Sophienlust 162 – Familienroman - Aliza Korten - E-Book

Sophienlust 162 – Familienroman E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. "Was ist los?", fragte Michael Langenbach, als Sascha von Schoenecker den kleinen Wagen rechts heranfuhr und langsam abbremste. "Merkst du das denn nicht?", erwiderte der lang aufgeschossene Student und zog eine Grimasse. "Der linke Hinterreifen ist hin." Auf dem Rücksitz des hochbetagten Autos saß zwischen Koffern und Taschen Hella Graff, die ebenfalls in Heidelberg studierte. "Hoffentlich bin ich nicht schuld", sagte Hella besorgt. "Mit mir und meinem Gepäck ist dein Rolls Royce bestimmt überfordert." Sascha drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. "Mit deinem Fliegengewicht hat das nichts zu tun, Hella.Wahrscheinlich lag etwas auf der Straße. Das wird sich noch herausstellen. Jetzt heißt es vorerst: Ärmel hoch und Rad wechseln. Davon sind die anwesenden Damen natürlich ausgenommen."

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Sophienlust – 162–

Sein Vater ist in Afrika

… und Dirk begab sich auf die Suche

Aliza Korten

»Was ist los?«, fragte Michael Langenbach, als Sascha von Schoenecker den kleinen Wagen rechts heranfuhr und langsam abbremste.

»Merkst du das denn nicht?«, erwiderte der lang aufgeschossene Student und zog eine Grimasse. »Der linke Hinterreifen ist hin.«

Auf dem Rücksitz des hochbetagten Autos saß zwischen Koffern und Taschen Hella Graff, die ebenfalls in Heidelberg studierte.

»Hoffentlich bin ich nicht schuld«, sagte Hella besorgt. »Mit mir und meinem Gepäck ist dein Rolls Royce bestimmt überfordert.«

Sascha drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Mit deinem Fliegengewicht hat das nichts zu tun, Hella.Wahrscheinlich lag etwas auf der Straße. Das wird sich noch herausstellen. Jetzt heißt es vorerst: Ärmel hoch und Rad wechseln. Davon sind die anwesenden Damen natürlich ausgenommen.«

»Ich helfe aber gern, wenn ich mich nützlich machen kann«, erbot sich die blonde Studentin.

»Wir zwei Männer schaffen das schon«, versicherte Michael und warf seiner bildhübschen Freundin einen verliebten Blick zu, ehe er ausstieg. Sascha war bereits dabei, den Kofferraum auszuräumen, denn das Reserverad und die Werkzeugtasche befanden sich zuunterst.

Auch Hella kletterte aus dem Auto. Da sie nichts tun konnte, setzte sie sich am Straßenrand ins Gras. Sie war klug genug, die beiden Freunde jetzt nicht durch Zwischenfragen zu stören. Man sah Sascha an, dass die Panne ihn nicht gerade in die rosigste Laune versetzte. Michael dagegen nahm den Zwischenfall von der heiteren Seite.

Aufmerksam schaute Hella zu, wie Sascha und Michael zu Werke gingen. Sie würde nun noch etwas Geduld aufbringen müssen, bis sie Schoeneich und Sophienlust kennenlernen konnte. Ein verträumtes Lächeln umspielte ihren hübschen Mund.

Michael Langenbach hatte die Idee gehabt. Hella wusste, dass seine jüngeren Schwestern Angelika und Vicky im Kinderheim Sophienlust lebten. Nach dem tragischen Tod ihrer Eltern bei einem Lawinenunglück hatten die drei Geschwister im ›Haus der glücklichen Kinder‹ eine neue Heimat gefunden. Sascha und Michael hatten gemeinsam das Abitur bestanden und studierten nun zusammen in Heidelberg. Seine Ferien verbrachte Michael stets bei den Eltern seines Freundes. Auf diese Weise blieb die Verbindung zu seinen Schwestern erhalten.

Michael hatte Hella oft von Sophienlust erzählt. Als sich herausstellte, dass Hella nicht wusste, was sie in den Semesterferien machen sollte, hatte er die Gelegenheit sofort ergriffen. Er hatte die Sache mit seinem Freund besprochen und dann einen Brief an Denise von Schoenecker geschrieben. Da das Schreiben nicht gerade Michaels starke Seite war, musste sie ihm das besonders hoch anrechnen. Übrigens hatten die beiden Freunde ihr vorher kein Wort von dem Plan verraten.

Deshalb bedeutete es für Hella eine Überraschung, als sie von Saschas Mutter einen herzlich gehaltenen Brief erhielt. Denise von Schoenecker sprach darin eine Einladung für die Semesterferien aus. Hella könne Unterkunft im Kinderheim Sophienlust finden und sich dort nützlich machen. Gerade während der Urlaubszeit der Angestellten sei eine zusätzliche Kraft willkommen.

Nun befand sie sich also mit Sascha und Michael auf dem Weg nach Sophienlust. Die beiden Freunde sollten auf Gut Schoeneich, dem Wohnsitz von Saschas Eltern Unterkunft finden.

»Reifenpanne?«, erklang plötzlich dicht neben ihr eine Jugendstimme.

Hella fuhr zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich ein weiterer Zuschauer zu ihr gesellt hatte. Ein Bub lag neben ihr im Gras und hatte die Ellbogen aufgestützt. Er trug einen ziemlich verwaschenen Jeansanzug und dazu einen passenden Schlapphut, der ihm ein verwegenes Aussehen verlieh.

»Wo kommst du her?«, fragte sie verwundert.

Der Junge lachte verschmitzt. »Das hast du gar nicht gehört, nicht wahr? So machen es die Indianer.«

Hella nickte mit ernster Miene. »Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte sie. Sie schätzte den Knirps auf fünf oder sechs Jahre. Er hatte ein ausdrucksvolles Gesicht mit intelligenten Augen, in denen sie heimliche Trauer zu entdecken glaubte.

»Nein. Ich wohne woanders.«

»So? Dann bist du wohl auch mit dem Auto da?« Unwillkürlich blickte sich Hella suchend um.

»Ein Mann hat mich ein Stück mitgenommen«, berichtete der Junge treuherzig. »Kann ich mit euch weiterfahren?«

Hella schien es sonnenklar, dass hier etwas nicht stimmte. Sie griff in ihre Handtasche und holte eine Tafel Schokolade hervor.

»Magst du?«

Mit seinen schmutzigen Fingern stopfte der Junge sich drei Stücke auf einmal in den Mund. Er war offensichtlich hungrig.

»Sagst du mir, wie du heißt?«, fragte Hella vorsichtig.

»Dirk Möller«, antwortete der Junge mit vollem Mund.

»Weißt du auch, wo du wohnst?«

»Klar – in Stuttgart. Aber da wollte ich nicht mehr bleiben. Deshalb bin ich weggegangen.«

»Wohin willst du denn?«

»Zu meinem Vati natürlich. Ich mag nicht mehr bei Tante Jo und Onkel Friedrich bleiben. Weißt du, sie zanken sich immer. Tante Jo hat mich bloß genommen, weil sie meinem Vati einen Gefallen tun wollte. Eigentlich sind Kinder eine schwere Last. Verstehst du das? Ich bin zwar schon ziemlich groß, aber doch lange nicht so schwer wie Onkel Friedrich.«

Hella verkniff sich das Lachen. »Deine Tante meint, dass man mit Kindern eine Menge Arbeit hat.«

»Ich glaube, sie mag mich nicht. Aber egal, ich gehe einfach zu meinem Vati.«

Hella bot ihm noch mehr Schokolade an. Diesmal bedankte er sich dafür.

»Wer bist du eigentlich?«, erkundigte er sich, ehe er das nächste Stück in den Mund schob.

»Ich heiße Hella Graff.«

»Fahrt ihr vielleicht nach Afrika?«

Hella lachte. »Nein, Dirk, nach Afrika bestimmt nicht. Das wäre für das kleine Auto viel zu weit. Außerdem muss man zwischendurch übers Wasser. Was willst du denn in Afrika?«

»Mein Vati ist doch in Afrika.« Das hörte sich beinahe vorwurfsvoll an. Musste seine neue Freundin nicht wissen, wo sein Vater sich aufhielt?

»Ich verstehe«, sagte Hella. »Weißt du die genaue Adresse? Afrika ist ziemlich groß.«

»Das Land heißt Ghana. Ich werde es schon finden.«

»Vielleicht wäre es besser, wenn wir deinem Vater schreiben, damit er dich holt. Am schnellsten kommt man dorthin mit einem Flugzeug.«

Dirks Augen leuchteten auf. »Mit dem Flugzeug würde ich gern zu ihm reisen. Aber ich glaube, das kostet ziemlich viel Geld. Ich habe bloß einen Euro.«

So weit waren sie in ihrer Unterhaltung gekommen, als Sascha und Michael mit verschmierten Händen herantraten, um zu melden, dass der Wagen wieder startklar sei. Sie waren so intensiv beschäftigt gewesen, dass der Knirps ihnen bis jetzt nicht aufgefallen war.

Michael räusperte sich. »So schnell bandelst du also mit fremden Herren an, Hella!«, scherzte er.

Die Studentin zauberte aus ihrer Tasche zwei Erfrischungstücher hervor und reichte sie den beiden erfolgreichen Handwerkern. »Hier, putzt euch erst einmal ab.«

Sie blickte Dirk an und zog ein drittes Tuch hervor. »Dir kann es auch nichts schaden, wenn du deine Hände abwischst«, meinte sie und riss die kleine Packung auf.

»Willst du uns deinen Freund nicht vorstellen?«, fragte Sascha.

»Natürlich, er heißt Dirk Möller und befindet sich unterwegs nach Afrika.«

Sascha stieß einen langgezogenen Pfiff aus.

»Da hast du dir allerlei vorgenommen, Dirk«, erklärte er.

Hella überging Saschas Bemerkung. Sie wandte sich an den Knirps, der mit Hingabe seine Hände abrieb und dabei immer wieder an dem Tüchlein schnupperte.

»Sie heißen Sascha und Michael, Dirk«, sagte sie freundlich. »Wenn wir sie schön bitten, nehmen sie dich bestimmt ein Stück mit. Zufällig fahren wir nämlich zum Haus der glücklichen Kinder. Dort könntest du vielleicht über Nacht bleiben oder auch noch länger, bis wir mit deinem Vati in Verbindung treten können.«

»Was ist das – das Haus der glücklichen Kinder?« Dirk sah misstrauisch aus.

»Schau dir’s doch an«, munterte ihn Sascha auf. »Es hat bis jetzt noch jedem gefallen, der dort gewesen ist.«

Sascha und Michael hatten auch ohne lange Erklärungen sofort begriffen, dass es sich bei Dirk um einen kleinen Ausreißer handelte. Was lag näher, als ihn mitzunehmen? Von Sophienlust aus würde man gewiss die erforderlichen Nachforschungen anstellen können. Dass Kinder im Allgemeinen nur dann wegliefen, wenn sie dafür einen Grund hatten, wussten Michael und Sascha sehr wohl. Oft genug war der Anlass für solch eine Flucht ins Ungewisse recht traurig.

Wenigstens sah Dirk Möller gut ernährt aus. Auch machte er nicht den Eindruck eines misshandelten Kindes. Aber es stand für die drei Studenten fest, dass sie Dirk mitnehmen und der Obhut Denise Schoeneckers anvertrauen mussten.

»Es gibt Ponys, auf denen die Kinder reiten dürfen«, sagte Michael. »Das würde dir bestimmt Spaß machen.«

Dirk nickte. »Ich bin schon einmal geritten. Aber das ist lange her.«

»Man kann im Park spielen, im See baden, sich die Tiere ansehen. Obst gibt es aus dem Garten, und man ist nie allein, weil eine Menge Kinder da sind«, fuhr Michael fort. »Ich zum Beispiel war auch dort, als ich noch zur Schule musste.«

»Sophienlust – das hört sich lustig an«, meinte Dirk.

»Es ist auch lustig dort«, bekräftigte Sascha. »Hella will ihre Ferien in Sophienlust verleben. Sie kennt es auch noch nicht. Aber sie freut sich schon darauf.«

Dirk blinzelte Hella zu. »Ehrlich? Bleibst du in Sophienlust bei den Kindern?«

»Ja, Dirk«, erwiderte Hella. »Ich bin eingeladen worden. Wenn du mitkommst, könnten wir uns noch eine Menge erzählen.«

Dirk stand auf. »Ich möchte mit dir fahren, Hella«, sagte er mit Entschiedenheit. Seine Augen waren vertrauensvoll auf die blonde Studentin gerichtet und seine kleine Hand griff nach der ihren.

»Da könnte man glatt eifersüchtig werden«, rief Michael vergnügt aus.

»Was hat er damit gemeint?«, fragte Dirk unsicher.

Hella rückte ihm den blauen Schlapphut gerade. »Michael hat nur Spaß gemacht, Dirk. Wir freuen uns alle drei, dass du mitfahren willst. In Sophienlust werden sie bestimmt staunen.«

Sascha machte eine beruhigende Handbewegung. »Über so etwas wundert sich in Sophienlust niemand, Hella. Jetzt bin ich eigentlich froh über die Reifenpanne. Wie hätten wir Dirk sonst treffen können?«

»Da hast du allerdings recht«, pflichtete Hella ihm bei. »Wer weiß, wer ihn an unserer Stelle mitgenommen hätte!«

Dirk mischte sich mit unschuldvoller Miene ein. »Jemand wäre bestimmt gekommen«, behauptete er voller Zuversicht. »Der Mann, mit dem ich zuerst gefahren bin, war sehr nett zu mir. Aber dann hat ihm eine Dame zugewinkt. Die wollte auch mitfahren. Es war wirklich genug Platz in seinem großen Auto. Trotzdem musste ich aussteigen. Er sagte, ich würde bestimmt ein anderes Auto zum Weiterfahren finden.«

Die drei Studenten tauschten stumme Blicke.

»Packen wir’s also«, ermunterte Sascha dann die Reisegesellschaft. »Wir haben noch ein ganzes Stück zu fahren. Wie wär’s jetzt mit deiner Schokolade, Hella? Ich hab ein bisschen Hunger.«

Hella hob die Schultern. »Tut mir leid, Sascha. Dirk hat alles aufgegessen. Er war ziemlich hungrig.«

Michael schüttelte den Kopf. »So was!«, schalt er gutmütig. »Will mir die Freundin ausspannen und isst uns die Schokolade weg.«

»Ist er jetzt böse?«, erkundigte sich Dirk besorgt.

»Aber nein, Dirk, das war nur Spaß«, beruhigte ihn Michael.

Sie stiegen ein. Es war nicht ganz einfach, zwischen dem Gepäck auf dem Rücksitz ein Plätzchen für Dirk zu schaffen. Ganz eng kuschelte der Bub sich an seine neue Freundin.

»Euer Auto ist zwar viel kleiner und gar nicht so schön wie das von dem Mann heute früh«, sagte Dirk. »Aber ich finde es bei euch viel gemütlicher.«

»Umso besser.« Sascha lachte. »Ich wäre nämlich beleidigt, wenn dir mein Wagen nicht gefiele, Dirk.«

Endlich konnte die Fahrt fortgesetzt werden. Unterwegs erzählte Hella Graff dem Buben die Geschichte von Sophienlust. Gespannt hörte Dirk ihr zu.

»Weißt du, da war einmal eine nette alte Dame. Ihr gehörte das Landgut Sophienlust und das schöne große Haus. Als sie starb, fiel dieser herrliche Besitz an einen Jungen, der so alt war wie du.«

»Ich bin fünf und werde sechs«, schaltete Dirk sofort ein.

»Nick war genau fünf«, rief Sascha über die Schulter zurück.

»Wie kann ein kleiner Bub ein Haus und ein Landgut bekommen?«, fragte Dirk mit runden Augen.

»Die alte Dame war seine Urgroßmutter. Sie wollte, dass aus dem Haus ein Kinderheim werden sollte. Nicks Mutter kam also mit dem Jungen nach Sophienlust und machte daraus ein Heim für Kinder, die keine Eltern mehr haben.«

»Ich habe keine Mutti mehr. Aber mein Vati ist in Afrika.«

»Für Kinder wie dich ist Sophienlust auch da«, meldete sich Michael zum Wort.

»Wenn es schön dort ist, bleibe ich ein bisschen«, antwortete Dirk bedächtig. »Wenn jemand an meinen Vati schreiben würde, wie es mit Tante Jo und Onkel Friedrich ist, dann kommt er vielleicht und holt mich nach Afrika. Erzähl noch ein bisschen, Hella.«

»Nun ja, so viel ist gar nicht mehr zu berichten, Dirk. Nicks Mutti war sehr einsam, weil Nicks Vater nicht mehr lebte. Nach einer Weile lernte sie Saschas Vater kennen, der ganz in der Nähe ein Gut hat. Sascha und seine Schwester Andrea hatten damals keine Mutti mehr, genau wie du.«

Dirk war ganz bei der Sache. »Haben sie dann Hochzeit gemacht?«, rief er begeistert aus.

»Erraten.« Hella lachte. »Sie hatten sich lieb und heirateten.«

»Wie der Prinz und die Prinzessin in meinem Märchenbuch!«

»Ja, Dirk, genauso. Nun hatte Nick wieder einen Vati.«

»Und Sascha und seine Schwester bekamen eine neue Mutti. Da haben sich natürlich alle gefreut.«

»Sehr, Dirk«, bestätigte Sascha. »Ich musste nämlich in eine Internatsschule gehen, meine Schwester auch. Nur in den Ferien konnten wir zu Hause sein. Das gefiel uns gar nicht. Sobald wir wieder eine Mutti hatten, durften wir daheimbleiben. Übrigens haben wir etwas später noch einen kleinen Bruder bekommen. Er heißt Henrik. Du wirst ihn ja kennenlernen.«

»Nick auch – dem das Haus gehört?«

»Ja, gewiss, auch Nick. Er ist jetzt schon sehr groß und sieht beinahe erwachsen aus.«

»Dann ist es schon lange her?«

»Ja, Dirk, schon ziemlich lange.«

»Schade«, seufzte Dirk. »Ich hatte mich gerade ein bisschen gefreut, dass mein Vati vielleicht auch eine neue Mutti für mich finden könnte. Aber es war eben bloß in eurer Geschichte so. Jetzt passiert so etwas nicht mehr.«

Hella zog den kleinen Burschen unwillkürlich fester an sich. »Wissen kann man so etwas nie«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Nick, Pünktchen, Angelika, Vicky und einige andere Kinder saßen auf den flachen Stufen vor dem Portal des Herrenhauses von Sophienlust und langweilten sich. Seit mehr als einer Stunde warteten sie auf die Ankunft der Heidelberger Studenten. Angelika und Vicky waren besonders ungeduldig, weil sie ihren großen Bruder nun schon recht lange nicht mehr gesehen hatten. Nick war gespannt auf die Studentin, die in Sophienlust für die Dauer der Semesterferien Einzug halten sollte. Mit seiner besonderen Vertrauten Pünktchen hatte er im Flüsterton Mutmaßungen darüber angestellt, ob Michael sich mit Hella Graff wohl verloben werde.

»Immer noch nicht?« Frau Rennert, die Heimleiterin, steckte den Kopf aus dem Fenster. »Wo sie nur bleiben?«

»Bestimmt ist Saschas Auto unterwegs stehen geblieben«, erklärte Nick sorglos. »Man wundert sich, dass das Ding überhaupt noch fährt.«

Angelika bekam ängstliche Augen. »Wenn aber was passiert ist«, rief sie aus.

»Bestimmt nicht«, tröstete Frau Rennert. »Ihr solltet euch etwas vornehmen. Es hat doch keinen Zweck, dass ihr hier wie angewachsen sitzt.«

»Sie wären bestimmt enttäuscht, wenn wir sie nicht richtig empfangen, Tante Ma«, behauptete Vicky. »Mir würde es jetzt gar keinen Spaß machen, etwas zu spielen. Wir haben schon so lange gewartet, nun bleiben wir auch hier.«

Die Geduld der Kinder wurde glücklicherweise nicht mehr lange auf die Probe gestellt. Plötzlich schoss Henrik von Schoenecker wie eine Rakete um die Ecke des Gebäudes. Er hatte von einem Baum im Park aus wie ein Späher Ausschau gehalten.

»Sie kommen«, keuchte er atemlos. »Es sind aber vier im Wagen. Sie bringen ein Kind mit.«

»Ein Kind!«

»Sitzt hinten neben der Studentin«, berichtete Henrik mit wichtiger Miene.

»Vielleicht ist es das Kind der Studentin«, überlegte Nick. »Macht nichts. Wir haben genug Platz. Aber sie hätte Mutti wenigstens vorher schreiben sollen, dass sie ihr Kind mitbringen will.«

Für weitere Vermutungen blieb keine Zeit, denn schon bog der kleine Wagen in die Allee ein, um schließlich in unmittelbarer Nähe der Kinder zu halten. Die Sophienluster riefen Hurra und Willkommen. Michael umarmte seine Schwestern und hob Vicky sogar auf den Arm, obwohl sie dazu eigentlich längst zu groß war.

Sascha begrüßte Nick und Henrik. Die Brüder schüttelten sich nur die Hände. Ihr Verhältnis war von Zuneigung und Kameradschaft geprägt, aber für Zärtlichkeiten hatten sie nicht viel Sinn.

Es war Nick, der sich auf seine Pflicht als Hausherr besann. Er wandte sich Hella Graff zu, die eben ausgestiegen war. Dirk stand neben ihr und hielt ihre Hand.

»Herzlich willkommen in Sophienlust, Frau Graff«, sagte Nick höflich. »Frau Rennert erwartet Sie schon. Meine Mutti kommt etwas später, um Sie zu begrüßen.«

Hella reichte dem Gymnasiasten die Hand. Ihre blauen Augen suchten den Blick seiner dunklen. »Ich nehme an, du bist Nick«, antwortete sie. »Oder muss ich Sie sagen?«

»Immer noch du«, erwiderte Nick vergnügt. »Haben Sie Ihren Sohn mitgebracht?«

Hella, Sascha und Michael lachten schallend. Nick blickte sie der Reihe nach an. Er fand die drei etwas albern.

»Nein, Nick, wir haben Dirk Möller unterwegs getroffen und mitgenommen«, erklärte Sascha schließlich. »Er war unterwegs zu seinem Vati. Da schlugen wir ihm vor, zunächst in Sophienlust Station zu machen.«

Nick biss sich auf die Unterlippe. Er schaute Hella verlegen an. »Entschuldigen Sie bitte«, stotterte er.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich wäre stolz, wenn ich einen Jungen wie Dirk hätte«, versicherte Hella fröhlich. »Wir verstehen uns nämlich großartig. Nicht wahr, Dirk?«

Dirk antwortete nicht, doch er sah sie mit strahlendem Blick an. Das sagte mehr als viele Worte.

Henrik ergriff Dirks Hand. »Fein, dass du jetzt bei uns bist.«