »TJ wird von seinem Vater von der Schule abgeholt, ich könnte also ein paar Tage bleiben, bis Gran wieder in ihrer Wohnung klarkommt, und mich nach Möglichkeiten umsehen, wie sie entsprechend versorgt werden kann.«

»Und sie ist ausgerechnet ins Lutetia gegangen?«, bemerkt Charlotte. »Zu dem Gemälde? Ironie der Geschichte.«

Ich habe mal irgendwo gelesen, dass es auch sehr große Stars mit One-Hit-Wonders gibt. So ist es bei Gran wohl auch. Sie hat genau ein Porträt gemalt, von dem man vielleicht schon mal gehört hat. Es zeigt eine Szene kurz nach dem Krieg, als das Lutetia Tausende von Holocaust-Überlebenden beherbergte. Damals machte Louis als Medizinstudent sich erstmals mit der Behandlung der Überlebenden einen Namen. Gran vergisst zwar, was sie einen Tag zuvor erlebt hat und wie man den Wasserkocher anstellt, aber sie erinnert sich an das Gemälde, das den Grundstein für ihre Karriere legte, auch wenn sie die Frau auf dem Bild nun mit ihrem eigenen Leben verwechselt.

Wenn Louis mein Vorbild war, Psychotherapeutin zu werden, so war es Grans berühmtes Gemälde im Foyer des Hotels Lutetia, das mich zu meiner Spezialisierung inspirierte. Wie Charlotte sagte: Der Titel des Bildes wirkt jetzt besonders ironisch.

Das Gemälde heißt Memory.

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Die wichtigste Information über Gran ist, dass sie eine Malerin ist, die nicht viel malt.

Ihr erstes Porträt, Memory von 1964, ist ihr berühmtestes Werk. Ich kann mich noch daran erinnern, als ich es zum ersten Mal sah. Damals war ich neun Jahre alt und machte Urlaub in Paris. Mum fuhr oft mit mir zu Gran. Sie war selbst künstlerisch begabt und studierte am Saint Martins College, wo sie eine kurze Affäre mit einem anderen Kunststudenten hatte. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Er starb in jungen Jahren. Mum blieb in England, weil sie fand, sie sei dort freier und nicht nur die Tochter der großen Porträtmalerin. So lange ich denken kann, gab es nur Mum, Gran und mich und die regelmäßigen Reisen über den Kanal.

Bei jenem ersten Mal ging Gran mit mir ins Foyer des Hotels Lutetia, um mir ihr Bild zu zeigen. Als wir dort standen und schauten, legte sie mir die Hände auf die Schultern und fragte: »Was siehst du, mein Schatz?« Das habe ich immer an Gran geliebt: Wenn es um Kunst geht, ist sie überzeugt, dass es nicht nur eine richtige Antwort gibt.

Was ich dort sah, Gran? Ich sah eine junge Frau, die in Zimmer 11 des Lutetia sitzt. Sie ist noch nicht richtig erwachsen, höchstens Anfang zwanzig, und ich kann mich erinnern, dass ich Gran fragte, warum die Frau einen gestreiften Schlafanzug trägt. Gran erwiderte, sie sei gerade von einem schlimmen Ort zurückgekehrt, den man Lager nenne. Ich dachte dabei an Zeltlager und Schlafsäcke, doch offenbar war das ein anderes Lager gewesen. Ich verstand auch nicht, warum die Frau auf dem Bild einen kahlen Kopf hatte. War das damals schick gewesen?

In dem Zimmer auf dem Gemälde herrscht das reinste Chaos. Schubladen sind herausgerissen, Stühle umgekippt, Vorhänge heruntergerissen. Die Bilder an den Wänden hängen schief. Durch das Fenster auf der rechten Seite sieht man eine zerfetzte Hakenkreuzfahne. Die geheimnisvolle Frau hat einen trotzigen Ausdruck.

Bis auf ihre Erinnerungen hat sie alles verloren. Die Welt mag zerstört sein, scheint das Gemälde zu sagen, aber unsere Erinnerungen leben in uns fort. Damals wurde mir zum ersten Mal klar, wie wichtig das Gedächtnis sein kann. Meine Arbeit als Psychotherapeutin begann erst viel später, doch alles nahm seinen Anfang mit Gran im Foyer des Lutetia. Wegen dieses Erlebnisses wurde ich zu einer Gedächtnisexpertin.

Das Porträt wurde in den Sechzigern zum ersten Mal ausgestellt. Das Hotel Lutetia erwarb es für seine Kunstsammlung und hängte es für jeden sichtbar ins Foyer, eine Erinnerung an die Vergangenheit des Hotels.

Es war ein Geniestreich. Das Werk war nicht in einem muffigen Museum versteckt, sondern befand sich an einem öffentlichen Ort, wo es von allen bewundert werden konnte. Seither pilgern Kunstliebhaber und Touristen in das Lutetia, um sich das Gemälde anzusehen, so wie man zum Afternoon Tea ins Ritz geht.

Aus dem Grund hatte ich eine Reproduktion des Porträts in meinem Schlafzimmer hängen, die jetzt in meinem Behandlungszimmer im Krankenhaus hängt. Seit meinem neunten Lebensjahr habe ich es jeden Tag gesehen. Früher dachte ich, die Frau auf dem Bild sei irgendwie ich oder ein Teil von mir aus der Vergangenheit. Deshalb führe ich bis heute Tagebuch, gehe einmal im Monat zur Therapie und verbringe den Großteil meiner Zeit damit, Patienten bei der Bewältigung ihrer Traumata zu helfen, indem ich sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiere.

Das Gemälde spricht zu jedem von uns. Es handelt von einer der wichtigsten Fragen im Leben:

Wer sind wir ohne unsere Erinnerungen?

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Mir wurde das Reisen nicht gerade in die Wiege gelegt. St Pancras sieht für mich wie das Innere eines Raumschiffs aus, die Schlange vor dem Security Check könnte auch vor der Arche Noah stehen. Schwer vorstellbar, dass Gran früher ohne so einen Aufwand ins Ausland reisen konnte. Ich habe Angst davor, was mich drüben erwartet.

Die Zugfahrt ertrage ich mehr oder weniger. Mein Platz ist in der Standardklasse, nicht in der Standard Premier und schon gar nicht in der Businessklasse, also gibt es kein dreigängiges Michelin-Menü für mich. Ich gehe kurz ins Eurostar Café und komme mit einer fragwürdigen »leichten Mahlzeit« zurück – in meinem Fall ein Schokobrownie, der an den Rändern schon angegraut ist. Ich beiße einmal ab, er ist alles andere als leicht. Ich lege ihn beiseite.

An diesem Morgen sind um mich herum viele verschlafene Gesichter. Immer wenn ich mit dem Eurostar fahre, verwandele ich mich von einer Engländerin in eine Französin. Eigentlich lächerlich. Ich bilde mir gerne ein, dass ich als Französin durchgehen würde, doch das stimmt nicht. Gran besitzt Eleganz und Stil, auch Mum hatte das gewisse Etwas. Es muss damit zusammenhängen, in Paris aufzuwachsen. Meine Kindheit und Jugend bei Mum in Redbridge waren anders. Paris hat den Louvre und Haute Couture. Redbridge den Fußballverein und einen halbwegs passablen Burger King.

Als wir aus dem Tunnel unter dem Kanal kommen, habe ich nicht das Gefühl, in einem anderen Land zu sein, sondern in meiner Heimat, an die ich mich schwach erinnere. So oft habe ich diese Strecke schon zurückgelegt. Neben mir sitzen Französinnen, die sich über einen Ehemann unterhalten, zwei Angestellte des Eurostars diskutieren über das Fußballspiel am Vorabend. Es gibt nichts Neues von Gran. Am Telefon wirkt alles viel schlimmer; ich kann es nicht erwarten, sie persönlich zu sehen.

Wir erreichen den Gare du Nord. Die Passkontrollen sind überstanden, und so gehe ich durch die Bahnhofstüren nach draußen in die flirrende Luft von Paris. Ich habe noch nicht geprüft, wie warm es hier ist, aber es sind auf jeden Fall einige Grad mehr als in London. Ich bin zu dick angezogen und ärgere mich, nicht mehr Zeit zum Packen gehabt zu haben. Egal, wie oft ich mir vornehme, nicht mehrere Schichten übereinanderzuziehen, ich lerne es nicht. Jetzt trage ich drei Schichten und bereue es schon.

Am Bahnhof nehme ich mir ein Taxi und erwische einen gesprächigen Fahrer, der mir unbedingt seine Lebensgeschichte erzählen will. Es kommt mir lange her vor, dass ich das letzte Mal in Paris war. Ich habe fast vergessen, wie groß der Unterschied zu London ist. Alles wirkt kleiner, ordentlicher: die verrußten Gebäude mit den Balkonen und die schmalen Straßen mit den hupenden Autos.

Ich denke an das Wochenende mit Tom in Paris, kurz bevor alles den Bach runterging. Ich hatte gerade einen Vorschuss für Memory Wars bekommen und gab das Geld für ein spektakuläres Zimmer im Le Grand aus, direkt neben dem Palais Garnier. Ich führte Tom an all meine Lieblingsorte. Wir ließen es uns gut gehen, tranken Unmengen von Wein und vergaßen den Alltag. Gran ging es damals nicht gut, und so machte ich die beiden nicht miteinander bekannt. Ob ich es damals schon wusste? War mir bereits in jener flittrigen Phase klar, wie sehr dieser Mann mein Leben verändern würde? Ich bilde mir gerne ein, dass mein Spinnensinn es spürte. Aber vielleicht hat Tom mich auch komplett getäuscht. In so was war er gut.

Schließlich bleibt das Taxi vor dem Lutetia stehen. Den Regen und die britische Dunkelheit habe ich hinter mir gelassen. Hier ist alles hell. Das fehlt mir am meisten an Paris. Es ist, als würden die Lichter in Frankreich immer brennen. Nicht ganz so wie in der Phantasie, aber fast. Schließlich bin ich in der Stadt der Liebe.

Ich habe noch nie im Lutetia gewohnt, seine Geschichte ist mir im Großen und Ganzen aber bekannt. Es ist immer noch das einzige Palasthotel am linken Seine-Ufer. Es eröffnete 1910 und wurde 2014 für einen gigantischen Umbau geschlossen. Das alte Lutetia war ein wenig heruntergekommen und voll alter Schätze. Wie man auf der neuen Website lesen kann, gleicht es von innen nun mehr Harrods. Die Erinnerungen an die Vergangenheit sind jetzt Museumsstücke in Vitrinen. Selbst für Grans Gemälde gibt es Sicherheitsvorkehrungen.

Vor dem Eingang steht ein Polizeiwagen. Ein Portier bietet an, meine Tasche zu tragen. Ich will ihm erklären, dass ich nur zu Besuch da bin, kein Gast, und zu Gran gebracht werden möchte. Doch es ist schon zu spät. Meine Reisetasche wird zur Rezeption getragen, bevor ich die Worte herausgebracht habe, und ich gehe durch die Holzdrehtüren ins Foyer mit seinem Holzboden.

Vor der Rezeption steht ein junger Polizeibeamter.

»Dr. Finn?«, fragt er.

Ich antworte auf Französisch: »Ja. Ich suche Capitaine Vidal.«

Der Beamte nickt. »Hier entlang, Madame.«

Die Polizei macht mich immer nervös, selbst als Erwachsene. Es gibt Leute, die behaupten, ich sei nur wegen meines eigenen Traumas Expertin für wiedergewonnene Erinnerungen geworden. Wahrscheinlich haben sie recht. Bis heute muss ich jeden Tag daran denken, wie ich von der Schule nach Hause kam und Mum in der Küche neben dem leeren Tablettenfläschchen fand. Und natürlich an das Geheimnis, das ich seitdem mit mir herumtrage, verborgen in den Tiefen meines Gehirns, und das niemand außer Louis kennt.

Der Polizist führt mich durch den Hauptgang des Hotels. Vor einem Besprechungsraum bleiben wir stehen, der Beamte klopft. Von innen hört man Schritte. Dann geht die Tür auf, und ein Berg von einem Mann erscheint. Er ist groß und behaart und sieht wie ein Wrestler aus, kurz bevor er in den Ring steigt. Seine Stimme passt zu seinem Äußeren.

»Dr. Finn?«, sagt er. »Herzlich willkommen in Paris. Ich bin Capitaine Vidal von der DNPJ.«

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Capitaine Vidal trägt einen verknitterten Anzug mit einem offenen Hemd, Bartstoppeln bedecken sein Kinn.

Er hat eine barsche Stimme. Seine Haare sind nach hinten gekämmt und etwas länger als erlaubt. Er ist älter, als ich gedacht habe, Ende fünfzig, und riecht nach billigen Zigaretten. Er wirkt ein wenig altmodisch und doch elegant trotz seiner nachlässigen Kleidung. In London gibt es keine Kripobeamten mehr wie ihn: in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Glas, trotzdem knallhart. Der Mann könnte sich zwischen Kämpfende werfen, selbst ein paar Schläge verteilen, Geständnisse einsammeln und hätte schon nach ein paar Stunden sein Tagwerk vollbracht.

»Ist meine Großmutter da drin?«

»Ja«, sagt Vidal. »Aber bevor wir reingehen, muss ich Sie über die Hintergründe aufklären.«

Ich sehne mich verzweifelt danach, in dieses Zimmer zu gehen und Gran in die Arme zu nehmen. Dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich in fünfzig Jahren behaupten würde, jemand anders zu sein. Würde TJs Kind mich nach so einem peinlichen Zwischenfall auch abholen? Ich finde es furchtbar, dass Gran sich so entwickelt. Demenz ist eine schlimme Krankheit. Sie hat es nicht verdient. Das hat niemand.

»Das Geständnis Ihrer Großmutter ist überraschend detailliert«, sagt Vidal sachlich. »Sie behauptet, dass sie kurz nach der Befreiung der Konzentrationslager, im Sommer 1945, eine Frau umgebracht hat. Und dass sie selbst im Konzentrationslager war.«

Einen Moment lang ist es ganz still, während ich das verarbeiten muss. Ich hatte versucht, mich vorzubereiten, aber das von einem Polizeibeamten zu hören, ist schon ein Schock.

»Sie gibt an, ihr Opfer hieße Josephine Benoit, und sie habe die Frau ermordet, um deren Identität anzunehmen und ein neues Leben zu beginnen.«

»Sie muss ihre Bilder mit dem wahren Leben verwechseln«, erkläre ich. »Ihr Memory-Porträt zeigt eine Überlebende in einem Zimmer dieses Hotels. Gran war während des Krieges jedoch in Paris, das hat sie immer erzählt. Sie bringt die beiden Dinge einfach durcheinander.«

Vidal klingt nicht so, als glaubte er mir. »Sie hat auch verlangt, in Zimmer 11 gelassen zu werden, weil der Mord dort geschehen sei.«

»Das Bild zeigt Zimmer 11.«

Obwohl ich ganz gut im Bilde bin, muss ich zugeben, dass ich über einen Großteil von Grans frühem Leben gar nichts weiß. Wie die meisten ihrer Generation spricht sie nie über das, was während des Krieges passierte. Ich habe sie früher oft ermutigt, die Dinge aufzuschreiben, bevor sie alles komplett vergessen würde. Aber sie wollte nicht darüber reden, und so stellte ich keine Fragen mehr.

Vidal bleibt beharrlich. »Aus den Unterlagen geht hervor, dass eine Frau namens Josephine Benoit und eine Sophie Leclerc an denselben drei aufeinanderfolgenden Tagen im Juni 1945 hier im Lutetia waren. Josephine überlebte, doch was mit Sophie geschah, ist unklar.«

Deshalb also hat er angerufen. Auf einmal scheint mir die ganze Geschichte viel ernster zu sein. Was, wenn Grans kurzer altersbedingter Aussetzer doch nicht nur dementes Gerede ist? Was, wenn es viel, viel schlimmer ist?

Hat Gran ein schreckliches Geheimnis aus dem Krieg mitgenommen? Könnte es eine unterdrückte Erinnerung sein, die nun, da sie dement ist, an die Oberfläche steigt? Seit ich das in anderen Familien erlebt habe, habe ich immer gehofft, wir würden davon verschont.

Sophie Leclerc und Josephine Benoit waren beide im Juni 1945 im Lutetia.

Drei Tage später verließ eine von beiden das Hotel.

Kann es sein, dass Gran eine wahre Erinnerung aus ihrer eigenen Vergangenheit zurückgeholt hat?

»Wenn sie Sophie Leclerc ist«, sagt Vidal, »was ist dann mit der echten Josephine Benoit geschehen?«

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Wir gehen in den Besprechungsraum, und endlich sehe ich Gran.