Sie sind sich selbst überlassen - Aliza Korten - E-Book

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Aliza Korten

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Im Anschluss an das Begräbnis fanden sich die Trauergäste zum gemeinsamen Essen in einem kleinen Hotel ein. Denise von Schoenecker hatte ursprünglich sofort nach Hause fahren wollen, doch sie war vom Arzt der Verstorbenen zurückgehalten worden. Er hatte ihr einige Zeilen überreicht, die unverkennbar die Handschrift ihrer lieben Freundin Josefine Heller gezeigt hatten. »Frau Heller bittet Sie, ihren Nachlass zu ordnen, Frau von Schoenecker«, hatte der Arzt gesagt. »Es ist ja sonst niemand da.« Was war Denise übrig geblieben, als diesen allerletzten Wunsch der Toten zu erfüllen? So saß sie nun im Kreis von Trauergästen, die ihr völlig fremd waren, und erfuhr, dass Josefine sich bis zuletzt bei Nachbarn und Bekannten der größten Beliebtheit und Wertschätzung erfreut hatte. Obwohl sie schon recht betagt gewesen war, hatte niemand mit ihrem plötzlichen Ende gerechnet. Josefine hatte ihren einzigen Sohn nach dessen Heirat ins ferne Tokio begleitet, wo dieser für eine deutsche Firma als Ingenieur tätig gewesen war. Die junge Schwiegertochter war noch vor der Geburt ihres ersten Kindes an einer heimtückischen Krankheit gestorben. Zu einer zweiten Ehe hatte sich der Witwer nicht entschließen können. Die Mutter war bei ihm geblieben und hatte ihm den Haushalt geführt. Auf Tokio war Madrid, dann Buenos Aires gefolgt. Erst vor vier Jahren hatte ein tragisches Unglück Josefine Heller auch den Sohn genommen. Das hatte für sie die Rückkehr nach Deutschland bedeutet, wo sie in Stuttgart eine stille Mansardenwohnung gemietet und ein zurückgezogenes Leben geführt hatte. Im vergangenen Sommer war die Verstorbene auf Gut Schoeneich zu Gast gewesen. In der schönen

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Sophienlust – 149–

Sie sind sich selbst überlassen

Wer gibt Mareike und Berti eine neue Heimat?

Aliza Korten

Im Anschluss an das Begräbnis fanden sich die Trauergäste zum gemeinsamen Essen in einem kleinen Hotel ein. Denise von Schoenecker hatte ursprünglich sofort nach Hause fahren wollen, doch sie war vom Arzt der Verstorbenen zurückgehalten worden. Er hatte ihr einige Zeilen überreicht, die unverkennbar die Handschrift ihrer lieben Freundin Josefine Heller gezeigt hatten.

»Frau Heller bittet Sie, ihren Nachlass zu ordnen, Frau von Schoenecker«, hatte der Arzt gesagt. »Es ist ja sonst niemand da.«

Was war Denise übrig geblieben, als diesen allerletzten Wunsch der Toten zu erfüllen? So saß sie nun im Kreis von Trauergästen, die ihr völlig fremd waren, und erfuhr, dass Josefine sich bis zuletzt bei Nachbarn und Bekannten der größten Beliebtheit und Wertschätzung erfreut hatte. Obwohl sie schon recht betagt gewesen war, hatte niemand mit ihrem plötzlichen Ende gerechnet.

Josefine hatte ihren einzigen Sohn nach dessen Heirat ins ferne Tokio begleitet, wo dieser für eine deutsche Firma als Ingenieur tätig gewesen war. Die junge Schwiegertochter war noch vor der Geburt ihres ersten Kindes an einer heimtückischen Krankheit gestorben. Zu einer zweiten Ehe hatte sich der Witwer nicht entschließen können. Die Mutter war bei ihm geblieben und hatte ihm den Haushalt geführt. Auf Tokio war Madrid, dann Buenos Aires gefolgt. Erst vor vier Jahren hatte ein tragisches Unglück Josefine Heller auch den Sohn genommen. Das hatte für sie die Rückkehr nach Deutschland bedeutet, wo sie in Stuttgart eine stille Mansardenwohnung gemietet und ein zurückgezogenes Leben geführt hatte.

Im vergangenen Sommer war die Verstorbene auf Gut Schoeneich zu Gast gewesen. In der schönen Umgebung und im ständigen Kontakt mit dem Kinderheim Sophienlust war Josefine Heller recht fröhlich gewesen. Man hatte ihr die achtundsiebzig Lebensjahre kaum zugetraut. Selbst jetzt, da man sie eben zur letzten Ruhe getragen hatte, fiel es Denise schwer, sich vorzustellen, dass Josefine Heller nie mehr ihr Gast sein würde.

Mit dem Blatt Papier hatte der Arzt Denise auch den Schlüssel zu Josefines Wohnung übergeben. Sobald es anging, verabschiedete sie sich und fuhr zur verwaisten Behausung ihrer alten Freundin. Das Ordnen des Nachlasses wird nicht so schnell gehen, überlegte sie dabei. Ich muss zu Hause anrufen. Ein Hotelzimmer brauche ich auch. Josefine hat ein Telefon. So kann ich von dort aus einiges erledigen.

Das altmodische Mietshaus war nicht verschlossen. Es stammte aus einer Zeit, in der man mit dem Raum noch nicht gegeizt hatte. Das Treppenhaus war hell und großzügig. Man fühlte sich nicht eingeengt und bekam sofort eine Vorstellung von der Größe und Weitläufigkeit der Wohnungen hinter den soliden Eichentüren mit den Messingknöpfen. In einem supermodernen Betonkasten mit Lift und Müllschlucker hätte sich eine Individualistin wie Josefine Heller gewiss recht unglücklich gefühlt.

Denise hielt den Schlüssel zur Man­sardenwohnung schon in der Hand, als sie den letzten Treppenabsatz erreichte. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier jemandem zu begegnen, und war einigermaßen überrascht, als auf der dicken Fußmatte vor der Wohnungstür zwei Kinder saßen, die sie mit großen Augen fragend anblickten.

»Habt ihr euch hier versteckt?«, erkundigte Denise sich lächelnd.

»Nein, wir warten auf Tante Josefine. Vielleicht kommt sie heute wieder. Wegen der Fische, meinen wir.« Der Bub, der diese Erklärung abgegeben hatte, schaute Denise treuherzig an. »Die Fische haben bestimmt Hunger«, fügte er hinzu.

Denise schloss auf. Die Kinder traten mit der größten Selbstverständlichkeit ein und eilten in das Wohnzimmer, wo tatsächlich einige Zierfische in einem Glas herumschwammen.

»Das Fischfutter liegt in der Küche. Hol’s mal, Mareike«, befahl der Junge. »Weißt du, wo Tante Josefine ist? Hat sie dir den Schlüssel gegeben?«, wandte er sich an Denise.

»Tante Josefine kommt nicht mehr, mein Junge. Sie war schon sehr alt und krank. Jetzt ruht sie für immer aus.«

Mareike erschien mit einer Pergamenttüte. Sie hatte Denises letzte Worte gehört. »Ist Tante Josefine gestorben?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »So wie unser Vati?«

Denise legte ihre Tasche weg und schloss das Kind in die Arme. Die Angst der Kleinen schnitt ihr ins Herz. Wie schrecklich, dass Mareike den Tod schon kannte!

»Ja, Mareike, Tante Josefine ist gestorben«, flüsterte sie bewegt. »Sie hat mir einen Brief geschrieben und mich gebeten, ihre Sachen zu ordnen. Deshalb bin ich hier.«

Mareike begann zu weinen, und der Junge machte ebenfalls ein ratloses, betrübtes Gesicht.

»Wollen wir nicht erst einmal den armen Fischen etwas geben?«, schlug Denise so munter wie möglich vor. »Sie haben sicherlich schon mehrere Tage lang nichts zu essen bekommen.«

»Ja, ziemlich viele Tage«, bestätigte der Bub. »Wir waren immer hier, aber Tante Josefine ist nicht gekommen. Eines Morgens war sie einfach fort.«

Denise fragte den Jungen nach seinem Namen. Er war nicht größer als Mareike, doch sie hielt ihn für älter als das Mädchen.

»Ich heiße Berti Erlberg, und das ist die Mareike«, sagte der Junge. Er selbst war fünf, Mareike vier Jahre alt. Dass die beiden ihren Vater verloren hatten, wusste Denise bereits.

»Seid ihr oft bei Tante Josefine gewesen?«, erkundigte sie sich behutsam.

Sie nickten beide, und Mareike ließ zu, dass Denise ihr mit ihrem eigenen Taschentuch die Tränen abwischte.

»Bei Tante Josefine hat es immer Kakao oder etwas Gutes zu essen gegeben. Angela ist nämlich meistens nicht zu Hause. Zu Tante Josefine konnten wir jeden Tag kommen, wenn wir allein waren oder Hunger hatten.«

Allmählich rundete sich das Bild. Josefine Heller hatte den Geschwistern Heimat und Zuflucht geboten. Es sah in gewisser Hinsicht sogar so aus, als gehörten Berti und Mareike Erlberg mit zum Nachlass der herzensguten alten Dame.

Da es zu Denises besonderen Fähigkeiten gehörte, sich in die Sorgen und Nöte von Kindern hineinzuversetzen, fand sie rasch heraus, dass nicht nur die Fische hungrig waren, sondern auch die beiden Kinder. Sie hatten vergeblich darauf gehofft, bei ihrer alten Freundin etwas zu essen zu bekommen.

So kümmerte sich Denise zunächst nicht um Josefines Schreibtisch, sondern ging mit den Kindern in die sauber aufgeräumte Küche. Im Kühlschrank fand sich noch Butter. Auch Zwieback war vorhanden. Damit ließ sich schon etwas anfangen. Mareike zeigte mit dem Fingerchen auf den Wandschrank, in dem Denise Kakao entdeckte. Sogar ein ganzer Stapel Dosenmilch war da.

»Man kann heißes Wasser und Dosenmilch zum Kakao nehmen«, meinte Berti voller Eifer. »So hat es Tante Josefine meistens gemacht.«

Denise bewirtete die beiden Kinder, die wie halb verhungerte Spatzen futterten. Sie fragte sich, wer wohl Angela sei. Dass sie das noch herausfinden müsse, stand fest. Es widerstrebte ihr jedoch, die Geschwister mit allzu vielen Fragen zu bedrängen. Aus ihrer langjährigen Erfahrung im Kinderheim Sophienlust wusste sie, dass man Geduld brauchte, um von Kindern das zu hören, was man wissen wollte.

Mareike schaffte acht Zwiebäcke, dick mit Butter bestrichen. Berti brachte es sogar auf zehn. Dazu tranken die Kinder mehrere Tassen Kakao.

»Müsst ihr nicht allmählich nach Hause?«, fragte Denise, als sie sicher war, dass ihre kleinen Gäste nicht mehr hungrig sein konnten.

Berti schob die Unterlippe vor. »Angela kommt manchmal erst, wenn es schon dunkel ist.«

»Ach so! Dann bleibt ihr wohl meistens ziemlich lange hier?«

»Manchmal schon. Aber Angela kann ziemlich wütend werden, wenn sie uns nicht findet. Wir sollen im Hausflur warten. Weißt du, das ist ziemlich langweilig.«

»Einen Schlüssel habt ihr also nicht?«

»Nein. Sie hat Angst, dass wir ihn verlieren.«

Das war eine reichlich mysteriöse Angelegenheit.

»Nun gut, dann bleibt erst einmal hier, Kinder. Ich muss telefonieren und habe auch im Schreibtisch allerlei nachzusehen. Gibt es Spielsachen für euch?«

Mareike war schon an der untersten Schublade des Sekretärs und zog sie auf. »Da, schau, Tante …«

»Ich heiße Tante Isi, Mareike. Ja, da habt ihr allerlei schöne Spiele und braucht euch nicht zu langweilen.«

Denise wartete einige Augenblicke, bis Berti und Mareike sich im Wohnzimmer am runden Tisch in ein Zusammensetzspiel vertieft hatten. Dann telefonierte sie.

Da die Geschwister jedes Wort hören konnten, erwähnte sie ihre kleinen Schützlinge nicht. Sie erklärte Alexander nur, dass sie bis zum nächsten Tag in Stuttgart bleiben müsse, weil sie den Nachlass ihrer Freundin sichten und die Angelegenheit einem vertrauenswürdigem Anwalt übergeben müsse.

Nachdem Denise sich noch ein Hotelzimmer bestellt hatte, stellte sie fest, dass Mareike erschienen war und sie mit ängstlichen Blicken ansah.

»Was gibt es, Kleines? Fürchtest du dich?«

Mareike kam zu ihr und schmiegte sich zutraulich an ihre Knie. »Du fährst wieder fort, Tante Isi?«, fragte sie betrübt. »Wir haben gedacht, dass du jetzt hier wohnen wirst – schon wegen der Fische.«

»Ich kann leider nicht hierbleiben, Mareike. Ich wohne auf dem Land, in Schoeneich. Dort wartet mein Mann auf mich. Außerdem habe ich Kinder, die mich brauchen.«

»Hm, Alexander heißt dein Mann, nicht wahr?«

»Das hast du wohl eben gehört. Es stimmt. Und meine Söhne heißen Nick und Henrik. Ich habe auch noch große Kinder. Sascha ist Student, und Andrea hat schon geheiratet.«

»Da musst du ein ziemlich großes Haus haben, Tante Isi«, meinte Berti, der nun gleichfalls neben Denise stand und das Spiel im Stich gelassen hatte.

»Ja, es ist recht groß, Berti. Wenn du aber glaubst, dass ich nur wegen meiner Familie zurückfahren muss, dann irrst du dich. Nicht weit entfernt von Schoeneich gibt es ein Kinderheim. Es heißt Sophienlust. Ein Haus voller Buben und Mädchen, die vorher allein waren und nicht wussten, wo sie wohnen sollten. Diese Kinder warten ebenfalls auf mich.«

»Wir sind auch allein, Tante Isi. Kannst du uns mitnehmen in das Haus mit den vielen Kindern?«, fragte Berti sehnsüchtig.

»Das weiß ich nicht, mein Junge. Was würde Angela dazu sagen?«

»Angela mag uns nicht. Sie wäre bestimmt froh.« Es war eine traurige Auskunft. Denise las im intelligenten Gesicht des Buben, dass er die Wahrheit sagte. Wer immer Angela sein mochte, sie stellte im Leben der Geschwister ein ernstes Problem dar.

»Wir müssten wohl zunächst mit Angela darüber reden, Berti«, erwiderte Denise behutsam. »Glaubst du, dass sie jetzt zu Hause ist?«

»Nein, jetzt noch nicht. Meistens kommt sie abends. Aber genau weiß man es nie.«

»Dann werde ich jetzt hier aufräumen. Wenn ich fertig bin, sehen wir weiter.«

»Nimmst du uns mit, Tante Isi?«, bettelte Mareike.

»Bitte, lass uns nicht allein. Wir haben niemanden mehr, weil Tante Josefine gestorben ist.«

»Ich werde mit Angela sprechen, Mareike. Allein sollt ihr gewiss nicht bleiben. Dafür werde ich sorgen.«

Bertis Augen leuchteten auf. »Bist du eine Kindertante?«

»Ja, das könnte man wohl sagen, Berti. Ich habe alle Kinder lieb.«

»Wir haben dich auch lieb, Tante Isi«, erklärte Mareike treuherzig.

Denise war nun fest entschlossen, dem Schicksal der beiden Geschwister nachzugehen. Trotzdem besaß Josefine Hellers Nachlass jetzt Vorrang. Es war zu hoffen, dass die alte Dame Aufzeichnungen hinterlassen hatte, aus denen hervorging, wem ihr Besitz, der nicht allzu groß war, zufallen sollte.

Denise fand einen großen grauen Briefumschlag mit der Aufschrift:

Nach meinem Tode zu öffnen.

Es zeigte sich, dass Josefine Heller ihr Haus sorgsam bestellt hatte. Ihr Testament war bei einem Anwalt hinterlegt. Denise brauchte nicht viel mehr zu tun, als sich mit diesem in Verbindung zu setzen, und erreichte ihn auch in seiner Kanzlei. Er war bereit, am nächsten Morgen in die Wohnung der alten Dame zu kommen, um alle Einzelheiten mit Denise zu besprechen.

»Sie wissen sicherlich, dass der Nachlass versteigert werden soll, Frau von Schoenecker«, erklärte er geschäftsmäßig. »Der Gesamterlös einschließlich aller vorhandenen Werte soll dem Kinderheim Sophienlust zufallen.«

»Nein, davon hatte ich keine Ahnung«, rief Denise überrascht aus. »Frau Heller hat uns im letzten Jahr besucht und sich sehr für die Einrichtungen des Kinderheims interessiert. Es passt zu ihr, dass sie zu diesem Werk beisteuern möchte.«

»Frau Heller war äußerst kinderliebend«, versetzte der Anwalt. »In letzter Zeit betreute sie ein verwaistes Geschwisterpaar aus der Nachbarschaft. Ich glaube, sie wollte noch Verfügungen zugunsten dieser Kinder treffen. Aber ihr Tod kam schneller.«

»Die beiden Kinder sind hier«, berichtete Denise.

»Wir können morgen über den Fall sprechen.«

Wieder hatten Berti und Mareike die Ohren gespitzt. Als Denise den Hörer auflegte, standen sie neben ihr und fragten mit neugierigen Gesichtern, ob von ihnen die Rede gewesen sei.

Denise nickte. »Ja, von euch. Aber ich weiß nicht, ob das für euch etwas bedeutet. Stört mich jetzt nicht, damit ich hier fertig werde.«

Artig kehrten Berti und Mareike zu ihrem Spiel zurück.

Denise sah die Schreibtischfächer durch. Alle Rechnungen waren bezahlt und ordentlich abgeheftet. Die Bank­unterlagen befanden sich in einem besonderen Fach. Ein Bündel mit persönlichen Briefen trug den Vermerk: »Zu beantworten«. Denise steckte das Päckchen in ihre Tasche, um die Absender, so weit ihre Adressen vermerkt waren, über den Tod der alten Dame zu informieren.

Obwohl nicht viel zu tun war, verging eine ganze Weile, ehe Denise an den Aufbruch denken konnte.

»Du hast ja ein Auto«, stellte Berti anerkennend fest, als Denise mit den Kindern auf die Straße hinaustrat. »Dürfen wir mitfahren? Angela hat das Auto verkauft. Es ist zu teuer, sagt sie.«

Auch jetzt verbot Denise es sich, nach Angela zu fragen. Gewiss gab es eine andere Möglichkeit, mehr über diese Dame herauszufinden.

»Natürlich könnt ihr mitfahren. Kommt, steigt ein.« Denise schloss auf und ließ die Kinder auf den Rücksitz klettern. »Zeigt mir jetzt den Weg zu eurem Haus«, forderte sie die Geschwister auf.

Es war keine weite Fahrt – nur ein paar Straßen.

»Hier wohnen wir«, erklärte Berti. »Aber Angela ist bestimmt noch nicht da.«

»Versuchen wir es«, meinte Denise. »Kommt!«

Es war ein elegantes Mietshaus mit nur vier Wohnungen.

»Wenn wir hinein wollen, klingeln wir bei Dörlingers«, sagte Berti. »Die drücken auf den Summer.«

»Wollen wir nicht erst einmal bei euch schellen?«, schlug Denise vor.

»Wenn du denkst, Tante Isi …«

Wider Erwarten wurde der Öffner betätigt.

»Schade, sie ist schon zu Hause«, seufzte Mareike. »Jetzt wird sie bestimmt wieder böse sein.«

Tatsächlich erklang auch schon von oben eine scharfe Stimme. »Kommt ihr endlich? Ich muss gleich wieder weg und warte schon mindestens seit einer Stunde auf euch. Wie oft soll ich euch noch sagen …«

Als Denise auf der Treppe sichtbar wurde, verstummte die junge Frau. Sie trug ihr helles, nicht sonderlich gepflegtes Haar halblang und offen. Die Augen waren zu stark ummalt. Über Samthosen und einer giftgrünen Bluse trug sie einen schmuddeligen Kittel.

Denise war ein wenig erschrocken. Obwohl die Scheltende noch sehr jung war, hatten sich bereits scharfe Linien in ihr Gesicht eingegraben, deutliche Zeichen von zu wenig Schlaf, zu viel Alkohol und einem aufreibenden Lebenswandel. Man brauchte nicht Denises Erfahrung zu besitzen, um auf den ersten Blick zu erkennen, dass Angela nicht die geeignete Persönlichkeit war, um zwei Kinder liebevoll zu betreuen und in der rechten Weise zu erziehen.

»Guten Tag«, grüßte Denise freundlich.

»Ich bringe Ihnen die Kinder, die ich zufällig im Hause von Frau Heller getroffen habe. Leider ist die alte Dame gestorben. Das ist Ihnen wohl bekannt?«

»Nein, ich weiß gar nicht, von wem Sie reden. Wieso bringen Sie die Kinder?«

Denise nannte ihren Namen und erwähnte, dass Berti und Mareike offenbar ziemlich häufig bei ihrer verstorbenen Freundin zu Gast gewesen seien.

»Ich bin Frau Erlberg«, antwortete Angela jetzt zögernd. »Mein Mann ist seit sechs Monaten tot. Es ist sehr schwer für mich, mit den Kindern zurechtzukommen. Sie laufen draußen herum und kommen heim, wann es ihnen einfällt.«

»Darf ich kurz eintreten, Frau Erlberg?«, fragte Denise warum. »Ich glaube, ich könnte Ihnen helfen – wegen der Kinder.«

»Wie meinen Sie das? Kommen Sie etwa vom Jugendamt? Ich verbitte mir das!«

»Nein, nein, mit dem Jugendamt habe ich nichts zu tun, Frau Erlberg. Aber wir sollten uns nicht im Treppenhaus unterhalten.«

Angela Erlberg trat zurück und machte eine einladende Bewegung. Denise ging in die geräumige Diele, die kahl und nicht sehr sauber wirkte. Berti und Mareike schlüpften an ihr vorbei und verschwanden hinter einer Tür. Denise erhaschte dabei einen flüchtigen Blick auf ungemachte Betten und eine bemerkenswerte Unordnung.

Jetzt führte Angela die Besucherin ins Wohnzimmer. Es war ein großer Raum mit Fenstern bis zum Fußboden. Davor gab es einen Balkon.

Was Denise schon in der Diele beobachtet hatte, konnte sie auch hier feststellen: Helle Flecken an den Wänden, die verrieten, dass dort früher einmal Bilder gehangen hatten. Die Pol­s­termöbel waren verstaubt, auf dem niedrigen Glastisch sah man angetrocknete Ringe von Gläsern, die dort irgendwann gestanden haben mochten. Der helle Fußbodenbelag konnte nicht anders als schmutzig genannt werden. Mehrere Aschenbecher, randvoll mit Zigarettenenden, verbreiteten einen unerfreulichen Geruch von kaltem Rauch.

Angela Erlberg schien dieser Zustand der Wohnung nicht peinlich zu sein. Sie warf sich in einen Sessel und angelte nach einer Zigarettenschachtel, die sich jedoch als leer erwies.

»Setzen Sie sich doch, Frau von Schoenecker. Haben Sie vielleicht zufällig eine Zigarette bei sich?«

»Nein. Es tut mir leid, ich rauche nicht, Frau Erlberg.«

»Ich schicke die Kinder. Ohne Dampf kann ich nicht reden.« Angela lief hinaus. Denise hörte sie mit den Kindern sprechen. Dann schlug die Wohnungstür zu.

»So, jetzt sind wir die beiden los«, erklärte Angela. »Warum möchten Sie unbedingt mit mir sprechen, Frau von Schoenecker? Helfen kann mir sowieso keiner. Ich sitze nun einmal mit den beiden Kindern da. Genau vier Wochen war ich mit ihrem Vater verheiratet. Dann passierte das Unglück.«

»Ich verstehe«, sagte Denise mitleidig. »Lebt die Mutter der beiden Kleinen nicht mehr?«

»Nein, sie ist schon mehr als zwei Jahre tot. Heribert, mein Mann, hat es ganz gut allein geschafft mit den Kindern. Er war Kostümbildner und hatte reichlich Aufträge fürs Theater und auch oft beim Fernsehen. Aber für mich sieht das anders aus. Ich bin jung und stehe erst am Anfang meiner Karriere. Jetzt muss ich nehmen, was man mir anbietet, und darf nicht wählerisch sein.«

»Sind Sie Künstlerin?«, warf Denise ein.

Angela hob die Schultern. »Ich tanze ganz gut. Aber man kriegt nicht oft einen Vertrag. Und wenn, dann ist es für eine Tournee. Aber das geht nicht, weil ich die Kinder am Hals habe. Also mime ich als Mannequin auf Modenschauen. Abends arbeite ich in einer Bar.«