Sophienlust 147 – Familienroman - Bettina Clausen - E-Book

Sophienlust 147 – Familienroman E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Müde kam Claudia Zimmermann an diesem Sommerabend vom Büro nach Hause. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie hatte laufend englische und französische Fachtexte übersetzen müssen. Das Telefon schrillte. Nur zögernd griff Claudia nach dem Hörer. Sie erwartete keinen Anruf Es meldete sich eine fremde Frau. "Sie kennen mich nicht, Frau Zimmermann. Ich bin eine Bekannte Ihrer Schwester." Claudia erschrak. Sie hatte Karin seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen und auch nichts von ihr gehört. Karin war als Achtzehnjährige aus dem Elternhaus davongelaufen und nie mehr zurückgekehrt. Claudia hatte der älteren Schwester nicht einmal den Tod der Eltern mitteilen können. Aber auch das lag jetzt schon wieder einige Jahre zurück. Und nun meldete sich Karin plötzlich.

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Sophienlust – 147–

Sprache des Herzens

Wie Cornelia und Tanja eine neue Mami bekamen

Bettina Clausen

Müde kam Claudia Zimmermann an diesem Sommerabend vom Büro nach Hause. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie hatte laufend englische und französische Fachtexte übersetzen müssen.

Das Telefon schrillte.

Nur zögernd griff Claudia nach dem Hörer. Sie erwartete keinen Anruf

Es meldete sich eine fremde Frau. »Sie kennen mich nicht, Frau Zimmermann. Ich bin eine Bekannte Ihrer Schwester.«

Claudia erschrak. Sie hatte Karin seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen und auch nichts von ihr gehört. Karin war als Achtzehnjährige aus dem Elternhaus davongelaufen und nie mehr zurückgekehrt. Claudia hatte der älteren Schwester nicht einmal den Tod der Eltern mitteilen können. Aber auch das lag jetzt schon wieder einige Jahre zurück. Und nun meldete sich Karin plötzlich.

»Warum ruft meine Schwester mich nicht selbst an?«, fragte Claudia die fremde Frau.

»Sie kann nicht.« Die Anruferin zögerte. Dann fuhr sie fort: »Sie ist schwer krank. Um ganz ehrlich zu sein, Ihre Schwester liegt im Sterben, Frau Zimmermann.«

Claudia erschrak zum zweiten Mal. »Wo ist sie?«

»In Frankfurt.« Die Frau nannte eine Adresse. Mit zitternden Fingern schrieb Claudia mit.

»Bitte, kommen Sie so bald wie möglich«, bat die unbekannte Anruferin noch. Dann legte sie auf.

Claudia saß da und starrte auf den Hörer, den sie immer noch in der Hand hielt. Sie war völlig benommen. Karin liegt im Sterben, dachte sie. Ich muss zu ihr. So schnell wie möglich. Am besten gleich. Doch ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es dafür schon zu spät war. Eine Nachtfahrt wollte sie in ihrem übermüdeten Zustand nicht riskieren.

Ich werde morgen sehr früh losfahren, beschloss Claudia. Was aber, wenn Karin morgen schon nicht mehr lebt?

Claudia sprang auf. Unruhig lief sie in ihrem Appartement auf und ab. Eine halbe Stunde lang überlegte sie. Dann entschloss sie sich doch, erst am nächsten Morgen loszufahren. Sie nahm eine Schlaftablette und legte sich ins Bett. Da sie sonst kaum Medikamente einnahm, schlief sie sofort ein.

Bevor Claudia am nächsten Morgen losfuhr, rief sie in ihrer Firma an und bat um ein paar Tage Urlaub. Während der Fahrt nach Frankfurt wanderten ihre Gedanken zurück in die Kindheit. Karin war drei Jahre älter als sie, jetzt also neunundzwanzig, rechnete Claudia nach. Als Kinder hatten sie oft miteinander gestritten, und als angehende Teenager auch – weil Karin immer unzufrieden gewesen war. Die Schule war ihr zu mühsam gewesen, und einen Beruf zu erlernen, das hatte sie auch abgelehnt. Sie hatte immer nur von Geld, von viel Geld und von Luxus geträumt. Einen Millionär zu heiraten war ihr Wunschtraum gewesen.

Ich frage mich nur, warum sie nie etwas von sich hat hören lassen, überlegte Karin. Doch da hatte sie Frankfurt schon erreicht und musste sich auf den Verkehr konzentrieren.

Die Straße, die die Anruferin ihr genannt hatte, lag in der Stadtmitte. Keine billige Gegend, dachte Claudia. Sie musste lange nach einem Parkplatz suchen, und als sie dann endlich vor dem gesuchten Haus stand, steigerte sich ihr Erstaunen noch. Eine Wohnung in diesem Haus könnte ich mir bestimmt nicht leisten, dachte sie und hatte damit zweifellos recht.

Auf einem Türschild im sechsten Stock fand Claudia den Namen Zimmermann. Also ist Karin nicht verheiratet, überlegte Claudia. Sekundenlang schwebte ihr Finger über dem Klingelknopf. Dann drückte sie.

Ein Gong schlug in der Wohnung an. Dann war lange Zeit nichts mehr zu hören. Bis endlich leise, sanfte Schritte zur Tür kamen.

Aber es war nicht Karin, die öffnete. »Ich bin die Nachbarin«, sagte eine kleine ältere Frau. »Bitte, kommen Sie herein. Sie sind sicher Frau Zimmermann. Ihre Schwester erwartet Sie.«

Claudia betrat eine feudal eingerichtete Diele. Vier Türen zweigten davon ab. Eine stand offen. Sie führte ins Schlafzimmer.

In einem Himmelbett mit Baldachin lag Karin. Claudia erkannte sie sofort wieder. Die gleichen lebhaften Augen, dasselbe schmale Gesicht, nur älter, viel älter wirkte Karin.

Claudia spürte plötzlich einen Kloß im Hals. Vor ihren Augen verschwamm das Bild. Karin war doch erst neunundzwanzig. Aber sie sah aus wie neunundvierzig.

Die Nachbarin ging leise aus dem Zimmer und ließ die beiden Schwestern allein.

Scheu trat Claudia an das Bett. Erst als Karin beide Hände nach ihr ausstreckte, sank sie an die Brust der Kranken. Sie ließ sich von der Älteren streicheln, wie es in ihrer Kindheit oft geschehen war. Dabei spürte sie, dass kaum noch Kraft in Karins Körper war. Die Kranke war abgemagert bis zum Skelett. »Warum …, warum bist du nicht im Krankenhaus?«

»Ich war. Aber sie haben mir erlaubt, zu Hause zu sterben.«

»Karin!«

»Aber ich weiß es doch«, sagte die Kranke leise. »Schon lange weiß ich es. So etwas spürt man einfach.«

Da begann Claudia zu weinen. Sie spürte ebenfalls, dass Karin sterben musste. Sie begriff, dass dies ein Abschied für immer war.

»Warum hast du nie etwas von dir hören lassen?«

Karin begann zu husten und presste schnell ein Taschentuch vor den Mund. Als sie wieder sprechen konnte, klang ihre Stimme noch erschöpfter. »Weil ihr nie erfahren solltet, wie ich lebte.« Ihre durchsichtige weiße Hand hob sich und deutete auf die Zimmereinrichtung.

Claudia hatte den unermesslichen Luxus nicht übersehen. Teure Möbel, wertvolle Teppiche und echte Gemälde.

»Weißt du, wer das alles bezahlt hat?«, fragte Karin.

Stumm schüttelte Claudia den Kopf.

»Ein Mann. Ein verheirateter Mann.«

Claudia schluckte. Sie wartete, bis Karin weitersprechen konnte. Sie spürte, dass die Schwester ihr Gewissen erleichtern, dass sie eine letzte Beichte ablegen wollte.

Karin tastete nach Claudias Hand und fuhr fort: »Ich habe in all den Jahren nicht gearbeitet, aber ich hatte immer einen Freund, der meinen Lebensunterhalt bezahlte.« Ängstlich flatterte ihr Blick zu Claudias Gesicht empor. Jahrelang war es ihr egal gewesen, wie ihre Familie über sie gedacht hatte. Jetzt bettelten ihre Augen um Verständnis, um Verzeihung.

Claudia nickte und drückte Karins Hand. »Sprich weiter.«

Karin erzählte. Ihr Atem ging dabei schwer, sodass sie oft pausieren musste. Trotzdem verschwieg sie nichts. Aber ein Ereignis gestand sie der Schwester erst zum Schluss, das Wichtigste …

»Ich habe ein Kind zur Welt gebracht. Vor fünf Jahren. Ein Mädchen.«

Claudia starrte die Schwester an.

»Du hast eine Tochter?«

»Ich hatte. Ich habe das Kind zur Adoption freigegeben.« Sie senkte den Blick und schwieg.

Auch Claudia sagte zunächst nichts. Sie war zu erschüttert. »Hättest du nur eine einzige Zeile geschrieben, Karin. Ich hätte das Kind gern für dich aufgezogen – oder dich in irgendeiner Weise finanziell unterstützt.«

»Ich war nicht in finanziellen Schwierigkeiten«, erklärte Karin. »Ich habe das Baby weggegeben, weil mein Freund es von mir verlangte. Er ist verheiratet«, fügte sie leise hinzu.

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Claudia entrüstet.

Tränen traten in Karins Augen. »Ich habe nichts anderes erwartet. Ich verstehe mich ja heute selbst nicht mehr.«

Die Kranke begann zu weinen. Leise, fast unhörbar. Die Tränen flossen unaufhörlich über ihre eingefallenen Wangen.

Claudia trocknete Karins Tränen. Dann küsste sie ihre Schwester und flüsterte: »Verzeih mir. Ich wollte dir keine Vorwürfe machen. Ich bin gekommen, um dir zu helfen.«

Da krallten sich Karins Finger in Claudias Hand. »Willst du das wirklich?« Hektische rote Flecke bildeten sich auf ihren bleichen Wangen.

Claudia nickte. Es war ihr ernst.

Karin versuchte, sich im Bett aufzurichten. Claudia stützte sie und brachte ihr Ohr nahe an Karins Gesicht, denn ihre Schwester sprach nun sehr leise und rang keuchend nach Luft.

»Ich habe herausgefunden, wer meine Tochter adoptiert hat. Das war nicht einfach. Es hat mich viel Zeit und auch Geld gekostet, aber ich weiß nun, bei wem meine Tochter aufwächst.« Sie packte Claudias Arm. »Ich habe die Adresse aufgeschrieben. In meiner Schmuckkassette …«

Ein Hustenanfall hinderte die Kranke am Weitersprechen. Claudia hielt den zuckenden, keuchenden Körper ihrer Schwester in ihren Armen.

Als Karin in ihre Kissen zurückfiel, versagte ihr die Stimme vollends. Nur noch ein paar Worte brachte sie hervor. »Hingehen, Claudia … Du musst hingehen … Kümmer dich um mein Kind …«

Ängstlich sprang Claudia auf. Sie lief aus dem Zimmer und rief die Nachbarin, da Karin das Bewusstsein verloren hatte. Aber nach einigen Minuten kam sie wieder zu sich. Inzwischen hatte die Nachbarin zwei Tabletten in Wasser aufgelöst. Während Claudia ihrer Schwester das Glas an die Lippen hielt, rief die Nachbarin den Arzt an.

Als er kam, war Karin eingeschlafen. Sie wachte nicht mehr auf. Noch in derselben Nacht starb sie. Claudia saß bis zum Schloss an ihrem Bett.

Claudia blieb in Frankfurt, bis die Schwester beerdigt war. Drei Tage. Es waren die schwersten Tage ihres Lebens.

Auf dem Friedhof lernte sie noch Karins verheirateten Freund kennen. Sie übergab ihm die Schlüssel von Karins Wohnung. »Alle persönlichen Dinge habe ich herausgenommen. Über den Rest können Sie verfügen.«

»Aber …«

Weiter kam er nicht. Claudia unterbrach ihn abrupt. »Sie haben doch sowieso alles bezahlt«, sagte sie abweisend. »Jetzt bekommen Sie es zurück.«

»Sie hassen mich, nicht wahr?«, fragte er.

Claudia gab ihm darauf keine Antwort. Sie drehte sich um und ging davon. Ob sie diesen Mann wirklich hasste, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie seinen Anblick keine Minute länger hätte ertragen können. Natürlich war es ungerecht, ihm allein die Schuld an Karins Lebenswandel zu geben. Schließlich war Karin erwachsen gewesen und hatte genau gewusst, was sie tat. Aber trotzdem …!, dachte Claudia. Ich will diesen Menschen nie mehr wiedersehen. Ein Mann, der seine Freundin veranlasst, ihr Kind wegzugeben, ist für mich herzlos und unmenschlich.

Bevor Claudia Frankfurt verließ, sprach sie noch einmal mit dem Arzt, der Karin behandelt hatte. Er bestätigte ihr, dass Karin an Leukämie gelitten hatte. Ihre Krankheit sei unheilbar gewesen, erklärte er. »Ihr hätten auch die teuersten Ärzte der Welt nicht mehr helfen können«, fügte er hinzu.

In einem kleinen Lederkoffer befanden sich Karins persönliche Dinge. Fotos und Schmuckstücke, die noch von den Eltern stammten. Unter anderem auch ein unvollständiges Tagebuch. Doch das alles legte Claudia vor­erst beiseite. Nur einen Zettel behielt sie in der Hand. Die Adresse der Familie, die Claudias Tochter adoptiert hatte. Vor fünf Jahren. Also musste das Mädchen jetzt fünf Jahre alt sein.

Claudia versuchte sich das Kind vorzustellen. Doch das gelang ihr nicht. Was soll ich nur tun?, fragte sie sich hilflos. Ich kann doch nicht einfach hingehen und sagen, ich bin die Tante. Sicher hat Karin bei der Freigabe zur Adoption versprechen müssen, sich nicht mehr um das Kind zu kümmern, nie zu versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Und das gilt jetzt natürlich auch für mich, sagte sich Claudia. Soll ich die Adresse vernichten? Doch das würde heißen, Karins letzten Willen zu ignorieren.

Claudia kam von der Vorstellung, dass da irgendwo ein Kind von Karin existierte, nicht mehr los. Wenn ich es wenigstens einmal sehen könnte, dachte sie.

Am nächsten Morgen musste Claudia wieder ins Büro. Es war sehr viel Arbeit liegen geblieben, und sie war voll damit beschäftigt, alles aufzuarbeiten. Trotzdem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dieser Nichte, die sie nicht kannte, zurück.

Schließlich beichtete sie ihren Kummer einer älteren Kollegin, und diese gab ihr einen Rat, den sie für vernünftig und durchführbar hielt.

»Sie können nicht einfach zu dieser fremden Familie fahren«, sagte die Kollegin zu ihr. »Sie wissen ja gar nicht, was Sie dort antreffen. Vielleicht wirft man Sie gleich wieder hinaus. Und dann haben Sie sich für die Zukunft alle Chancen, Kontakt mit Ihrer Nichte zu halten, verdorben.«

»Was soll ich aber tun?«, fragte Claudia. In diesem Moment wünschte sie sich, älter zu sein und mehr Lebenserfahrung zu besitzen.

»Gehen Sie zu einem Privatdetektiv«, riet ihr die Kollegin. »Das ist gar nicht so teuer, wie man allgemein glaubt. Beauftragen Sie ihn, das Zuhause Ihrer Nichte unauffällig zu überwachen und herauszufinden, in welchen Verhältnissen das Kind aufwächst.«

»Und dann?«, fragte Claudia.

»Dann wird man weitersehen. Es ist schwer, Ihnen jetzt schon einen Rat zu geben. Warten Sie ab, was der Detektiv berichtet.«

Claudia befolgte diesen Rat. Sie hob einen Teil ihrer Ersparnisse von der Bank ab. Daneben besaß sie noch das von den Eltern ererbte Geld. Sie hatte es nie angerührt, weil die Hälfte davon ja eigentlich Karin gehört hätte. Jetzt werde ich es benutzen, um Karins letzten Wunsch zu erfüllen, dachte Claudia.

Sie fand einen Privatdetektiv, der bereit war, den Auftrag zu übernehmen. Claudia zahlte ihm einen Vorschuss. Zwei Tage lang hörte sie nichts von ihm. Am dritten Tag rief er sie im Büro an. Er habe alles, was sie wissen wolle, herausgefunden, erklärte er, und erwarte sie am Spätnachmittag in seinem Büro.

Claudia war so nervös, dass sie sich für den Rest des Tages nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Als sie um fünf Uhr dann endlich das Büro verlassen konnte, atmete sie erleichtert auf.

Das Büro des Detektivs lag am entgegengesetzten Ende von Stuttgart. Claudia brauchte über eine halbe Stunde, bis sie es erreichte.

»Der Detektiv erwartete sie schon. »Bitte, setzen Sie sich, Frau Zimmermann.« Er schob ihr zwei Bilder über den Tisch zu. »Das ist alles, was ich an Bildmaterial besorgen konnte.«

Das erste Bild zeigte einen Mann, der gerade in ein Auto einstieg. Das Bild war nicht sehr scharf, aber man sah, dass es sich um einen noch verhältnismäßig jungen und sehr schlanken Mann handelte.

»Armin Reiser«, erklärte der Detektiv. »Ich habe dieses Bild geschossen, als er am Morgen sein Haus verließ und zur Arbeit fuhr.«

Das zweite Bild war deutlich und scharf. Es zeigte keine Personen. »Als ich diese Aufnahme machte, musste ich mich nicht verstecken. Es ist das Haus, in dem Herr Reiser mit seiner Familie wohnt. Beziehungsweise gewohnt hat. Es steht in einem kleinen Dorf in der Nähe von Frankfurt.«

Claudia schaute auf. »Wieso sagen Sie, dass er dort gewohnt hat? Ist er ausgezogen?«

»Nein, Herr Reiser selbst wohnt immer noch in diesem Haus. Aber allein. Seine Frau kam vor zwei Monaten bei einem Autounfall ums Leben. Seine beiden Töchter hat er in einem Kinderheim untergebracht. Aber er möchte sie schnell wieder zu sich holen, sobald er eine Haushälterin gefunden hat, die sich auch um die Kinder kümmert. Das hat mir eine Nachbarin erzählt.«

Claudia betrachtete wieder die beiden Bilder. Das Haus lag in einem Garten. Es hatte ein Obergeschoss und sah sehr gepflegt aus. »Konnten Sie herausfinden, wie alt die beiden Töchter sind? Und wie sie heißen?«

»Aber natürlich. Dafür haben Sie mich ja bezahlt.« Er schaute auf seinen Notizblock. »Die Ältere ist zehn Jahre alt und heißt Tanja. Cornelia ist die Jüngere. Sie wird Conny gerufen und soll fünf Jahre alt sein.«

Das muss sie sein, dachte Claudia. Karins Tochter. Das Kind, das meine Schwester vor fünf Jahren auf die Welt gebracht hat. Cornelia also heißt sie.

»Konnten Sie keine Bilder von den Kindern besorgen?«, fragte Claudia den Detektiv.

»Leider nicht, weil die Kinder nicht zu Hause sind. Ich kann Ihnen nur den Namen des Kinderheims nennen, in dem sie untergebracht sind. Es heißt Sophienlust und liegt in der Nähe einer Kleinstadt, die Maibach heißt.«

Claudia nickte. »Darf ich die Bilder behalten?«

»Sie gehören Ihnen. Und hier ist die Abrechnung.«

Claudia bezahlte die restliche Summe und verabschiedete sich.

*

Eine Woche lang kämpfte sie mit sich, dann ging sie zu ihrem Chef und bat um Urlaub.

Der Detektiv hatte ihr den Weg nach Rinsheim beschrieben. Rinsheim hieß das Dorf, in dem Armin Reiser wohnte.

Claudia wusste nicht, unter welchem Vorwand sie dem Mann zum ersten Mal begegnen sollte. Sie hatte überhaupt keinen Plan. Sie wusste nur, dass sie ihn sehen und sprechen und die Umgebung, in der Karins Tochter aufwuchs, kennenlernen wollte.

Claudia erreichte den kleinen Ort ohne Schwierigkeiten und fand auch sofort die Straße, in der das Haus von Armin Reiser stand. Zuerst wollte sie daran vorbeifahren, doch dann blieb sie davor stehen und schaltete den Motor aus. Ein sehr hübsches Haus, dachte sie. Und verhältnismäßig groß. Auch der Garten. Wie geschaffen für Kinder. Ein Jammer, dass sie jetzt in einem Heim leben müssen.

Lange saß Claudia in ihrem kleinen Wagen und betrachtete das Haus und den Garten. Dabei wurde sie sich ihrer Hilflosigkeit voll und ganz bewusst. Sie konnte nur das Haus ansehen. Sie konnte nicht hineingehen und verlangen, die Kinder kennenzulernen. Der Hausherr würde sie sofort fragen, warum.

Seufzend streckte Claudia ihre Hand nach dem Zündschlüssel aus. Warum bin ich eigentlich hierhergefahren?, fragte sie sich dabei.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als plötzlich jemand neben ihrem Wagen auftauchte. Es war ein Mann, und er sah so aus wie Armin Reiser. Aber Claudia war dessen nicht sicher. Sie hatte ihn ja nur auf dem Bild gesehen.

»Suchen Sie mich?«, fragte er.

»Ja …, nein … Ich weiß nicht …«

»Verständlich. Ich habe mich ja noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Reiser, und ich habe eine Anzeige aufgegeben. Ich suche eine Haushälterin.«

Das ist ein Wink des Himmels, dachte Claudia und nickte. »Deswegen komme ich. Ich habe Ihre Anzeige gelesen«, log sie.

»Dann kommen Sie doch bitte mit ins Haus.« Er öffnete ihr die Wagentür.