Zwillinge ohne Eltern - Aliza Korten - E-Book

Zwillinge ohne Eltern E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Endlich«, sagte Andrea von Lehn aufatmend, als sie draußen einen Wagen vorfahren hörte. Sie lief vors Haus, um ihren Mann zu begrüßen. Dr. Hans-Joachim von Lehn wirkte müde und niedergeschlagen. Das war ungewöhnlich, denn er war jung und lebensfroh. Im allgemeinen machte ihm ein gerütteltes Maß an Arbeit nichts aus. Außerdem liebte er seinen Beruf. Schon sein Vater war Tiermediziner gewesen. Von ihm hatte er die große Praxis übernommen. »Du kommst reichlich spät«, sagte Andrea, wobei sie ihren Mann umarmte. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. So weit ist es doch gar nicht nach Karlshof.« Der Tierarzt strich seiner blutjungen Frau liebevoll über das dunkle Haar. Andrea sah fast noch wie ein Schulmädchen aus und war doch bereits die Mutter eines kleinen Buben, der in seinem Zimmer brav schlief, das Däumchen im Mund. »Mir passiert schon nichts, Andrea«, erwiderte Hans-Joachim leise. »Ich bin aufgehalten worden. Das ist alles.« Andrea zog ihn an der Hand ins Haus, wo der Abendbrottisch schon lange wartete. Betti trug gleich das Essen auf und entschuldigte sich verlegen, dass der Salat leider zusammengefallen sei. »Lass nur, Betti, das schadet nichts«, tröstete der blonde Hausherr das tüchtige Mädchen. »Es gibt wahrhaftig Schlimmeres auf der Welt, als einen zusammengefallenen Salat.« »Was ist?«, fragte Andrea, als das Mädchen hinausgegangen war. »Du bist ganz verändert, Hans-Joachim. So kenne ich dich gar nicht.« »Erinnerst du dich an die Nachricht vom Tod des jungen Ehepaares auf Karlshof?«, gab er leise zurück. »Es war ein Flugzeugabsturz, bei dem sämtliche Insassen ums Leben kamen. Ein paar Monate ist es nun her.« »Ja, richtig,

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Sophienlust –130–

Zwillinge ohne Eltern

Ahnungslos waren sie in großer Gefahr…

Roman von Aliza Korten

»Endlich«, sagte Andrea von Lehn aufatmend, als sie draußen einen Wagen vorfahren hörte. Sie lief vors Haus, um ihren Mann zu begrüßen.

Dr. Hans-Joachim von Lehn wirkte müde und niedergeschlagen. Das war ungewöhnlich, denn er war jung und lebensfroh. Im allgemeinen machte ihm ein gerütteltes Maß an Arbeit nichts aus. Außerdem liebte er seinen Beruf. Schon sein Vater war Tiermediziner gewesen. Von ihm hatte er die große Praxis übernommen.

»Du kommst reichlich spät«, sagte Andrea, wobei sie ihren Mann umarmte. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. So weit ist es doch gar nicht nach Karlshof.«

Der Tierarzt strich seiner blutjungen Frau liebevoll über das dunkle Haar. Andrea sah fast noch wie ein Schulmädchen aus und war doch bereits die Mutter eines kleinen Buben, der in seinem Zimmer brav schlief, das Däumchen im Mund.

»Mir passiert schon nichts, Andrea«, erwiderte Hans-Joachim leise. »Ich bin aufgehalten worden. Das ist alles.«

Andrea zog ihn an der Hand ins Haus, wo der Abendbrottisch schon lange wartete. Betti trug gleich das Essen auf und entschuldigte sich verlegen, dass der Salat leider zusammengefallen sei.

»Lass nur, Betti, das schadet nichts«, tröstete der blonde Hausherr das tüchtige Mädchen. »Es gibt wahrhaftig Schlimmeres auf der Welt, als einen zusammengefallenen Salat.«

»Was ist?«, fragte Andrea, als das Mädchen hinausgegangen war. »Du bist ganz verändert, Hans-Joachim. So kenne ich dich gar nicht.«

»Erinnerst du dich an die Nachricht vom Tod des jungen Ehepaares auf Karlshof?«, gab er leise zurück. »Es war ein Flugzeugabsturz, bei dem sämtliche Insassen ums Leben kamen. Ein paar Monate ist es nun her.«

»Ja, richtig, es stand in der Zeitung. Wer hat das Gut jetzt übernommen?«

»Zur Zeit haben sich zwei entfernte Vettern dort eingenistet. Man hält es kaum für möglich, dass es so etwas gibt, Andrea.«

Hans-Joachim von Lehn vergaß das Essen und erzählte in aller Ausführlichkeit, was er gehört und beobachtet hatte.

»Der Gutsverwalter hatte angerufen, weil unter den Kühen eine ansteckende Krankheit ausgebrochen war. Es handelt sich um eine Infektion, die zur Zeit in unserer Gegend fast jeden Stall befällt. Insofern schien also alles ganz normal. Doch als ich Karlshof erreichte, stellte ich fest, dass man mich viel zu spät von der Erkrankung der Kühe verständigt hatte. Der Stall machte keinen sonderlich sauberen Eindruck, und Herr Wingert, der Verwalter, wirkte nervös, überarbeitet und ausgesprochen deprimiert. Er half mir, die einzelnen Kühe zu untersuchen, und ging mir zur Hand, weil ich jedem einzelnen Rind eine Injektion geben musste. Man muss leider damit rechnen, dass keine einzige Kuh von der Infektion verschont bleibt, weil die Gegenmaßnahmen viel zu spät eingeleitet worden sind.«

»Also ein schlechter Verwalter und ein Gutsherr, der sich nicht genügend um seinen Viehbestand kümmert«, warf Andrea lebhaft ein. »Man sollte solche Leute sofort anzeigen.«

Andrea war eine Tierliebhaberin, nicht anders als ihr Mann. Auf dem Gelände, das zum Lehnschen Haus gehörte, hatte sie ein Heim für kranke und verlassene Tiere errichtet, das im Laufe der Zeit ziemlich beachtliche Ausmaße angenommen hatte. Der Tierpfleger Helmut Koster betreute die Insassen des Heims, und der Dackel Waldi war Namenspatron und Chef dieser einzigartigen Einrichtung.

»Herrn Wingert kann man kaum einenVorwurf machen, Andrea«, widersprach Hans-Joachim seiner Frau. »Er hatte keine freie Hand. Die derzeitigen Herren von Karlshof hielten es nicht für nötig, die Kühe behandeln zu lassen, weil das natürlich Geld kostet. Das erfuhr ich so nach und nach, denn Frau Wingert bewirtete mich zwischendurch mit einer Tasse Kaffee, wofür ich ihr recht dankbar war. Nun, beim Kaffee begann Herr Wingert zu reden, und seine Frau fügte hin und wieder noch etwas hinzu. Die Verhältnisse auf Karlshof sind schlimm. Sebastian Karl war ein hervorragender Landwirt und arbeitete tüchtig mit auf dem Gut. Durch seinen plötzlichen Tod entstand eine gewaltige Lücke, die sich nicht schließen lässt. Er und seine Frau – sie hieß Ingeborg und stammte aus Schweden – hatten offenbar keine näheren Anverwandten. Zurück blieben ihre Kinder, Zwillinge von anderthalb Jahren. Es sind zwei kleine Mädchen.«

»Wie traurig!«, rief Andrea aus. »Was ist aus den armen Kindern geworden? Kümmert sich jemand um sie? Sollte man sie nicht nach Sophienlust bringen?«

Hans-Joachim hob die Schultern. »Die Sache scheint ziemlich problematisch. Dem äußeren Anschein nach ist für die kleinen Zwillinge bestens gesorgt. Ein Kindermädchen betreut sie. Frau Wingert versicherte mir, dass dieses Mädchen zuverlässig sei und mit großer Liebe an ihren Schützlingen hänge. Hingegen sind die beiden Vettern nur darauf aus, den Besitz an sich zu bringen.«

»Dazu haben sie kein Recht«, empörte sich Andrea. »Falls sonst niemand da ist, gehört das Gut jetzt den kleinen Mädchen.«

Hans-Joachim nickte. »Sie sind die Alleinerben. Das steht fest. Aber es sind Babys, die in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein werden, ihre Rechte wahrzunehmen. So scheint die Rechnung der beiden Vettern aufzugehen. Sie treten als einzige Verwandte auf und geben vor, die Interessen der unmündigen Kinder zu vertreten. Doch Herr und Frau Wingert befürchten, dass sie nichts anderes im Sinn haben, als den Besitz an sich zu bringen. Es sind zwei Brüder, noch ziemlich jung, die ständig miteinander im Streit liegen. Um die Verwaltung des Gutes kümmern sie sich nicht im Geringsten. Durch einen Trick scheint es ihnen gelungen zu sein, ein gewisses Verfügungsrecht über die vorhandenen Barmittel zu erlangen. Herr Wingert wusste nicht, wie das möglich gewesen ist. Er beobachtet mit wachsender Sorge, dass die beiden Gutsherren von eigenen Gnaden das Geld mit vollen Händen ausgeben. Wohlgemerkt, nur für sich und für ihre persönlichen Ansprüche, nicht aber für das, was im Interesse des Gutsbetriebes nötig wäre. Der arme Herr Wingert schuftet vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein und wird doch nicht fertig. Es sind mehrere Leute von den Vettern entlassen und keine neuen eingestellt worden. Angeblich sei viel zu viel Personal vorhanden gewesen. Diese Verschwendung soll ein Ende haben. Wenn das eine Weile so weitergeht, wird Karlshof heruntergewirtschaftet. Das zeichnet sich jetzt schon ab. Nur aus Treue zur Familie halten die Wingerts noch aus. Ob sie das auf die Dauer tun werden, muss man zumindest für fraglich halten.«

»Was für unhaltbare Zustände. Greift denn da niemand ein, Hans-Joachim? Man muss doch etwas tun können. Bis die kleinen Mädchen erwachsen sein werden, haben diese gewissenlosen Vettern den Besitz wahrscheinlich durchgebracht.«

Der Tierarzt stocherte im zusammengefallenen Salat herum. »Ich weiß nicht, ob sich solche Dinge hieb- und stichfest beweisen lassen, Andrea. Aber ich bin bedrückt. Zwar kannten wir das junge Ehepaar nicht, doch ich würde herzlich gern versuchen, den Kindern zu helfen. Nur bleibt die große Frage, wie das zu bewerkstelligen wäre.«

»Ich werde Mutti fragen«, äußerte Andrea entschlossen. »Sie kennt sich in solchen Dingen am besten aus. In Sophienlust sammelt man zwangsläufig einschlägige Erfahrungen.«

Andrea sprang auf und ließ ihr Essen achtlos stehen. Zunächst rief sie im Kinderheim Sophienlust an, das von ihrer Stiefmutter Denise von Schoenecker gegründet worden war. Frau Rennert, die tüchtige Heimleiterin, teilte ihr mit, dass Frau von Schoenecker bereits nach Gut Schoeneich gefahren sei.

Der zweite Anruf ging also nach Schoeneich, wo die Familie von Schoen­ecker lebte. Alexander von Schoenecker kam an den Apparat und wollte seine Tochter sogleich nach dem kleinen Peterle fragen, denn das erste Enkelchen war sein ganzer Stolz. Doch Andrea ließ ihn nicht zu Worte kommen. Sie fragte: »Ist Mutti schon da, Vati? Ich muss sie unbedingt sprechen. Es ist wahnsinnig wichtig.«

Durch die geöffnete Tür konnte Hans-Joachim von Lehn das temperamentvoll geführte Telefongespräch seiner entzückenden jungen Frau verfolgen. Sie schilderte die Zustände auf Gut Karlshof so lebhaft und anschaulich, als hätte sie selbst mit dem Verwalter Wingert gesprochen. »Du siehst doch ein, dass man den Kindern helfen muss, Mutti«, beendete sie ihren Bericht. »Es geht um Recht und Besitz dieser kleinen Zwillinge. Wurde Sophienlust nicht für Kinder, die in Not geraten sind, ins Leben gerufen? Was schlägst du vor? Sollte man die Zwillinge nicht sofort nach Sophienlust bringen, damit sie erst einmal in Sicherheit vor ihren skrupellosen Verwandten sind? Wer weiß, was diese Vettern noch im Schilde führen.«

Was Denise von Schoenecker antwortete, konnte Hans-Joachim von Lehn nicht hören. Doch er entnahm den Ausrufen, Zwischenfragen und enttäuschten Bemerkungen seiner Frau, dass seine Schwiegermutter zunächst keine Möglichkeit zum Eingreifen sah.

Schließlich kehrte Andrea an den Tisch zurück und ließ sich mutlos auf ihren Stuhl fallen. »Mutti glaubt nicht, dass die Aussagen des Verwalters genügend Beweiskraft besitzen, Hans-Joachim. Nicht einmal die Tatsache, dass man dich zu spät zu den erkrankten Kühen gerufen hat, würde ausreichen. Sie ist nicht weniger beunruhigt als wir beide. Möglicherweise wird sie sich mit dem zuständigen Jugendamt in Verbindung setzen, damit wenigstens die Aufmerksamkeit der Behörde auf den Fall gelenkt wird. Zwei junge Männer sind schließlich auf die Dauer nicht dazu geeignet, die kleinen Kinder zu erziehen.«

»Nun ja, warten wir ab, ob dabei etwas zu erreichen ist, Andrea. Leider befürchte ich, dass nichts zu machen sein wird.«

»So leicht gebe ich mich nicht geschlagen, Hans-Joachim. Musst du wieder nach Karlshof? Die Kühe werden doch mehrmals behandelt, nicht wahr?«

Der Tierarzt nickte. »Ja, ich fahre übermorgen noch einmal hin.«

»Umso besser. Ich werde dich begleiten. Vielleicht kann ich Dinge herausfinden, die dir entgangen sind.« Andreas blaue Augen leuchteten. Wo immer sie für ein notleidendes Kind oder für ein gequältes Tier einspringen konnte, tat sie es aus innerster Überzeugung.

Das junge Ehepaar beendete die Mahlzeit. Andrea trug das Geschirr in die Küche, wo Betti sofort mit dem Abwasch begann. Die schlanke Hausherrin, die mit Vorliebe Jeans und Waschblusen trug, ergriff ein Tuch, um abzutrocknen, denn es war reichlich spät für das Hausmädchen geworden.

Wenig später verließ Betti die Küche und steuerte zielsicher auf den langgestreckten Bau des Tierheims zu. Andrea schaute hinter ihr her und lächelte. Es war kein Geheimnis, dass zwischen ihrer zuverlässigen Hausgehilfin und dem Tierpfleger eine enge und herzliche Freundschaft bestand.

Hans-Joachim von Lehn, der sich unbemerkt herangeschlichen hatte, umarmte Andrea von hinten.

»Huch, du hast mich ganz schön erschreckt«, schrie sie auf. »Dass du so etwas nicht lassen kannst.«

Er lachte und küsste sie. »Ich konnte nicht widerstehen, Andrea. Du sahst entzückend aus, da am Fenster.«

Andrea erwiderte seine Küsse. Sie war durchaus nicht böse über seine Zärtlichkeit.

»Lass uns nach Peterle sehen«, sagte Hans-Joachim nach einer Weile.

Peterle, blondhaarig und braunäugig, hieß mit vollem Namen Peter Alexander. Andrea hatte sein Zimmer mit viel Liebe eingerichtet. Der himmelblaue Bettvorhang war mit bunten Tierfiguren bedruckt, und von einem Wandregal blickten Stofftiere jeder Größe und Gattung aus blanken Glasaugen auf das schlafende Baby herab.

Die stolzen Eltern bewunderten den kleinen Jungen andächtig. Nur schwer konnten sie sich vom Anblick ihres Sprösslings losreißen.

»Ich muss immer noch an die Zwillinge von Karlshof denken«, gestand Andrea, als sie im Wohnzimmer waren und es sich für den Abend gemütlich gemacht hatten. »Die Sache geht mir einfach nicht aus dem Kopf.«

*

In Sophienlust wurde das Thema am nächsten Tag ebenfalls besprochen. Dominik von Wellentin-Schoenecker, Andreas fünfzehnjähriger Halbbruder, hatte am Abend zuvor das Telefongepräch mit angehört, das seine Mutter mit Andrea geführt hatte. Nun unterhielt er sich mit Irmela, Pünktchen und Angelika über das Problem, das ihn stark beschäftigte.

»Zwillinge sind es, kleine Mädchen«, berichtete er aufgeregt. »Wie sie heißen, weiß ich nicht. Aber es steht fest, dass zwei Verwandte ihnen alles wegnehmen wollen. Eine Gemeinheit ist das, nicht wahr?«

»Verwandte sind manchmal sehr gefährlich«, erklärte Pünktchen, denn sie selbst konnte ein Lied davon singen. Aber diese bitteren Erfahrungen lagen um viele Jahre zurück.

»Es gibt auch nette Verwandte«, warf Irmela ein. »Man darf so etwas nicht verallgemeinern. Aber diese Onkels scheinen von der übelsten Sorte zu sein. Glaubst du, dass deine Mutti etwas unternehmen wird?«

Nick hob die Schultern. »Sie hat am Telefon gesagt, dass es schwierig sein wird. Man darf sich nicht einfach einmischen. Aber sie hat heute bestimmt schon mit dem Jugendamt gesprochen. Mutti schiebt so etwas nicht auf die lange Bank.«

»Zwillinge wären doch niedlich«, ließ sich Angelika Langenbach vernehmen. »Wir würden alle helfen, sie zu versorgen. Ich mag Babys schrecklich gern.«

»Noch sind sie nicht hier«, wandte Nick nüchtern ein.

»Aber sie gehören nach Sophienlust«, behauptete Pünktchen überzeugt. »Wer weiß, was passiert, wenn sie nicht bald zu uns kommen.«

Nick seufzte. »Manchmal ist es schwer, die Welt zu verstehen. Obwohl Mutti und Hans-Joachim genau wissen, dass etwas nicht stimmt auf Karlshof, können sie nichts dagegen tun.«

»Na, deine Mutti hat bis jetzt noch immer einen Weg gefunden, wenn Hilfe nottat«, beschwichtigte Pünktchen ihn.

»Aber diesmal fällt ihr nichts ein.« Nick war besorgt und aufgeregt. Sophienlust, ein schönes altes Herrenhaus mit dazugehörigem Gutsbetrieb und einem großen Vermögen, war ihm unerwartet als Alleinerben zugefallen, als er fünf Jahre alt gewesen war. Seine Mutter, die damals noch den Namen von Wellentin getragen hatte und verwitwet gewesen war, hatte nicht gezögert, den letzten Willen der Erblasserin, Sophie von Wellentin, zu verwirklichen. Für sie und Nick hatte die Übernahme von Sophienlust eine Lebenswende bedeutet. Nach bitter schwerer Zeit waren Mutter und Sohn endlich wieder vereint gewesen. Tatkräftig hatte Denise begonnen, das Gutshaus in ein Heim für in Not geratene Kinder umzuwandeln. Die Begegnung mit Alexander von Schoenecker, der damals gleich ihr verwitwet gewesen war, hatte ihr ein neues Glück beschert. Sie hatte im nahegelegenen Schoeneich eine zweite Heimat gefunden und war Alexanders Kindern – Sascha und Andrea – eine liebevolle Mutter geworden, während Nick einen Vater erhalten hatte, zu dem er in Liebe und Verehrung aufblicken konnte. Der kleine Henrik, der dieser neuen Verbindung entstammte, war das jüngste Mitglied der Familie und hatte das Glück vollkommen werden lassen.

Viele Kinderschicksale waren im Laufe der Jahre von Denise mit sanfter Hand gelenkt worden. Sie hatte stets die Tür offengehalten für hilflose kleine Geschöpfe, von deren Nöten sie Kenntnis erhalten hatte. Doch auch Erwachsene hatten gelegentlich Zuflucht in dem weitläufigen alten Herrenhaus gefunden. Denn auch diese Möglichkeit hatte Sophie von Wellentin in ihrem Testament eingeschlossen.

Sollte es nun im Falle der Zwillinge, die möglicherweise von gewissenlosen Angehörigen um ihr Erbe gebracht wurden, wirklich keinen Ausweg geben?

»Am besten, wir besprechen die Sache mit Andrea«, schlug Angelika vor. »Oder seid ihr anderer Meinung?«

Niemand war dagegen. Nick, Pünktchen, Irmela und Angelika holten ihre Fahrräder und machten sich unverzüglich auf den Weg nach Bachenau, wo sich das Lehnsche Anwesen mit der tierärztlichen Praxis und dem Tierheim befand.

»Wir fahren zu Andrea«, sagte Nick zur Heimleiterin, Frau Rennert. »Bis zum Abendbrot sind wir zurück, Tante Ma.«

»Grüßt sie schön«, erwiderte die Heimleiterin. »Habt ihr auch an eure Schulaufgaben gedacht?«, fügte sie hinzu.

»Die machen wir später«, erklärte Nick eilig. »Du kannst dich fest darauf verlassen, Tante Ma.«

Dann fuhren die vier so schnell davon, dass Frau Rennert sie unmöglich noch mit einem Machtwort zurückhalten konnte. In Bachenau wurden die Kinder von dem Dackel Waldi, seiner Ehefrau Hexe und den Dackelkindern Pucki und Purzel mit ohrenbetäubendem Gekläff begrüßt, während sich die schwarze Dogge Severin würdevoll im Hintergrund hielt.

Andrea erschien, angelockt von dem Lärm. Nick schüttelte ihr die Hand. »Grüß dich, Schwesterherz. Wir wollten dich besuchen. Gibt es etwas Neues von den Karlshofer Zwillingen?«

»Du hast es schon gehört, Nick? Findest du nicht auch, dass man unbedingt etwas unternehmen muss?«

Andrea wunderte sich durchaus nicht, dass ihr Stiefbruder sich intensiv für diese Angelegenheit einsetzte. Schließlich würde er Sophienlust später übernehmen. Sogar als kleiner Junge hatte er sich schon für die Kinder verantwortlich gefühlt, die von seiner Mutter in Obhut und Schutz genommen wurden. Heute war er in diese Aufgabe längst hineingewachsen. Man konnte mit ihm über die Kinder reden wie mit einem Erwachsenen.

»Aber was, Andrea?«, fragte Nick mit krauser Stirn. »Einfach wird es nicht werden. Gerissene, gemeine Verwandte scheinen dort zu hausen.«

Andrea führte ihre jungen Gäste ins Haus und bewirtete sie mit Tee und Geleebrötchen. Während dieser Mahlzeit wurde das anstehende Problem von allen Seiten eingehend beleuchtet. Nick gab sich den abenteuerlichsten Mutmaßungen hin. Die drei Mädchen steuerten ihren Teil dazu bei.

»Vielleicht lassen sie die Kinder einfach verschwinden. So etwas soll schon vorgekommen sein.«

»Das geht jetzt nicht mehr, weil Mutti das Jugendamt angerufen hat. Aber ich könnte mir denken, dass die Verwandten einen bestimmten Plan verfolgen.«

»Kinder werden manchmal auch ausgesetzt«, wusste Angelika zu berichten. »Entführungen gibt es auch. Oder habt ihr das noch nie in der Zeitung gelesen? Ich lasse mir nichts vormachen, die Zwillinge sind in Gefahr. Wir wollen, dass sie so schnell wie möglich nach Sophienlust geholt werden. Bei uns sind sie gut aufgehoben.«

»Vati würde sich ein bisschen um das Gut kümmern, falls es nötig ist«, fügte Nick bekräftigend hinzu. »Eine bessere Lösung gibt es überhaupt nicht. Muss das Jugendamt das nicht einsehen?«

Pünktchen nickte zustimmend. »Tante Isi wird es schaffen, Nick.« Denise von Schoenecker wurde von den Kindern zärtlich Tante Isi genannt. Es war eine liebevolle Abkürzung ihres Namens.

Irmela warf das blonde Haar zurück. »Wir könnten selber hinreiten und die Zwillinge befreien«, schlug sie vor.

Andrea hob beschwichtigend die Hand. »Keine eigenmächtigen Handlungen. Wenn wir die Kinder auf eigene Faust von Karlshof fortholen, setzen wir uns ins Unrecht. Wir müssen vorsichtig und geschickt vorgehen. Morgen werde ich mit Hans-Joachim nach Karlshof fahren. Während er die kranken Kühe behandelt, bleibt mir genügend Zeit, mich auf dem Gut ein bisschen umzuschauen. Dann sehen wir vielleicht etwas klarer. Seid ihr damit einverstanden?«

»Hm, du gehst also als Kundschafterin hin. Falls du unsere Hilfe brauchst, musst du uns sofort verständigen«, erklärte Nick voller Eifer.

»Selbstverständlich, Nick. Aber wir werden nichts unternehmen, ohne es mit Mutti zu besprechen.«