Der verschollene Sohn - Bettina Clausen - E-Book

Der verschollene Sohn E-Book

Bettina Clausen

0,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Mutti?« Ungeduldig drehte sich Carsta Fernau nach ihrer kleinen Tochter um. Ulrike war barfuß und im Nachthemd. Als sie den abweisenden Blick der Mutter sah, schob sie schnell zwei Finger in den Mund. »Was willst du denn noch?« Carsta hatte telefonieren wollen. Jetzt knallte sie den Hörer zurück auf die Gabel. Ulrike zuckte zusammen. Hilflos gruben sich ihre kleinen Zehen in den flauschigen Teppichboden. Sie hatte nur noch etwas fragen wollen. Und jetzt war die Mutti schon wieder böse. »Du sollst doch längst im Bett sein. Warum bist du noch nicht in deinem Zimmer?« »Niemand hat mich nach oben gebracht«, wisperte Ulrike. »Herrgott noch mal! Du bist doch kein Baby mehr«, explodierte Carsta. »Mit vier Jahren solltest du wirklich schon selbstständiger sein.« »Was ist denn los?« Ein hochgewachsener Mann betrat das luxuriöse Wohnzimmer. Sofort lief Ulrike zu ihm. »Vati!« »Bringe deine Tochter ins Bett«, befahl Carsta. »Sie kann das nicht allein.« »Sie ist nicht nur meine, sondern auch deine Tochter«, sagte Daniel Fernau mit leisem Tadel in der Stimme. Doch er nahm Ulrike liebevoll auf den Arm und ging mit ihr aus dem Zimmer. Gereizt blickte Carsta ihm nach. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und begann wieder eine Telefonnummer zu wählen. Belegt. Sie knallte den Hörer zurück auf die Gabel, ging unruhig im Zimmer auf und ab und begann wieder zu wählen. Endlich erklang das Freizeichen. Gleich darauf wurde am anderen Ende abgehoben. Eine weibliche Stimme meldete sich. Bei dem nun stattfindenden Gespräch ging es um Ulrike. »Ich kann mich einfach nicht mehr um das Kind kümmern«, klagte Carsta. »Ich bin mit

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 142

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust –141–

Der verschollene Sohn

Bettina Clausen

»Mutti?«

Ungeduldig drehte sich Carsta Fernau nach ihrer kleinen Tochter um.

Ulrike war barfuß und im Nachthemd. Als sie den abweisenden Blick der Mutter sah, schob sie schnell zwei Finger in den Mund.

»Was willst du denn noch?« Carsta hatte telefonieren wollen. Jetzt knallte sie den Hörer zurück auf die Gabel.

Ulrike zuckte zusammen. Hilflos gruben sich ihre kleinen Zehen in den flauschigen Teppichboden. Sie hatte nur noch etwas fragen wollen. Und jetzt war die Mutti schon wieder böse.

»Du sollst doch längst im Bett sein. Warum bist du noch nicht in deinem Zimmer?«

»Niemand hat mich nach oben gebracht«, wisperte Ulrike.

»Herrgott noch mal! Du bist doch kein Baby mehr«, explodierte Carsta. »Mit vier Jahren solltest du wirklich schon selbstständiger sein.«

»Was ist denn los?« Ein hochgewachsener Mann betrat das luxuriöse Wohnzimmer.

Sofort lief Ulrike zu ihm. »Vati!«

»Bringe deine Tochter ins Bett«, befahl Carsta. »Sie kann das nicht allein.«

»Sie ist nicht nur meine, sondern auch deine Tochter«, sagte Daniel Fernau mit leisem Tadel in der Stimme. Doch er nahm Ulrike liebevoll auf den Arm und ging mit ihr aus dem Zimmer.

Gereizt blickte Carsta ihm nach. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und begann wieder eine Telefonnummer zu wählen. Belegt. Sie knallte den Hörer zurück auf die Gabel, ging unruhig im Zimmer auf und ab und begann wieder zu wählen.

Endlich erklang das Freizeichen. Gleich darauf wurde am anderen Ende abgehoben. Eine weibliche Stimme meldete sich.

Bei dem nun stattfindenden Gespräch ging es um Ulrike. »Ich kann mich einfach nicht mehr um das Kind kümmern«, klagte Carsta. »Ich bin mit Arbeit überlastet.«

»Drehst du wieder einen Film?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung.

Carsta bejahte. »Ich habe gestern einen Fernsehfilm beendet. Morgen muss ich zu Probeaufnahmen nach Rom fliegen. Und so geht es weiter. Mir bleibt keine Zeit, Mutter zu spielen.« Sie lauschte einen Moment in den Hörer. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Na, wunderbar! Das werde ich gleich Daniel sagen. Vielen Dank, meine Liebe. Du hast mir damit einen großen Gefallen getan.«

»Womit?«, fragte Daniel, als Carsta den Hörer wieder aufgelegt hatte.

Carsta wirbelte herum. »Monika hat mir einen großen Gefallen getan«, erzählte sie aufgekratzt. »Sie hat ein Heim gefunden, das bereit ist, Ulrike für einige Zeit aufzunehmen.«

»Ein Kinderheim?«, fragte Daniel entgeistert. »Du willst Ulli in ein Heim geben?«

»Was sollen wir denn sonst mit ihr machen?«, fragte Carsta ungeduldig. »Du hast keine Zeit, dich um sie zu kümmern. Und ich stecke bis zum Hals in Dreharbeiten. Ulrike kann nicht sich selbst überlassen bleiben.«

»Nein. Das kann sie allerdings nicht.« Daniel sank in einen der tiefen Sessel und stützte den Kopf in beide Hände.

»Gibt es denn keinen anderen Ausweg als ein Kinderheim?«, fragte er nach einer Weile.

»Sophienlust ist kein normales Heim«, erklärte ihm seine Frau geduldig. »Es soll ein wahres Paradies für Kinder sein.« Rasch erzählte sie ihm, was sie eben von ihrer Freundin erfahren hatte.

Daniel nickte. »Na gut. Es bleibt uns ja wohl auch nichts anderes übrig.« Er dachte an seine Firma, die kurz vor dem Ruin stand. Wenn es ihm nicht gelang, neue Aufträge zu bekommen, war alles verloren. Dann muss ich auch das Haus hier verkaufen, dachte er. In dieser Situation habe ich wirklich keine Zeit, mich auch noch um Ulrike zu kümmern.

Carsta hatte inzwischen ständig weitergesprochen, und er hatte zu allem genickt.

»Wenn du willst, kannst du Ulrike schon in den nächsten Tagen nach Sophienlust bringen«, sagte sie jetzt. »Hier habe ich alles aufgeschrieben. Wo das Heim liegt und wie die Heimleiterin heißt.« Sie reichte ihm einen Zettel, den er apathisch einsteckte.

»Wann fliegst du nach Rom?«

»Morgen oder übermorgen«, antwortete sie und strich sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie trug einen langen Hausmantel aus weißer Seide. »Wenn die Probeaufnahmen gut ausfallen, bekomme ich die Hauptrolle.« Sie trat zu dem hohen Barockspiegel und betrachtete sich prüfend. Zuerst ihr Gesicht, dann ihre gertenschlanke Figur. Es gibt nichts an mir auszusetzen, dachte sie. Ich kann es mit jeder Achtzehnjährigen aufnehmen, was mein Aussehen betrifft. Und was Erfahrung und Können angeht, bin ich jeder jungen Schauspielerin überlegen.

»Wie viel bekommst du für die Hauptrolle in diesem Film?«, fragte Daniel.

Carsta schürzte die Lippen. »Hunderttausend sind es bestimmt.«

Er hielt unwillkürlich die Luft an. Nur die Hälfte davon würde ausreichen, um den drohenden Konkurs von meiner Firma abzuwenden, dachte er und schaute seine schöne Frau an, die ein paar Grimassen vor dem Spiegel schnitt. »Es ist eine komische Rolle«, sagte sie.

Doch Daniel hörte ihr gar nicht zu. Ihn beherrschte nur noch ein Gedanke. Wenn Carsta mir hilft, wenn sie nur einen Teil ihrer Gage in mein Unternehmen steckt, sind wir gerettet, dachte er. Er schaute sie fragend an. »Was willst du mit dem vielen Geld machen?«

»Bis jetzt habe ich es noch nicht.«

»Aber wenn du es kriegst«, sagte er drängend. »Nehmen wir einmal an, du bekommst die Rolle?«

Sie wirbelte in einer Pirouette herum. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mein sauer verdientes Geld in dein Pleiteunternehmen stecke?«

»Aber, Carsta …«

Weiter kam er nicht. »Du weißt doch genauso gut wie ich, dass du ruiniert bist«, erklärte sie hart.

»Ich könnte wieder hochkommen. Das, was mir fehlt, ist Kapital.«

»Und Aufträge«, ergänzte sie. »Was nützt es, wenn ich mein Geld in dein Unternehmen stecke und du keine Aufträge heranbringst? Dann ist mein Geld auch noch beim Teufel.«

Damit hatte sie natürlich recht. »Ich werde Aufträge heranschaffen«, versprach er ihr.

»Ach, was!« Sie winkte ab. »Hör doch auf, mir Märchen zu erzählen.«

»Aber es ist doch auch dein Unternehmen, Carsta! Schließlich sind wir verheiratet.«

Sie überhörte die Verzweiflung in seiner Stimme. »Es ist dein Unternehmen. Ich will nichts damit zu schaffen haben. Klar?«

Er nickte. Gedemütigt und deprimiert. Nach ein paar Minuten stand er auf und ging aus dem Zimmer, weil er einfach nicht mehr zusehen konnte, wie unbekümmert sie vor dem Spiegel hin und her tanzte.

»Wann bringst du Ulrike in das Kinderheim?«, rief sie ihm nach.

»Morgen.« Ihre Antwort hörte er nicht mehr, weil er die Tür hinter sich zuschlug.

Seit zwei Jahren hatten sie getrennte Schlafzimmer. In dieser Nacht war Daniel zum ersten Mal froh darüber. Keine Minute länger hätte er seine Frau ertragen. Ist es ihr denn wirklich völlig gleichgültig, was aus unserer Firma wird?, fragte er sich. Was aus unserem Kind wird? Und was aus unserer Ehe wird? Als er Carsta geheiratet hatte, war sie eine unbekannte kleine Schauspielerin gewesen. Sie hatte damals kaum etwas verdient. Er aber hatte gerade die Fabrik und die Villa in München geerbt gehabt und war stolz gewesen, seiner schönen jungen Frau all diesen Luxus bieten zu können. Vielleicht hätte ich sie gar nicht heiraten sollen, dachte er. Doch gleich darauf erschrak er über diesen Gedanken. Schließlich liebte er Carsta. Trotz all ihrer Launen. Nur dieser Egoismus machte ihn nachdenklich. So war sie doch früher nicht, überlegte er.

Erschrocken zuckte er zusammen, als das Telefon läutete. Er hob ab, denn er erwartete trotz der späten Stunde noch einen Anruf seines kaufmännischen Direktors.

»Ohne fremdes Kapital kommen wir aus den roten Zahlen nicht heraus«, hörte er den Mann sagen. Genau das hatte er befürchtet.

»Auch nicht durch plötzlichen Auftragseingang?«, fragte er.

»Auch dann nicht. Ich habe zusammen mit einem Wirtschaftsberater unsere Lage sehr genau überprüft, wie Sie es angeordnet haben, Herr Fernau.«

Daniel bedankte sich und legte auf. Jetzt kann mich nur noch ein Wunder retten, dachte er.

Inzwischen hatte Carsta ihren Auftritt vor dem Spiegel beendet und war ebenfalls in ihr Schlafzimmer gegangen. Hier öffnete sie den fünf Meter langen Kleiderschrank. Ihr Schlafzimmer war so groß wie bei anderen Leuten eine große Wohnung. Ich muss mit einer guten Garderobe in Rom auftauchen, dachte sie und nahm einige Kleider aus dem Schrank. Sie betrachtete sie und hängte sie schließlich kopfschüttelnd wieder in den Schrank zurück. Alles ungeeignet, dachte sie. Ich brauche etwas Neues. Schick und raffiniert muss es sein. Es muss auch meine Figur betonen, darf mich aber nicht billig machen. Gleich morgen hebe ich fünftausend Euro von meinem Konto ab und gehe einkaufen, beschloss sie. Gut, dass Daniel Ulrike schon morgen ins Heim bringen will.

Bevor Carsta sich schlafen legte, machte sie ausgiebig Toilette. Mein Gesicht ist schließlich mein wichtigstes Kapital, sagte sie sich. Gut, dass meine Haut nicht zur Faltenbildung neigt.

*

Carsta saß bereits beim Frühstück, als die betagte Haushälterin Ulrike hereinbrachte. Die Kleine schnüffelte und richtete ihre großen blauen Augen flehend auf die Mutter. »Muss ich wirklich weg?«

Carsta schaute ungeduldig auf die Uhr. Ich hätte das Haus schon früher verlassen sollen, dachte sie. Jetzt wird es eine Weile dauern, bis ich das Kind beruhigt habe. »Komm einmal her«, sagte sie.

Hoffnungsvoll lief Ulrike um den Tisch herum.

»Jetzt putz dir erst einmal die Nase. Wie siehst du denn aus?«

Folgsam trompetete Ulrike in ihr Taschentuch. »Lässt du mich hierbleiben, Mutti?«

»Das geht nicht, Kind«, lautete die unwirsche Antwort.

Ein neuerlicher Tränenstrom war die Folge.

Da sprang Carsta auf. »Ich muss jetzt gehen. Vati wird mit dir früh­stücken und dich dann nach Sophienlust bringen. Dort gefällt es dir bestimmt.« Sie gab der Kleinen einen flüchtigen Kuss und rauschte aus dem Zimmer.

Verloren stand Ulrike neben dem Frühstückstisch. Ihre Tränen flossen jetzt so stark, dass auch die Nase nicht untätig blieb. Sie schnüffelte und fuhr sich schließlich mit dem Ärmel übers Gesicht.

Das sah die Haushälterin, die gerade mit Kakao und frischen Brötchen kam.

Sie putzte Ulrike die Nase und setzte sie an den Tisch. Eine Schande ist es, wie diese Mutter ihr Kind behandelt, dachte sie dabei. »Weine nicht mehr, mein Kleines. Vielleicht gefällt es dir in diesem Kinderheim sogar besser als zu Hause.«

Doch Ulrike schüttelte schnüffelnd den Kopf. Für sie war eine Welt zusammengebrochen.

Eine halbe Stunde später war sie mit ihrem Vater unterwegs nach Sophienlust. Sie weinte jetzt nicht mehr, aber sie sprach auch nicht. Sie war in völlige Apathie versunken.

Daniel Fernau war so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie sehr seine Tochter litt. »Ich werde dich wieder nach Hause holen, sobald es geht«, versprach er ihr, als sie Sophienlust erreicht hatten.

Ulrike machte sich ganz klein in dem großen Auto. Sie hatte Angst. Vor dem fremden Haus, vor den vielen fremden Kindern und auch vor dem großen Hund, der jetzt zum Auto kam.

»Barri, komm zurück«, rief eines der Kinder. Es war Pünktchen. Sie hatte gesehen, dass das kleine Mädchen beim Aussteigen zusammengezuckt war. Barri hatte sie mit seiner weichen Schnauze angestupst. Die Kleine konnte ja nicht wissen, dass Barri gutmütig war und nur spielen wollte. Immerhin war er ein ausgewachsener Bernhardiner, vor dem ein kleines Mädchen schon Angst bekommen konnte.

»Komm zurück, Barri«, befahl Pünktchen noch einmal. Da endlich gehorchte der Hund. Er hörte auf, das fremde kleine Mädchen zu beschnuppern, und lief zu Pünktchen zurück.

Erleichtert ließ Ulrike die erhobenen Arme sinken und warf Pünktchen einen dankbaren Blick zu.

Die arme Kleine hat ja entsetzliche Angst, dachte Pünktchen, als sie diesen gequälten Blick sah. Sie drückte Henrik das Hundehalsband in die Hand und kam zu Ulrike.

»Ich heiße Pünktchen«, sagte sie und lächelte. »Du bist Ulrike, nicht wahr?«

Ulrike nickte. »Woher weißt du das?«, fragte sie schüchtern.

»Von unserer Heimleiterin. Wir nennen sie Tante Ma.« Pünktchen deutete auf Else Rennert.

Aber auch die mütterliche Heimleiterin sah in Ulrikes Augen drohend und gefährlich aus. Ängstlich klammerte sich die Kleine an Pünktchens Hand. Das war im Moment ihr einziger Halt. Ihr Vati wollte sie ja allein lassen.

Daniel Fernau hatte soeben Else Rennert und Denise von Schoenecker begrüßt. »Wir wissen schon Bescheid«, sagte Denise freundlich. »Eine Freundin Ihrer Frau hat uns gebeten, Ulrike für einige Zeit aufzunehmen.«

Daniel nickte. »Ich möchte Ihnen gern erklären, aus welchen Gründen wir uns zu einem solchen Schritt entschlossen haben.«

»Gern«, sagte Denise. »Wir gehen gleich anschließend ins Biedermeierzimmer. Aber jetzt möchte ich erst einmal Ihre kleine Ulrike begrüßen. Sie sieht sehr verschüchtert aus.«

»Ulrike war schon immer ein sehr ängstliches und zurückhaltendes Kind«, sagte Daniel und winkte seiner Tochter. »Komm her, Ulrike.«

Doch Ulrike ließ Pünktchens Hand nicht los. »Ich komme mit«, beruhigte Pünktchen die Kleine und ging mit ihr zu Denise von Schoenecker.

Diese verstand die Not des Kindes und machte nicht viel Worte. Sie streichelte die blassen Kinderwangen und nahm dann Ulrike spontan auf den Arm.

Das war etwas Neues für Ulrike. Ihre Mutter nahm sie schon lange nicht mehr auf den Arm. Nicht einmal auf den Schoß, weil sie immer befürchtete, ihre Kleider könnten zerdrückt werden. Und jetzt wurde sie hier von einer ganz wildfremden Frau gestreichelt und sogar auf den Arm genommen. Vielleicht waren die vielen fremden Menschen doch nicht so garstig, wie sie aussahen?

»Ihr habt noch genügend Gelegenheit, Ulrike kennenzulernen«, sagte Denise zu den Kindern.

Die verstanden, was damit gemeint war, und zerstreuten sich.

»Die Kleine tut mir richtig leid«, sagte Irmela, als Denise mit ihrem Besuch im Haus verschwunden war.

Vicky nickte. »Mir auch. Sie hatte vor Angst ganz große kugelrunde Augen. Gut, dass sich Pünktchen gleich um sie gekümmert hat.«

»Bei so etwas ist Pünktchen ganz groß«, erklärte Nick. »Sie hat einfach einen sechsten Sinn dafür, dass jemand Hilfe braucht.«

In diesem Moment trat Pünktchen mit Ulrike aus dem Haus. »Ich gehe mit Ulrike zu den Ponys«, rief sie den Kindern zu.

»Wir kommen mit!« Henrik spurtete hinter den beiden her. Dabei dachte er: Das, was Pünktchen fertigbringt, das kann ich schon lange. Er lachte Ulrike offen an und nahm sie ebenfalls bei der Hand. »Jetzt passen wir auf, dass dir niemand etwas tut«, sagte er.

Ulrike lächelte schüchtern zurück. Sie fühlte sich schon ein bisschen sicherer. Auch freute sie sich auf die Ponys.

Auf dem Weg zur Ponywiese erzählte Pünktchen von den Tieren in Sophienlust. »Der große Bernhardiner, der dich begrüßt hat, heißt Barri. Er ist sehr lieb und anhänglich und gutmütig.«

»Und gar nicht böse«, ergänzte Henrik schnell, denn er wollte auch etwas sagen. »Außerdem haben wir noch einen Papagei, der richtig sprechen kann.«

Ulrike schaute ihn ungläubig an.

»Wirklich«, versicherte Henrik ihr. Er war nun ganz in seinem Element. Bis zur Weide redete er ununterbrochen und nahm Ulrike damit die erste Scheu. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als zuzuhören.

Doch als sie doch eine Frage beantworten musste und alle Kinder sie anschauten, wurde sie rot und begann zu stottern.

»Ulrike erzählt euch das später«, sagte Pünktchen schnell. Schützend legte sie ihren Arm um Ulrikes Schultern.

Neidisch schaute Henrik zu. So gut wie Pünktchen kann ich das natürlich nicht, dachte er. Aber sie ist ja auch ’n Mädchen. Mädchen können so etwas immer besser. Um Ulrike zu zeigen, dass er sie auch mochte, schenkte er ihr seine selbstgeschnitzte Pfeife aus Weidenholz. »Du kannst darauf richtig pfeifen. Pass auf, ich zeige es dir.« Er blies hinein, bis ein Ton herauskam. Dann reichte er die Pfeife Ulrike.

Die Kleine nahm sie ganz fest in die Hand und betrachtete sie mit einem glücklichen kleinen Lächeln.

*

Während sich die Kinder um Ulrike bemühten, unterhielt sich Denise von Schoenecker mit Daniel Fernau. Er schilderte ihr die Situation seiner Ehe und die Katastrophe, die sich in seinem Werk anbahnte.

»Was stellt Ihre Firma eigentlich her, Herr Fernau?«, fragte Denise.

»Kameras und Fotozubehör. Es ist ein moderner, vollkommen technisierter Betrieb, dem nur Kapital, das heißt, neue Aufträge fehlen.«

»Könnte Ihnen Ihre Frau da nicht ein bisschen unter die Arme greifen?«, fragte Denise. »Als Filmschauspielerin bekommt sie doch sicher hohe Gagen?«

»Ja, sie bekommt sehr hohe Gagen«, sagte Daniel langsam. »Aber sie ist nicht bereit, das Geld oder einen Teil davon in mein Werk zu stecken – aus Angst, es zu verlieren.«

Denise sagte nichts mehr. Dazu gab es auch nichts zu sagen. Eine solche Haltung verriet schon alles.

»Zuerst war ich dagegen, Ulrike in ein Heim zu geben«, berichtete Daniel. »Schließlich ist sie weder Vollwaise noch Halbwaise, sondern hat Eltern und ein Zuhause.«

»Manchmal ist der Umgang mit Gleichaltrigen für die Entwicklung eines Kindes aber gesünder«, bemerkte Denise.

»Sie haben mir die Worte aus dem Mund genommen«, pflichtete Daniel ihr bei. »Nachdem ich Sophienlust jetzt gesehen habe, bin ich sicher, dass der Aufenthalt hier meiner Tochter nur guttun wird. Sie wurde zu Hause sehr vernachlässigt. Ich kann mich nicht um das Kind kümmern, weil mich der Existenzkampf in Atem hält. Und meiner Frau ist ihre Karriere wichtiger.« Er schwieg.

Auch Denise hatte nichts mehr zu sagen. Sie versicherte ihm nur noch einmal, dass man in Sophienlust alles für das Wohlergehen von Ulrike tun werde.

Daraufhin verabschiedete sich Daniel von Denise. Von Ulrike verabschiedete er sich auf der Weide. Er nahm sie ein wenig beiseite.

Trotzdem schauten die anderen Kinder zu.

»Nun starrt doch nicht so neugierig hinüber«, schimpfte Nick. Sofort wandten sich alle Köpfe ab.

»Sei schön brav und vergiss Vati nicht«, sagte Daniel zu seiner kleinen Tochter und gab ihr einen Kuss.

Ulrike schluckte. »Gehst du jetzt?«

»Ja, mein Kleines. Ich muss nach Hause zurück und arbeiten. Fleißig arbeiten, damit wir dich bald wieder heimholen können.«

»Muss Mutti auch arbeiten?«