Vati, ich warte so auf dich - Elisabeth Swoboda - E-Book

Vati, ich warte so auf dich E-Book

Elisabeth Swoboda

0,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Denise von Schoenecker, der die Sommerhitze normalerweise nichts anhaben konnte, fühlte sich unbehaglich. Sie war überzeugt, in dem großen Kaufhaus, in dem sie sich im Augenblick aufhielt, funktionierte die Klimaanlage nicht ordentlich. Es herrschte ein ziemliches Gedränge, denn auf den Verkaufstischen stapelten sich die Sonderangebote. Zusätzlich aufgestellte Drahtkörbe mit besonders preiswerten Waren verengten die Durchgänge, sodass man kaum daran vorbeikam. Irgendetwas hätte ich noch besorgen sollen, dachte Denise. Was war es bloß? Sie wollte stehenbleiben, wurde aber vorwärtsgeschoben. Der Lärm und die schlechte Luft beeinträchtigten ihre Konzentrationsfähigkeit. Ach ja, jetzt fiel es ihr wieder ein. Nick brauchte neue Schwimmflossen. Wo befand sich eigentlich die Sportartikelabteilung? Energisch bahnte sich Denise einen Weg zur Rolltreppe, neben der sich eine Orientierungstafel befand. Dabei kam sie an Ständern mit Wintermänteln zu unglaublich niedrigen Sommerpreisen vorbei. Der bloße Anblick dieser wärmenden Pracht machte ihr die herrschende Hitze noch unerträglicher. Endlich stand sie neben der Rolltreppe und stellte fest, Sportsachen gab es im dritten Stock. Denise fuhr nach oben. Dort merkte sie erleichtert, dass in diesem Stockwerk wesentlich weniger Menschen anwesend waren als unten, sodass sie in Ruhe ein Paar Schwimmflossen aussuchen konnte. Dabei erinnerte sie sich, dass Henrik geklagt hatte, seine Taucherbrille sei undicht. Also entschloss sie sich, ihm eine neue zu schenken. Danach blieben ihre Blicke an buntgemusterten Badekleidern aus Frotteestoff hängen. Sie fand, dass diese Kleider für die Mädchen in Sophienlust sehr praktisch wären, wenn sie zum See gingen. Aber Kleider wollte Denise nicht kaufen, ohne dass die Mädchen Gelegenheit hatten, sie zu probieren. Deshalb suchte sie die

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 141

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust –131–

Vati, ich warte so auf dich

…doch Anselms Vater ist mit einer anderen Frau verheiratet

Roman von Elisabeth Swoboda

Denise von Schoenecker, der die Sommerhitze normalerweise nichts anhaben konnte, fühlte sich unbehaglich. Sie war überzeugt, in dem großen Kaufhaus, in dem sie sich im Augenblick aufhielt, funktionierte die Klimaanlage nicht ordentlich.

Es herrschte ein ziemliches Gedränge, denn auf den Verkaufstischen stapelten sich die Sonderangebote. Zusätzlich aufgestellte Drahtkörbe mit besonders preiswerten Waren verengten die Durchgänge, sodass man kaum daran vorbeikam.

Irgendetwas hätte ich noch besorgen sollen, dachte Denise. Was war es bloß? Sie wollte stehenbleiben, wurde aber vorwärtsgeschoben.

Der Lärm und die schlechte Luft beeinträchtigten ihre Konzentrationsfähigkeit. Ach ja, jetzt fiel es ihr wieder ein. Nick brauchte neue Schwimmflossen. Wo befand sich eigentlich die Sportartikelabteilung?

Energisch bahnte sich Denise einen Weg zur Rolltreppe, neben der sich eine Orientierungstafel befand. Dabei kam sie an Ständern mit Wintermänteln zu unglaublich niedrigen Sommerpreisen vorbei. Der bloße Anblick dieser wärmenden Pracht machte ihr die herrschende Hitze noch unerträglicher. Endlich stand sie neben der Rolltreppe und stellte fest, Sportsachen gab es im dritten Stock.

Denise fuhr nach oben. Dort merkte sie erleichtert, dass in diesem Stockwerk wesentlich weniger Menschen anwesend waren als unten, sodass sie in Ruhe ein Paar Schwimmflossen aussuchen konnte. Dabei erinnerte sie sich, dass Henrik geklagt hatte, seine Taucherbrille sei undicht. Also entschloss sie sich, ihm eine neue zu schenken. Danach blieben ihre Blicke an buntgemusterten Badekleidern aus Frotteestoff hängen. Sie fand, dass diese Kleider für die Mädchen in Sophienlust sehr praktisch wären, wenn sie zum See gingen. Aber Kleider wollte Denise nicht kaufen, ohne dass die Mädchen Gelegenheit hatten, sie zu probieren. Deshalb suchte sie die Stoffabteilung auf, wo sie sich für einen gelb, orange und rot geblümten Frotteestoff entschied, von dem sie annahm, dass er den Kindern am besten gefallen würde. Morgen würde sie dann die Schneiderin anrufen und nach Sophienlust bestellen.

Denise überlegte, wie viel sie von dem Stoff benötigen würde. »Wenn ich pro Kind zwei Meter nehme«, rechnete sie halblaut, »neun mal zwei, das wären achtzehn Meter. Für Heidi und die kleineren Mädchen würde zwar auch etwas weniger genügen, umgekehrt aber schadet es nichts, wenn etwas als Reserve übrigbleibt. Ich möchte zwanzig Meter von diesem Frotteestoff hier«, sagte sie dann laut zu der Verkäuferin, die sie daraufhin ungläubig ansah und anzunehmen schien, dass sie sich verhört habe.

»Zwanzig Meter?«

»Ja, ich rechne für jedes meiner Mädchen zwei Meter. Das ergibt achtzehn Meter, und zwei Meter möchte ich als Reserve«, erklärte Denise etwas ungeduldig.

Die Verkäuferin betrachtete sie mit staunenden Blicken. Sie konnte nicht recht glauben, dass diese schlanke, jugendlich wirkende Frau neun Töchter und vielleicht noch wer weiß wie viele Söhne besitzen sollte. Natürlich wusste sie nicht, dass der Stoff für Denises Schützlinge in Sophienlust bestimmt war.

Die zwanzig Meter Frottee ergaben ein ziemlich schweres Paket. Denise überging im Geist noch einmal ihre getätigten Einkäufe und war nun überzeugt, nichts vergessen zu haben. Sie fuhr die Rolltreppen wieder hinunter und strebte dem Ausgang zu, um ihre Last möglichst schnell im Auto verstauen zu können. Doch knapp vor dem Ausgang geriet sie in ein Knäuel aufgeregt durcheinander redender Menschen. Alle ihre Versuche, sich Durchgang zu verschaffen, schlugen fehl. Sie vermochte nicht zu erkennen, was die Ursache dieses Auflaufs war, doch aus einigen Bemerkungen entnahm sie, dass eine alte Frau plötzlich zusammengebrochen war.

»Die Arme! Wie schrecklich!«

»Ich habe gesehen, was passiert ist. Sie ist einfach umgefallen. Ganz plötzlich.«

»Ein Glück, dass so schnell ein Arzt zur Stelle war.«

»Was fehlt der Frau?«

Denise hasste es, von einer Menge Neugieriger eingekeilt zu sein, aber sie konnte weder vor noch zurück. Doch jetzt hörte sie die Sirene eines Krankenwagens, und das Knäuel vor ihr geriet in Bewegung. Undeutlich nahm sie wahr, dass jemand auf einer Bahre abtransportiert wurde. Nun sah sie auch den Arzt, einen älteren Mann, der achselzuckend erklärte:

»Da war nichts mehr zu machen. Sie muss sofort tot gewesen sein. Meiner Meinung nach Gehirnschlag.«

Nachdem es nun nichts Sensationelles mehr zu sehen gab, verlief sich die Menge wieder. Denise hatte ihr Paket für einen Augenblick auf den Boden gestellt. Sie war durch den Stoffkauf und die Vorstellung, dass sich die Mädchen darüber freuen würden, froh gestimmt gewesen, aber der Tod der unbekannten alten Frau hatte diese Stimmung ins Gegenteil umschlagen lassen. Denise war nun traurig und deprimiert. Trotz der Hitze fröstelte sie. Seufzend wollte sie das Paket wieder aufnehmen, als sie hörte, dass jemand neben ihr leise, doch anhaltend schluchzte. Es gelang ihr unschwer, den Urheber dieses Geräusches festzustellen. Da stand ein kleiner, ungefähr fünfjähriger Junge, zusammengesunken, mit bebenden Schultern. Von seinem Gesicht war nichts zu erkennen, denn er hielt den Kopf gesenkt. Denise sah nur seine blonden, glatten halblangen Haare. Doch niemand kümmerte sich um das Kind. Die Leute hasteten alle vorüber.

»Warum weinst du? Was ist denn geschehen?«, fragte Denise den Jungen.

Ihre Stimme schien ihn trotz des sanften Tons zu erschrecken, denn er zuckte zusammen und warf ihr aus verquollenen Augen einen schüchternen Blick zu. »Meine Großmutti ist fort«, würgte er, von neuerlichem Schluchzen geschüttelt, hervor. Er schnupfte auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase.

Denise öffnete ihre Handtasche und holte ihr Taschentuch hervor. Damit putzte sie ihm die Nase und versuchte, auch seine Augen zu trocknen, doch die Tränen rannen ihm immer von neuem über die Wangen.

»Komm, dort drüben ist der Informationsschalter. Ich gehe mit dir hin. Wir wollen die Dame bitten, deine Großmutti über den Lautsprecher auszurufen. Du weißt doch, wie du heißt?«

»Anselm Nissel. Aber das nützt nichts.« Der Junge schüttelte trostlos den Kopf.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bleibe bei dir, bis dich deine Großmutti holt.« Denise nahm den Jungen bei der Hand und wollte ihn wegziehen, doch Anselm rührte sich nicht vom Fleck. Seine Tränen flossen unaufhörlich weiter. Das Taschentuch von Denise war nun schon ganz nass. Sie versuchte den Jungen von neuem zu beruhigen. »Du brauchst doch nicht so sehr zu weinen. Bestimmt sucht dich deine Großmutti. Was wird sie von dir denken, wenn du so verweint bist?«

»Nein, meine Großmutti sucht mich nicht. Sie ist fort und hat mich hier allein gelassen.«

Denise faßte ihn nun genauer ins Auge. Er sah ganz und gar nicht nach einem vernachlässigten Kind aus. Er war hübsch und adrett gekleidet und für einen kleinen Jungen erstaunlich sauber gewaschen.

Denise überlegte, ob er vielleicht so schlimm gewesen war, dass seine Großmutter sich bemüßigt gefühlt hatte, ihm eine Lektion zu erteilen, aber sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Die schüchternen blaugrauen Augen, der zarte Mund und die etwas blassen Wangen überzeugten sie davon, dass sie einen sehr braven Jungen vor sich hatte.

»Ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll. Erzähl mir einmal genau, was vorgefallen ist«, forderte Denise ihn schließlich auf.

Folgsam begann Anselm zu erzählen: »Meine Großmutti wollte eine Salatschüssel und neue Suppenteller kaufen. Wir sind eine Weile herumgegangen und haben geschaut, wo das Geschirr ist. Es war furchtbar heiß, und die Leute haben uns immer wieder weggedrängt.«

Denise nickte. Ihr selbst war es heute genauso ergangen. »Und in dem Gedränge hast du deine Großmutti verloren?«, vermutete sie, als Anselm stockte.

»Nein. Sie hat mich doch an der Hand gehalten. Aber auf einmal ist sie stehengeblieben und hat gesagt, dass ihr schlecht ist und dass wir schnell hinaus auf die Straße gehen sollten. Dabei hat sie mich losgelassen und ist umgefallen. Ich wollte sehen, was los ist, aber da waren so viele Leute. Sie haben mich immer weiter weg von meiner Großmutti geschoben. Und dann ist ein Auto gekommen. Sie haben meine Großmutti hineingelegt und sind fortgefahren.«

Denise war erschüttert. An die Möglichkeit, dass es sich bei der verstorbenen Frau um Anselms Großmutter handeln könnte, hatte sie nicht gedacht.

Anselm blickte vertrauensvoll zu ihr auf. »Vielleicht kannst du mich zu meiner Großmutti bringen?«, schlug er vor.

»Nein. Das ist nicht möglich«, erwiderte Denise. Sie wusste, der Junge hatte noch nicht erfasst, dass seine Großmutter tot war, und sie selbst fühlte sich im Moment außerstande, ihm diese Tatsache beizubringen. »Wo wohnst du denn? Ich werde dich zu deinen Eltern bringen«, sagte sie statt dessen.

»Ich wohne in der Breitegasse Nummer drei, erster Stock, Tür siebzehn. Aber es ist jetzt niemand daheim.«

»Arbeiten deine Eltern? Vielleicht kann ich sie an ihrem Arbeitsplatz erreichen?«

»Meine Mami hat ein Geschäft. Einen Kosmetiksalon.«

»Gut. Sag mir die Adresse. Wir wollen hinfahren.«

»Es ist nicht weit von hier. Hauptstraße hundertneun. Jetzt ist aber nur Frau Kaufmann dort. Meine Mami ist auf Urlaub gefahren.«

Denise war einen Augenblick ratlos, und dieses Gefühl schien sich auf Anselm zu übertragen, denn er begann wieder zu weinen.

»Du brauchst nicht zu weinen, ich lasse dich bestimmt nicht im Stich«, tröstete Denise den Jungen. »Komm, wir wollen erst einmal meine Einkäufe zu meinem Auto tragen. Hilfst du mir dabei?«

Anselm griff willig nach der Tragetasche, in der sich die Schwimmflossen und die Taucherbrille befanden, und folgte Denise. Dieser war inzwischen bewusst geworden, dass Anselm nur von seiner Mutter, nicht aber von seinem Vater gesprochen hatte. Deshalb fragte sie: »Ist dein Vater zusammen mit deiner Mutter auf Urlaub gefahren?«

»Mein Vati? Das weiß ich nicht. Vielleicht.«

Diese vage Auskunft überraschte Denise, aber sie wollte nicht weiter in den Jungen dringen. Doch Anselm erklärte, ohne dass sie ihn dazu aufforderte: »Leider weiß ich nicht, wo mein Vati wohnt. Er besucht uns oft am Samstag oder am Sonntag, aber ich war noch nie in seiner Wohnung.«

Denise hielt es für klüger, auf das Thema Vater nicht näher einzugehen. Anselms Familienverhältnisse schienen etwas undurchsichtig zu sein.

»Wir wollen einmal das Geschäft deiner Mutter und Frau Kaufmann aufsuchen.«

Die Fahrt dorthin war kurz. Denise parkte ihren Wagen in einer Seitengasse und stieg aus. Dann übernahm Anselm die Führung. Er schien sich hier gut auszukennen.«

»Es ist im ersten Stock. Wir müssen läuten.«

Eine blonde, ein wenig übertrieben zurechtgemachte Frau in einem weißen Kittel öffnete. »Ja, Anselm, was machst du denn hier?«, rief sie erstaunt aus. Dann fiel ihr Blick auf Denise, die sich kurz vorstellte und dann fragte: »Sind Sie Frau Kaufmann? Ich muss mit Ihnen eine ernste Angelegenheit besprechen.«

»Ja, gewiss, ich bin Frau Kaufmann. Darf ich Sie in unser Wartezimmer führen? In fünf Minuten stehe ich Ihnen zur Verfügung. Ich habe gerade eine Kundin, aber es wird nicht lange dauern.«

Frau Kaufmann führte Denise in einen geschmackvoll eingerichteten Raum mit elfenbeinfarbenen Tapeten und blauen Polstersesseln. Denise merkte an Anselms Auftreten, dass nun weit sicherer war, dass er sich hier zu Hause fühlte. Er reichte Denise einige Zeitschriften und meinte höflich: »Wenn Sie sich damit inzwischen die Zeit vertreiben wollen, Frau von Schoenecker?«

Denise lächelte. Sie war sicher, dass der Junge diesen Satz seiner Mutter oder Frau Kaufmann abgelauscht hatte.

»Du darfst mich Tante Isi nennen, wie die Kinder in Sophienlust. Leg die Zeitungen wieder weg und setz dich zu mir. Ich werde dir von meinen Söhnen Dominik und Henrik erzählen und von unserem Kinderheim.«

Anselm lauschte gebannt Denises Schilderung. Sie beschrieb ihm Sophienlust, das Haus und den Park, die Kinder und Schwester Regine. Sie hatte vor, ihn zu fragen, ob er mit ihr kommen wolle, um einige Tage in Sophienlust zu bleiben, bis seine Mutter von ihrem Urlaub zurückgekehrt war. Doch der Eintritt Frau Kaufmanns unterbrach ihre Erzählung.

»So, nun habe ich Zeit. Für heute ist niemand mehr vorgemerkt. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?« Sie sah Denise neugierig an.

»Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Anselm hat heute seine Großmutter beim Einkaufen begleitet.« Denise zögerte. Sie bemühte sich, die richtigen Worte zu finden, um Anselm nicht zu sehr zu erschüttern. »Plötzlich ist die Frau zusammengebrochen. Ich war selbst nicht dabei, ich habe nur gehört, wie der herbeigerufene Arzt festgestellt hat, dass sie einem Gehirnschlag erlegen ist.«

»Das ist ja schrecklich. Die alte Frau Nissel ist tot?«, rief Frau Kaufmann entsetzt.

Denise nickte.

»Sie ist doch immer ganz gesund gewesen. Und gar so alt war sie auch noch nicht. Ich habe sie nur immer die alte Frau Nissel genannt, um sie von meiner Chefin zu unterscheiden. Was mache ich jetzt bloß?«

»Großmutti ist tot?« Anselm war bleich geworden. »Ich habe geglaubt, sie sei krank. Ist sie wirklich gestorben, so, wie unsere Gemüsefrau? Kommt sie nun auch nie mehr zurück?«

»Ja, mein armer Kleiner. Was fange ich nun mit dir an, bis deine Mutter zurückkommt?« Frau Kaufmann hatte Anselm in ihre Arme gezogen, was diesem aber nicht zu behagen schien, denn er wand sich los.

Denise schaltete sich ein: »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wenn Anselm einverstanden ist, nehme ich ihn mit nach Sophienlust. Das ist ein Kinderheim in Wildmoos, das ich für meinen Sohn verwalte. Anselm wäre dort gut aufgehoben. Ich will mich natürlich nicht aufdrängen. Wenn Anselm Verwandte hat, bei denen er bleiben kann …«

»Nein, die hat er eben nicht«, fiel Frau Kaufmann ihr ins Wort. »Ich kenne zumindest niemanden. Nicht einmal seinen Vater. Aber die Familienverhältnisse meiner Chefin gehen mich natürlich nichts an«, fügte sie hastig hinzu, als sie Denises ablehnende Miene bemerkte.

Anselm hatte die Bemerkung Frau Kaufmanns über seinen Vater überhört, denn Denises Angebot, ihn mitzunehmen, beschäftigte ihn voll und ganz. »Ich darf wirklich mitkommen?«, fragte er. »Ich werde Heidi, Henrik und alle anderen Kinder kennenlernen?«

»Ja«, versicherte Denise, »aber du darfst nicht ungeduldig sein. Ich muss mit Frau Kaufmann noch einiges besprechen. Zunächst einmal ist es notwendig, dass deine Mutter verständigt wird. Würden Sie das erledigen, Frau Kaufmann?«

Die Angesprochene machte ein betretenes Gesicht. »Wenn es möglich wäre, würde ich es schon übernehmen. Aber ich weiß nicht, wohin Frau Nissel gefahren ist. Sie hat keine Urlaubsanschrift hinterlassen.«

»Sie haben keine Ahnung, wo Frau Nissel sich befindet?«

»Nein. Bis jetzt habe ich auch noch keine Post von ihr bekommen.«

»Mir hat Mami eine Karte geschickt«, meldete sich Anselm.

Erwartungsvoll beugte sich Denise über das Kind. »Steht eine Adresse darauf? Vielleicht von dem Hotel, in dem deine Mutter wohnt?«

»Nein. Ich glaube nicht. Aber ich kann noch nicht lesen. Großmutti«, sein Gesicht umwölkte sich wieder, »Großmutti hat mir alles vorgelesen. Ich habe es mir genau gemerkt: Viele Bussi schickt dir Mami von einem Ausflug in die Wüste. Vorne auf der Karte waren zwei komische Bäume – Palmen heißen diese Bäume – und ein Kamel. Und ein schöner blauer Himmel.«

»Ich fürchte, wir werden warten müssen, bis Frau Nissel von selbst zurückkommt«, meinte Frau Kaufmann. »Darf Anselm so lange in Sophienlust bleiben? Ich kann nicht sagen, wie lange das dauern wird. Meine Chefin hat mich auch über die Länge ihres Urlaubs im unklaren gelassen.« Als sie merkte, dass Denise erstaunt war, fuhr sie fort: »Frau Nissel ist recht häufig abwesend. Sie überlässt dann die Führung des Geschäftes mir. Ich beklage mich nicht darüber, denn Frau Nissel ist sehr großzügig. Ich kann die Arbeit selbständig erledigen und verdiene genügend.«

Rasch erklärte Denise, dass Anselms Aufenthalt in Sophienlust unbegrenzt sei. Dann kam sie auf die notwendigen Formalitäten für das Begräbnis zu sprechen und fuhr fort: »Wenn die Verstorbene keinen Ausweis bei sich hatte, ist nicht einmal ihre Identität geklärt. Den Jungen hat niemand beachtet. Die Leute haben ihn weggedrängt, und niemand wusste, dass er zu der alten Frau gehörte. Wenn ich nicht stehengeblieben wäre, um mein Paket einen Augenblick lang abzustellen, wäre er auch mir nicht aufgefallen.« Denise strich Anselm, dem der Schrecken dieses Nachmittags nun wieder voll zu Bewusstsein kam, tröstend über die Haare. »Du darfst jetzt nicht mehr weinen. Du wirst sehen, in Sophienlust wird es dir gefallen. Wir werden sofort hinfahren.«

»Ja«, stimmte Frau Kaufmann ihr zu, »der kleine Junge muss auf andere Gedanken kommen. Ich werde mich um alles Weitere kümmern. Könnten Sie mir Ihre Telefonnummer geben, damit ich Sie erreichen kann?«

»Ja, natürlich. Hier ist meine Karte. Falls Sie einmal Zeit haben, wird sich Anselm gewiss über Ihren Besuch freuen. Sie sind uns immer willkommen.«

»Danke. Ich bin so froh, dass Sie sich um den Jungen kümmern. Ich wüsste nicht, was ich mit ihm anfangen sollte, aber irgendwie fühle ich mich doch verantwortlich für ihn, da sonst niemand da ist.«

Denise und Anselm verabschiedeten sich von Frau Kaufmann, die Denise noch einmal versicherte, dass sie alles Nötige für das Begräbnis in die Wege leiten würde.

Denise blickte besorgt auf ihre Uhr. Es war spät geworden. Alexander, ihr Mann, würde sich wahrscheinlich schon wundern, wo sie so lange blieb. Aber bevor sie heimfuhr nach Schoen­eich, musste sie Anselm noch in Sophienlust abliefern und eine Weile bei ihnen bleiben, damit er sich eingewöhnte. Der Schock, den er eben erlitten hatte, würde lange nachwirken.