Sophienlust 166 – Familienroman - Marisa Frank - E-Book

Sophienlust 166 – Familienroman E-Book

Marisa Frank

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Langsam schlug Deborah Houston die Augen auf. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie sich zurechtfand. Richtig, sie saß ja im Flugzeug! Vorsichtig richtete sie sich auf, denn ihre Gliedmaßen schmerzten. Das linke Bein war ganz steif. Kein Wunder! In einem Flugzeugsitz zu schlafen war schließlich nicht besonders bequem. Eigentlich hatte sie ja auch gar nicht schlafen wollen, aber die Mutter hatte es befohlen. So hatte sie gehorsam die Augen geschlossen und war dann doch eingeschlummert. Gähnend strich Deborah sich die Ponyfransen aus der Stirn. Neben ihr bewegte sich ihre Mutter, aber sie hatte die Augen noch fest geschlossen. Das schwarze Haar bedeckte die Hälfte ihres Gesichts. Auch viele der anderen Passagiere schienen zu schlafen. Leise zog Deborah den Vorhang zur Seite und blickte aus dem Fenster, an dem Wolkenberge vorüberglitten. Sie kräuselte die Stirn. Sie hatte so viele Fragen, aber die Mutter hatte ihr bisher noch keine davon beantwortet. Zu gern hätte sie vor allem gewusst warum sie nach Deutschland flogen. Und wo war Daddy? Noch nie waren sie ohne ihn verreist.

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Sophienlust – 166–

Kleines Mädchen hat große Sehnsucht

Mit Dada war es immer so schön

Marisa Frank

Langsam schlug Deborah Houston die Augen auf. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie sich zurechtfand. Richtig, sie saß ja im Flugzeug!

Vorsichtig richtete sie sich auf, denn ihre Gliedmaßen schmerzten. Das linke Bein war ganz steif. Kein Wunder! In einem Flugzeugsitz zu schlafen war schließlich nicht besonders bequem. Eigentlich hatte sie ja auch gar nicht schlafen wollen, aber die Mutter hatte es befohlen. So hatte sie gehorsam die Augen geschlossen und war dann doch eingeschlummert.

Gähnend strich Deborah sich die Ponyfransen aus der Stirn. Neben ihr bewegte sich ihre Mutter, aber sie hatte die Augen noch fest geschlossen. Das schwarze Haar bedeckte die Hälfte ihres Gesichts. Auch viele der anderen Passagiere schienen zu schlafen.

Leise zog Deborah den Vorhang zur Seite und blickte aus dem Fenster, an dem Wolkenberge vorüberglitten. Sie kräuselte die Stirn. Sie hatte so viele Fragen, aber die Mutter hatte ihr bisher noch keine davon beantwortet. Zu gern hätte sie vor allem gewusst warum sie nach Deutschland flogen. Und wo war Daddy? Noch nie waren sie ohne ihn verreist.

Angestrengt dachte Deborah über die letzten Stunden nach. Alles war so schnell gegangen. Plötzlich fiel ihr Cäsar ein. Auch um ihn sorgte sie sich. Er musste im Gepäckraum mitfliegen.

Hoffentlich geht es ihm gut, dachte die Kleine. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte nachgesehen, aber sie wagte es nicht. Sie wusste ja auch nicht, wo der Gepäckraum war.

»Lieber Cäsar«, murmelte Deborah leise, »ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber ich durfte dich ja leider nicht zu mir nehmen.« Erschrocken schwieg sie, als ihre Mutter sich im Schlaf wieder bewegte. Doch dann kreisten ihre Gedanken weiter um ihren Vater und um den Hasen Cäsar. Von Daddy hatte sie sich nicht einmal verabschieden dürfen. Ob er überhaupt wusste, dass sie hier im Flugzeug saß? Und Cäsar hatte sie nur deshalb mitnehmen dürfen, weil sie sich geweigert hatte, ohne ihn mitzukommen. Aber dann hatte man ihn doch von ihr getrennt! Wann würde sie ihn wohl wiedersehen?

Deborah wurde immer trauriger. Beinahe hätte sie geweint, aber dann sagte sie sich, dass sie dazu mit ihren acht Jahren doch schon zu groß war.

Die Kleine suchte nach ihrem Taschentuch und putzte sich geräuschvoll die Nase.

Dann beugte sie sich vor und sah ihre Mutter an, deren Kopf auf die Brust gesunken war. Debby beschloss, zur Toilette zu gehen. Wo diese war, wusste sie. Die Mutter hatte sie ihr gleich nach dem Betreten des Flugzeugs gezeigt.

Vorsichtig erhob sich Deborah. Es gelang ihr wirklich, den Gang zu erreichen, ohne ihre Mutter zu wecken. Doch plötzlich musste sie laut lachen. Gleich darauf presste sie erschrocken die Hand auf den Mund. Der Mann, der hinter ihrer Mutter saß, schnarchte, als müsste er einen ganzen Wald umsägen.

Völlig unerwartet stieß Deborah mit einem Herrn aus einer anderen Sitzreihe zusammen, der ebenfalls den Gang betreten hatte. Obwohl sie an dem Zusammenstoß nicht schuld war, begann der Mann sofort zu schimpfen. »Kannst du denn nicht aufpassen? Was schleichst du da allein herum? Unglaublich, so etwas!«

Er hatte so laut geschimpft, dass Renate Houston, Deborahs Mutter, aufgewacht war und die Stewardess herbeigeeilt kam.

»Ich habe wirklich keine Schuld. Der Mann ist in mich hineingelaufen«, beteuerte Deborah.

Das nützte ihr aber nichts. Ihre Mutter, so unsanft aus dem Schlaf geweckt, begann auch zu schelten. »Was fällt dir denn ein? Kannst du nicht einmal stillsitzen? Setz dich sofort wieder hin und gib Ruhe!«

»Ich muss aber zur Toilette«, sagte Deborah zerknirscht.

»Ich begleite dich«, bot die nette Stewardess ihr an.

Während Deborah mit ihr den Gang entlangging, entschuldigte sich Renate bei dem immer noch sehr aufgebrachten Herrn.

Der junge Mann wollte zunächst in scharfer Weise entgegnen, aber als Renate sich vorbeugte, sah er ihre Gesichtszüge. Sofort interessierte er sich für sie. »Ich glaube, ich muss mich entschuldigen«, meinte er nun galant, »denn ich habe Sie leider geweckt. Aber ich war so erschrocken, als ich plötzlich mit einem kleinen Mädchen zusammenstieß. Wahrscheinlich war ich auch noch nicht ganz wach. Gerd Weller«, stellte er sich danach vor.

»Renate Houston.« Deborahs Mutter ergriff die dargebotene Hand.

»Sie sind Amerikanerin?«, wunderte sich der junge Mann sofort. »Sie sprechen ein akzentfreies Deutsch.«

»Ich bin Deutsche, aber mit einem Amerikaner verheiratet.« Für Sekunden huschte über Renates Gesicht ein Schatten. Nein, sie wollte jetzt nicht an ihren Mann denken. Sie war schließlich weggegangen, um in Zukunft ihr eigenes Leben zu führen.

Gerd Weller, der sie beobachtet hatte, fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein, nein«, wehrte Renate ab. »Ich habe wohl auch noch nicht ausgeschlafen.«

Gerd fand Renate auf Anhieb sympathisch. Um das Gespräch aufrechtzuerhalten, bezog er auch das kleine Mädchen in das Gespräch mit ein als es wiederkam. Doch er war froh, dass die Kleine kaum antwortete, sondern sich wieder in ihren Sitz kuschelte.

Deborah betrachtete mit finsterer Miene den fremden Mann. Warum unterhielt sich ihre Mutter jetzt mit ihm? Sie hatte ihr doch versprochen, ihre Fragen wegen der unerwarteten Reise zu beantworten.

Erst nachdem die Stewardess die Essensportionen verteilt hatte und der Fremde somit anderweitig beschäftigt war, wagte Deborah die Frage: »Warum ist Daddy nicht mitgeflogen?«

Renate zuckte zusammen. »Debby, ich habe dir doch bereits erklärt, dass er keine Zeit hat«, antwortete sie ungeduldig.

»Aber wir hätten doch warten können, bis er Zeit hat«, beharrte die Kleine.

»Nein, das ging nicht, wirklich nicht!« Renate wandte das Gesicht ab, denn sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten. Rasch tupfte sie diese in einem unbeobachteten Augenblick weg.

Gerd Weller, der ihr gegenübersaß, hatte es trotzdem gesehen. Aha, dachte er, da stimmt etwas nicht. »Bleiben Sie länger in Deutschland?«, erkundigte er sich.

Hilflos zuckte Renate die Achseln. »Ich glaube schon. Jedenfalls werde ich zuerst einmal meine Tante in Stuttgart besuchen. Ich habe sie schon sehr lange nicht mehr gesehen.« Dann erzählte sie von ihrem Leben in Amerika. Doch mit keinem Wort erwähnte sie dabei ihren Mann.

Gerd Weller war ein guter Unterhalter. Er erzählte ohne Umschweife von sich und von seiner Arbeit in Stuttgart, wo er die technische Abteilung eines Chemiewerkes leitete.

Er würzte seine Erzählungen mit kleinen Episoden, sodass sich Renates Gesicht öfters zu einem Lächeln verzog. Besonders amüsant plauderte er über die Frauen. Mit einem spitzbübischen Lächeln beteuerte er, dass er der Frau, die ihm für ein gemeinsames Leben geeignet erscheine, noch nicht begegnet sei.

»Bis zu diesem Flug jedenfalls noch nicht«, behauptete er. Dabei sah er Renate tief in die Augen.

Renate senkte den Blick. Energisch rief sie sich zur Ordnung. Sie war nicht zum Flirten nach Deutschland gekommen. Sie wandte sich ihrer Tochter zu, die bisher zum Fenster hinausgestarrt hatte.

Willig ließ sich Deborah auf den Schoß ihrer Mutter ziehen. Sie hielt ganz still, als deren Hand über ihr Haar strich. Sie war die Launen ihrer Mutter gewöhnt. Einmal erlaubte sie ihr alles – und im nächsten Augenblick verbot sie es ihr wieder. Wie anders war da ihr Vater! Er war für sie der beste Mann auf der Welt. Sie liebte ihn fast mehr als ihre schöne Mutter.

Es ging auf elf Uhr nachts zu, als die Passagiere aufgefordert wurden sich für die Landung auf dem Flughafen Stuttgart-Echterdingen vorzubereiten. Bald darauf setzte die Maschine auf.

Deborahs erste Frage nach der Landung galt Cäsar. »Bekomme ich ihn jetzt wirklich zurück?«

»Selbstverständlich, mein Kleines. Ich habe es dir doch versprochen.«

Renate lächelte ihre Tochter an. Da nahm Debby sich ein Herz und fragte: »Kommt Daddy nach? Können wir ihn auch bald wiedersehen?«

»Nein, mein Schatz!« Renate war plötzlich sehr mit dem Öffnen der Sitzgurte beschäftigt.

Deborah torkelte fast vor Müdigkeit, als sie endlich die Pass- und Zollkontrolle hinter sich hatten. Ein kleiner Trost für sie war, dass sie nun endlich Cäsar wiederhatte. Fest presste sie den Käfig mit dem Zwerghasen an sich.

»Komm, Debby«, forderte Renate ihre Tochter auf, »halte dich am Gepäckwagen fest.« Mühsam schob sie den Wagen durch die Menschenmenge zu den Telefonen.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, hörte sie plötzlich Gerd Wellers Stimme dicht hinter sich.

»Danke, ich komme schon zurecht. Die Formalitäten liegen ja bereits hinter uns. Jetzt muss ich nur noch meine Tante anrufen.«

»Ich werde abgeholt, aber ich würde Sie gern vorher zu Ihrer Tante bringen.«

Beinahe hätte Renate eingewilligt, aber sein Blick sprach eine zu deutliche Sprache. Er war ihr sympathisch, der junge Mann, und gerade deswegen lehnte sie dankend ab.

Bedauernd sah Gerd Weller ihr nach. Dann zuckte er die Achseln. Wahrscheinlich war es besser so. Er fühlte, dass er sich in die junge Frau hätte verlieben können, aber sie war eine verheiratete Frau. Bisher war er Schwierigkeiten immer aus dem Weg gegangen.

Renate hatte in diesem Moment andere Sorgen. Was würde ihre Tante sagen? Sie hatte ihr gestern ein kurzes Telegramm gesandt, damit sie über ihre plötzliche Rückkehr informiert war.

Renate hatte kein gutes Gefühl, als sie die Nummer der Tante wählte. Lange ließ sie das Telefon klingeln, wieder und wieder, aber es meldete sich niemand. Verzweifelt sah sie auf ihre Tochter, die wie ein Häufchen Unglück auf einem Koffer hockte. Warum meldete sich ihre Tante nicht? Wie oft hatte diese ihr geschrieben, dass sie sich auf ein Wiedersehen freue. Und nun schien sie nicht anwesend zu sein. Was sollte sie nur jetzt tun?

Renate ließ den Hörer auf die Gabel sinken. Verzweifelt sah sie sich um. Gerd Weller war nicht mehr zu sehen, nur fremde Menschen hasteten durch die Halle. Alle hatten es eilig.

Was nun? Wohin sollte sie jetzt mit Deborah gehen? Die Tante war ihre ganze Hoffnung gewesen. Aber es war wohl unüberlegt gewesen, einfach nach Deutschland zu fliegen.

Renate dachte an das Geld, das sie in der Handtasche trug. Der Flug hatte fast ihre ganzen Ersparnisse gekostet. Viel war nicht mehr übrig geblieben, und sie mussten doch irgendwie leben. Sie konnte ihr Geld nicht für ein teures Hotel ausgeben.

Renate sah auf ihre Tochter, die inzwischen eingeschlafen war, und der Zorn auf ihren Mann wuchs. Nur er war schuld daran, dass sie sich jetzt in dieser Situation befand. An wen sollte sie sich jetzt wenden? Sie hatte außer ihrer Tante in Deutschland weder Freunde noch Bekannte.

Jetzt fiel ihr Denise ein. Denise, mit der sie einst die Schulbank gedrückt hatte. Sie waren fast Freundinnen gewesen und hatten lange Zeit noch einen regen Briefwechsel miteinander geführt. Daher wusste Renate auch, dass Denise einen Alexander von Schoenecker geheiratet hatte.

Renate überlegte. Eigentlich hatte sie in den letzten Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr mit Denise gehabt aber diese war früher immer bereit gewesen, zu helfen. Warum sollte sie sich also nicht an Denise wenden?

Kurz entschlossen rief Renate die Auskunft an und fragte nach der Telefonnummer des Gutes Schoeneich, das bei Wildmoos lag. Dann wählte sie die genannte Nummer.

*

Denise von Schoenecker erwachte mitten in der Nacht vom schrillen Klingeln des Telefons. Schlaftrunken griff sie nach dem Hörer. Während sie der Frauenstimme lauschte, warf sie einen Blick auf die Leuchtziffern des Weckers. Reichlich spät für einen Anruf, dachte sie.

Die Frau hatte sich als Renate Houston vorgestellt. Denise überlegte. Sie kannte niemanden dieses Namens und wandte sich deshalb ihrem Mann zu, der inzwischen ebenfalls wach geworden war. »Sagt dir der Name Houston etwas?«, fragte sie.

Alexander schüttelte den Kopf und blinzelte in das Licht der Nachttischlampe, die er angeknipst hatte.

»Leg doch einfach wieder auf«, murmelte er.

Inzwischen hatte Renate weitergesprochen, und plötzlich war bei De­nise der Groschen gefallen. Jetzt wusste sie, mit wem sie sprach. Richtig, sie war mit Renate zur Schule gegangen. Damals hatte diese allerdings noch Müller geheißen. Dunkel erinnerte sie sich, dass dieses schwarzhaarige bildhübsche Mädchen einen Amerikaner geheiratet hatte.

Während Denise Renate zuhörte, versuchte sie sich weitere Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Lange, sehr lange hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Doch dann stand der Unfall wieder deutlich vor ihren Augen, der sich im Schulhof zugetragen hatte. Renate war von der Hofmauer gesprungen, um den anderen ihren Mut zu beweisen. Dabei war sie so unglücklich gestürzt dass auch nach der Heilung des Beines ein leichtes Hinken zurückgeblieben war.

»Denise, bitte, entschuldige«, drang die Stimme durch den Draht zu ihr, »ich weiß dass es unverzeihlich ist, dass ich dich so spät störe, aber ich weiß mir wirklich keinen anderen Rat. Ich bin ohne jede Vorbereitung nach Deutschland geflogen. Ich habe zwar meiner Tante meine Ankunft telegrafiert, doch sie scheint nicht in Stuttgart zu sein. Hätte sie mein Telegramm erhalten, wäre sie zu Hause gewesen.« Renate unterbrach sich, dann stieß sie hervor: »Nun weiß ich nicht, wohin mit uns so mitten in der Nacht. Meine achtjährige Tochter ist nämlich auch dabei.«

»Ihr seid uns herzlich willkommen«, sagte Denise spontan. Dabei lächelte sie ihrem Mann entschuldigend zu.

Alexander nickte seufzend. Er war gewohnt, dass seine Frau für alle und für jeden da war.

»Wo bist du jetzt?«, erkundigte sich Denise nun.

»Noch auf dem Flughafen. Wenn es dir recht ist, werde ich mir ein Taxi nehmen und damit nach Schoeneich kommen.«

Denise unterdrückte einen Seufzer. »Ich werde euch selber abholen. Setz dich so lange in die Wartehalle.«

Renate wollte protestieren, aber Denise ließ den Protest gar nicht gelten. Sie ahnte, dass sich ihre einstige Schulfreundin in einer verzweifelten Lage befand. Da musste sie doch helfen! Deshalb sagte sie energisch: »Keine Widerrede, ich werde mich beeilen.« Sie legte auf.

»Da lässt du dich ja wieder auf schöne Dinge ein.« Liebevoll beugte sich Alexander über seine Frau. Wie ich dem Gespräch entnehmen könnte, hast du seit Jahren von dieser Frau Houston nichts gehört.«

»Hätte ich ihr sagen sollen, wir hätten keinen Platz für sie?« Denise sah ihren Mann fragend an.

»Ich weiß, dass du das nie fertig gebracht hättest. Aber die Dame hätte ruhig mit dem Taxi fahren können. Du hast deine Nachtruhe dringend nötig.«

»Ach was, jetzt bin ich sowieso schon wach!« Denise gab ihrem Mann einen leichten Stups und sprang aus dem Bett. »Ich glaube, Renate braucht Trost. Es muss furchtbar sein, in die Heimat zurückzukommen und dann vor einer verschlossenen Tür zu stehen«, setzte sie sehr ernst hinzu.

Auch Alexander stand auf. »Soll ich fahren?«, fragte er. Er lebte in der ständigen Sorge, dass Denise sich überanstrengen könnte. Schließlich hatte sie tagsüber mit dem Kinderheim Sophienlust genügend Arbeit. Sie war nun einmal die Seele und der gute Geist von Sophienlust.

Denise von Schoenecker schüttelte den Kopf. »Du hast morgen auch wieder einen schweren Tag vor dir.

Ich werde danach einfach etwas länger liegen bleiben.«

»Wenn du meinst?« Alexander lä­chelte ungläubig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Denise wirklich einmal länger schlafen würde. Dazu liebte sie ihre Kinder viel zu sehr, und im Moment war das Kinderheim fast voll belegt.

Ehe Denise aus dem Zimmer huschen konnte, nahm der große schlanke Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht sie rasch in die Arme. Zärtlich küsste er sie auf die Lippen. Er liebte sie noch mit der gleichen Hingabe wie am Hochzeitstag. »Fahr vorsichtig«, mahnte er.

Denise beeilte sich. Sie wollte Renate mit ihrer kleinen Tochter nicht zu lange warten lassen. Hastig öffnete sie das Garagentor. Es quietschte und weckte ihren älteren Sohn.

Nick war sofort hellwach. Er steckte seinen Kopf aus dem Fenster, sah seine Mutter und schlüpfte eilig in seinen Morgenmantel. Atemlos erreichte er Denise noch, bevor sie startete.

»Mutti, soll ich nicht mitfahren? Wohin musst du eigentlich?«

»Ich fahre nur rasch nach Stuttgart, um eine ehemalige Schulfreundin vom Flughafen abzuholen. Du aber begibst dich auf dem schnellsten Weg wieder ins Bett.« Ihre Augen blickten bei diesen Worten streng, aber ihr Mund lächelte. Schnell strich sie ihrem hochaufgeschossenen, gut aussehenden Jun­­gen über das Haar. »Nun aber rasch! Du lernst Frau Houston noch früh genug kennen.«

*

Es war kurz nach zwei Uhr, als Denise von Schoenecker Renate Houston und deren Tochter gegenüberstand. Es waren nur noch wenige Leute im Wartesaal, und so war es Denise nicht schwergefallen, Renate zu finden. Wären viele Menschen anwesend gewesen, wäre ihr das sicher nicht gelungen, denn Renate hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Wildfang von einst.

Renate sprang auf, als die ehemalige Freundin vor ihr stand. Plötzlich zeigten ihre Gesichtszüge auch wieder etwas von der einstigen Lebhaftigkeit. »Denise, wie nett von dir!« Sie reichte Denise die Hand. »Du siehst blendend aus«, sagte sie ohne Neid. »Aber du warst immer schon die Hübscheste von der Klasse.«

Denise lachte. »Sei willkommen in Deutschland!«

»Danke! Du warst wirklich meine letzte Rettung. Verzeih die Störung, aber ich wusste nicht, wohin ich mich sonst hätte wenden sollen.«

»Darüber zerbrich dir im Moment nicht den Kopf. Auf Gut Schoeneich ist genügend Platz für euch.« Denise sah auf das kleine Mädchen, das im Sessel eingeschlafen war. Süß sah die Kleine aus.

»Es war wohl ein bisschen viel für sie.« Renate beugte sich über ihre Tochter und wollte ihr den Käfig mit Cäsar abnehmen.

Deborah erwachte und blinzelte verschlafen ins Licht. »Mam, du hast mir doch versprochen, dass ich Cäsar behalten darf«, sagte sie und presste den Käfig fest an sich.

»Wenn dir der Käfig nicht zu schwer wird – bitte!« Renate wurde ungeduldig. »Begrüß erst einmal Frau von Schoenecker.«

»Hello!«, hauchte Deborah gehorsam.

»Grüße wie ein deutsches Kind«, forderte Renate energisch.

»Das ist doch nicht nötig«, sagte Denise rasch. Sie wollte das Kind auf englisch ansprechen, doch Debby kam ihr zuvor.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte die Kleine. Es klang wie einstudiert. Sie machte dazu einen Knicks und streckte Denise ihre Hand entgegen.

Denise lächelte dem entzückenden Mädchen zu und ergriff die kleine Hand. Dabei sah sie etwas, was sie bei einem so kleinen Mädchen entsetzte. Deborah hatte rot lackierte Fingernägel.

Denise unterdrückte eine Bemerkung darüber und sagte stattdessen: »Es wird dir bei uns gefallen. Unser Wohnhaus steht mitten in einem großen Park. Henrik wird dir morgen alles zeigen. Henrik ist mein Sohn. Er ist genauso alt wie du«, erklärte sie.

»Ich freue mich«, antwortete Deborah. »Bleiben wir lange bei Ihnen?«

Denise sah auf Renate und sagte schnell: »So lange, wie ihr wollt.«

»Und Daddy? Darf Daddy auch zu Ihnen kommen?«

»Selbstverständlich.«

Denise hatte noch etwas sagen wollen, aber Renate warf ärgerlich ein: »Debby, ich habe dir doch gesagt, dass Daddy keine Zeit hat, um zu verreisen.« Verärgert sah sie auf das Kind.