Sophienlust 171 – Familienroman - Aliza Korten - E-Book

Sophienlust 171 – Familienroman E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Es regnete in Strömen, als der Schriftsteller Eugen Luchs das Stuttgarter Funkhaus verließ. Missbilligend schaute er zum Himmel und spannte seinen großen schwarzen Schirm auf. Er hatte einige spannende Tiergeschichten auf Band gesprochen, die zu späterer Zeit gesendet werden sollten. Seine lebendigen Erzählungen erfreuten sich bei jung und alt großer Beliebtheit. Doch standen auch noch einige Besorgungen auf seinem Programm. Vor allem musste er für sein Pflegetöchterchen Peggy zwei neue T-Shirts kaufen, denn Peggy war mächtig gewachsen in letzter Zeit. Mit langen Schritten machte sich der etwas untersetzte Verfasser von Reise- und Tierbüchern auf den Weg. An einer Kreuzung stand die Ampel auf Rot, und er musste warten. Ein Junge von etwa fünf Jahren nahm die Gelegenheit wahr, sich mit unter seinen Schirm zu stellen. Lächelnd ließ Eugen Luchs das Kind gewähren. Der Bub blieb von nun an beharrlich an seiner Seite. Er war bereits völlig durchnässt und trug weder einen Mantel noch eine Kopfbedeckung. An einem Textilgeschäft machte Eugen Luchs Halt. "Ich möchte hier hineingehen", erklärte er dem Jungen. "Dann warte ich so lange", erwiderte der kleine Bursche mit verblüffender Selbstverständlichkeit.

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Sophienlust – 171–

Thomas weiß, was er will

Und er ist glücklich in Sophienlust

Aliza Korten

Es regnete in Strömen, als der Schriftsteller Eugen Luchs das Stuttgarter Funkhaus verließ. Missbilligend schaute er zum Himmel und spannte seinen großen schwarzen Schirm auf. Er hatte einige spannende Tiergeschichten auf Band gesprochen, die zu späterer Zeit gesendet werden sollten. Seine lebendigen Erzählungen erfreuten sich bei jung und alt großer Beliebtheit. Doch standen auch noch einige Besorgungen auf seinem Programm. Vor allem musste er für sein Pflegetöchterchen Peggy zwei neue T-Shirts kaufen, denn Peggy war mächtig gewachsen in letzter Zeit. Mit langen Schritten machte sich der etwas untersetzte Verfasser von Reise- und Tierbüchern auf den Weg. An einer Kreuzung stand die Ampel auf Rot, und er musste warten. Ein Junge von etwa fünf Jahren nahm die Gelegenheit wahr, sich mit unter seinen Schirm zu stellen. Lächelnd ließ Eugen Luchs das Kind gewähren.

Der Bub blieb von nun an beharrlich an seiner Seite. Er war bereits völlig durchnässt und trug weder einen Mantel noch eine Kopfbedeckung. An einem Textilgeschäft machte Eugen Luchs Halt.

»Ich möchte hier hineingehen«, erklärte er dem Jungen.

»Dann warte ich so lange«, erwiderte der kleine Bursche mit verblüffender Selbstverständlichkeit.

»Na schön, wenn du den gleichen Weg hast.«

Der Schriftsteller lächelte und strich mit der freien Hand über seinen rötlich blonden Bart. Im Geschäft konzentrierte er sich ganz und gar auf seinen Einkauf.

Er erstand für Peggy nicht nur zwei, sondern sogar vier Baumwollhemden, jedes anders und allesamt so knallbunt und lustig, wie Peggy es liebte. Sicher würden sie dem kleinen Waisenmädchen aus dem fernen Afrika gut stehen.

Die Verkäuferin verpackte die Sachen in einer wasserfesten Plastiktüte. Vor dem Eingang wartete geduldig der Junge. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Mit seinen braunen Augen blickte er Eugen Luchs vertrauensvoll entgegen.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte der Schriftsteller.

»Thomas.«

»Willst du jetzt noch weiter mit mir gehen? Ich muss da rechts herum zum Parkplatz.«

»Ja, ich komme mit.« Thomas trottete neben Eugen Luchs her und hielt sich eng neben ihm, um den Schutz des Schirms auszunützen.

Nach etwa zehn Minuten erreichten sie den bewachten Platz, auf dem Eugen Luchs den Wagen abgestellt hatte. »So, da wären wir, Thomas. Weißt du was, ich fahre dich schnell nach Hause. Komm, steig ein!«

Thomas ließ sich das nicht zweimal sagen. Er kletterte auf den Rücksitz und strich sich aufatmend das feuchte Haar aus dem kleinen ernsten Gesicht.

»Wohin also?«, fragte Eugen Luchs, als er hinter dem Steuer saß.

Thomas schüttelte den Kopf. »Ich will nicht nach Hause.«

»Ach so, du bist wohl fortgelaufen?« Damit hatte Eugen Luchs nicht gerechnet. »Was sollen wir denn jetzt machen? Ich bleibe nicht in Stuttgart, denn ich wohne nicht hier.«

»Kannst du mich nicht mitnehmen? Ich mag nicht allein sein.«

»Allein? Wie meinst du das, Thomas?«

»Eben allein. Meine Mutti ist nicht heimgekommen. Das war vorgestern. Ich habe gewartet und gewartet. Heute wollte ich sie suchen. Aber dann fing es an zu regnen. Vielleicht kannst du mir helfen.«

Eugen Luchs drehte sich halb nach rückwärts und betrachtete seinen verregneten Findling mitleidig. »Nun wollen wir der Sache einmal auf den Grund gehen, Thomas. Ich bin Onkel Luchs aus Sophienlust. Verrätst du mir deinen Familiennamen? Oder ist das ein Geheimnis?«

»Nein, ein Geheimnis nicht. Thomas Harder heiße ich.«

Eugen Luchs erfuhr, dass Thomas fünf Jahre alt war. Auch seine Adresse konnte der Junge angeben. Seine Mutti arbeitete, berichtete er. Leider wusste er nicht, wo sie beschäftigt war. Er pflegte den Tag in einem Kindergarten zu verbringen. Vorgestern war seine Mutti nicht gekommen, um ihn abzuholen wie gewöhnlich. Da sie sich manchmal ein wenig verspätete, hatte der Vater eines kleinen Mädchens Thomas mitgenommen und vor dem Wohnhaus der Harders abgesetzt. Mit dem Schlüssel, den Thomas für alle Fälle an einem Kettchen um den Hals trug, war er in die Wohnung gelangt. Seitdem wartete er vergeblich auf die Rückkehr seiner Mutti.

»Hast du auch einen Vati, Thomas?«, erkundigte sich Eugen Luchs mit wachsender Besorgnis.

»Nein, einen Vati haben wir überhaupt nicht.«

»Warum bist du nicht zu den Nachbarn gegangen? Es ist doch sonnenklar, dass etwas nicht stimmt, wenn deine Mutti plötzlich nicht heimkommt.«

»Ich – ich habe mich nicht getraut, Onkel Luchs. Frau Weber schimpft nämlich immer, wenn ich mit nassen Schuhen die Treppe heraufkomme oder so was.«

»Du bist also seit vorgestern ganz allein gewesen? Hast du denn etwas zu essen gehabt?«

»Doch, es war noch was im Kühlschrank. Ich hatte auch keinen richtigen Hunger, denn es macht keinen Spaß, wenn man ganz allein ist, Onkel Luchs.«

»Ja, das verstehe ich, Thomas. Weißt du was? Wir fahren jetzt zur Polizei. Irgendwie müssen wir deine Mutti doch schließlich finden.«

»Auf der Polizei? Glaubst du, dass sie dort ist?«

»Nein, das nicht, Thomas. Aber die Polizei wird uns helfen. Dafür ist sie nämlich da.«

Eugen Luchs warf einen Blick auf seine Uhr. Es würde eine ganze Weile dauern. Aber er musste sich jetzt um diesen Jungen kümmern. Wer weiß, was Thomas noch alles zustoßen mochte, wenn er ihn jetzt sich selber überließ. Er startete und setzte den Wagen aus der Parklücke. Bei der Ausfahrt zahlte er und erfuhr vom Kassierer, dass sich zwei Straßen weiter ein Polizeirevier befand.

Wenig später betraten Eugen Luchs und Thomas die Amtsstube, wo zwei uniformierte Beamte sie nach ihren Wünschen befragten. Der Schriftsteller berichtete, was er in Erfahrung gebracht hatte. Einer der beiden Polizisten nahm sofort ein Protokoll auf. Thomas saß auf einem Stuhl und baumelte mit den Beinen. Sein blondes Haar begann nun schon zu trocknen.

»Haben eure Nachbarn Telefon?«, erkundigte sich der Beamte bei Thomas. »Ich meine die Webers, weißt du?«

Thomas nickte. »Doch. Telefon haben sie. Aber die Nummer weiß ich nicht.«

»Das macht nichts. Die finden wir im Telefonbuch.«

Es gab viele Webers, doch schließlich fanden sich die mit der richtigen Adresse. Gespannt hörten Eugen Luchs und der Junge zu, wie der Polizist seine Nachforschungen fortsetzte.

»Aber Frau Weber weiß bestimmt nicht, wo meine Mutti ist«, meinte Thomas mit gesenkter Stimme.

»Abwarten, Thomas«, sagte Eugen Luchs. »Möglicherweise kann sie uns doch irgendwie helfen.«

Der Beamte, der einige Notizen gemacht hatte, legte den Hörer auf. »Frau Weber und ihr Mann haben nichts davon bemerkt, dass der Junge allein in der benachbarten Wohnung war. Sie sagten, sie hätten sich sonst um ihn gekümmert. Frau Jutta Harder arbeitet als Fremdsprachensekretärin in einem Chemiewerk. Zwar konnte mir Frau Weber den Namen der Firma nicht nennen, aber sie gab mir die dienstliche Telefonnummer ihrer Nachbarin, die diese für alle Fälle bei ihr hinterlegt hatte. Jetzt werden wir feststellen, ob deine Mutti zum Dienst gekommen ist, Thomas. Das bringt uns vielleicht ein Stück weiter.«

Thomas antwortete nicht. Er blickte vielmehr recht kläglich und sorgenvoll drein. Solange er neben dem Schriftsteller unter dem Schirm durch die Stadt gestapft war, hatte er seine Angst ein wenig vergessen gehabt.

Das nächste Telefongespräch ergab eine betrübliche Nachricht. Jutta Harder war vor zwei Tagen im Betrieb so unglücklich gestürzt, dass sie bewusstlos in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Geschickt vermied es der Beamte, dass Thomas hiervon sogleich etwas erfuhr. Er ließ sich die Nummer der Klinik geben und setzte seine Erkundigungen fort. Das Ergebnis war entmutigend. Die Verletzte hatte einen Schädelbruch erlitten und das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.

»Deine Mutti ist krank, Thomas«, erklärte der Beamte dem Jungen. »Sie hatte einen Unfall und muss einige Zeit im Krankenhaus liegen. Es wird wohl eine Weile dauern, bis sie wieder gesund ist. Hast du vielleicht eine Omi oder eine Tante, zu der wir dich bringen können?«

Thomas kämpfte mit den Tränen. »Ich – ich habe keine Omi. Was ist mit meiner Mutti passiert?«

»Sie ist hingefallen. Dabei hat sie sich stark am Kopf geschlagen. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir sorgen schon dafür, dass du unterkommst.«

»Hast du denn gar keine Verwandten, Thomas?«, wandte sich der Schriftsteller an das Kind. »Weißt du niemanden, bei dem du eine Zeit lang wohnen kannst?«

Thomas hob die Schultern und schwieg.

»Wir müssen einen Platz in einem städtischen Heim für ihn finden«, ließ sich der zweite Polizist vernehmen, der inzwischen sein Protokoll beendet hatte. »Am besten setzen wir uns mit dem Jugendamt in Verbindung.«

Thomas griff nach der Hand des Schriftstellers. »Ich mag nicht in ein Heim, Onkel Luchs«, stieß er hervor. »Warum kann ich nicht bei dir bleiben, bis meine Mutti wieder gesund ist?«

Eugen Luchs betrachtete den Buben voller Mitleid. Es war tatsächlich für Thomas keine angenehme Situation. Und in Sophienlust gab es schließlich immer einen freien Platz. Der Schriftsteller räusperte sich. »Falls keine Einwendungen bestehen, könnte ich Thomas in einem ausgezeichneten privaten Kinderheim unterbringen. Glauben Sie, dass man die Genehmigung des Jugendamtes erhalten könnte?«

»Es kommt darauf an, um welches Heim es sich handelt. Das Jugendamt legt da strenge Maßstäbe an. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man froh sein wird, wenn das Problem sich auf diese Weise lösen lässt, Herr Luchs.«

Das war wenigstens keine glatte Absage. Es sollte allerdings noch mehrere Telefongespräche und umständliche Rückfragen erfordern, bis die Erlaubnis erteilt wurde. Das Kinderheim Sophienlust war beim Jugendamt wohl bekannt. Nachdem Eugen Luchs seine Personalien angegeben und sich ausgewiesen hatte, waren auch die letzten Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt.

»Ist es dein eigenes Kinderheim, Onkel Luchs?«, fragte Thomas, als sich die Tür des Polizeireviers hinter ihnen schloss.

»Nein, Thomas. Ich erkläre es dir unterwegs. Zuerst wollen wir aus dem Regen herauskommen.« Er schloss den Wagen auf und ließ Thomas wieder hinten einsteigen. Dann setzte er sich ans Steuer und ließ den Motor an. Sobald sie die große Ausfallstraße erreicht hatten, begann Eugen Luchs mit seiner Erzählung.

»Sophienlust gehört seltsamerweise einem Jungen, Thomas. Er war erst fünf Jahre alt, als er das Gut von seiner Urgroßmutter erbte. Natürlich konnte er damals den Wunsch seiner Urgroßmutter, aus dem schönen alten Haus, ein Heim für Kinder zu machen, nicht selber erfüllen. Aber seine Mutter übernahm diese Aufgabe. Sie heißt Denise von Schoenecker, und du wirst sie noch heute kennenlernen. Die Kinder von Sophienlust nennen sie Tante Isi.«

»Und wie heißt der Junge, dem das Heim gehört?«

»Nick.«

»Das ist ein hübscher Name. Wohnst du auch in Sophienlust?«

»Ganz in der Nähe. Ich habe einen Wohnwagen, mit dem ich oft weite Reisen unternehme. Was ich unterwegs erlebe, schreibe ich auf.«

»Das gefällt mir. Kann ich nicht bei dir im Wohnwagen schlafen?«

»Nein, Thomas. Dieses Vorrecht hat Peggy, mein Pflegetöchterchen. Doch auch Peggy wohnt häufig in Sophienlust, denn ich bin viel unterwegs und meine Peggy geht bereits zur Schule. Peggy ist übrigens eine Afrikanerin und hat dunkle Haut. Darüber darfst du dich nicht wundern.«

»Hast du sie von einer Reise mitgebracht?«

»Stimmt genau. Du bist ziemlich schlau, Thomas. Ich war in Afrika, als Peggy ihre Eltern verlor. Jetzt ist sie mein Pflegekind, und ich habe sie sehr lieb. Du wirst sie bestimmt auch gernhaben.«

»Ich bin froh, dass ich mit dir fahren kann, Onkel Luchs«, sagte Thomas leise. »Glaubst du, dass es lange dauert, bis meine Mutti wieder gesund wird?«

»Sie scheint sich ziemlich schwer verletzt zu haben, Thomas. Wahrscheinlich musst du eine Weile Geduld haben. Sobald es ihr besser geht, wirst du sie im Krankenhaus besuchen. Das verspreche ich dir. Tante Isi leiht mir dann sicherlich wieder ihr Auto, genau wie heute.«

»Ach so, dieses Auto gehört dir gar nicht?«

»Nein. Mein großer Wohnwagen wäre so unpraktisch für eine Fahrt nach Stuttgart. Deshalb habe ich Nicks Mutti gebeten, mir ihren Wagen zu geben.«

»Hat Nick auch einen Vati?«

»Ja, die Familie ist ziemlich groß. Der älteste Bruder heißt Sascha und studiert in Heidelberg, er kommt nur noch selten nach Hause. Andrea, Nicks große Schwester, ist verheiratet und lebt in Bachenau. Ihr Mann ist Tierarzt. Dort gibt es es übrigens ein Heim für verlassene Tiere. Das wirst du bestimmt bald sehen.«

»Tiere mag ich gut leiden. Erzähl mir noch mehr, Onkel Luchs!«

»Nick selber ist schon ein großer Bursche. Er besucht das Gymnasium in Maibach. Das ist unsere Kreisstadt. Sein jüngster Bruder heißt Hendrik.«

»Wohnen sie alle in Sophienlust? Ist dort so viel Platz? Du sagst doch, dass auch eine Menge Kinder in Sophienlust sind – ich meine, die Heimkinder.«

»Die Familie von Schoenecker lebt auf einem nur wenig entfernten Gut, das Schoeneich heißt. Es gibt eine private Verbindungsstraße von Sophienlust aus. Tante Isi ist täglich in Sophienlust. Außerdem ist noch Tante Ma da, die das Heim leitet, sowie Schwester Regine, Magda, die beste Köchin der Welt – nun, du wirst es erleben.«

»Ob mich meine Mutti in Sophienlust findet?«, wandte Thomas ein wenig bedenklich ein.

»Dafür sorgen wir bestimmt, Thomas«, beruhigte ihn Eugen Luchs. »Sowie sie aufwacht, wird man ihr sagen, wo du steckst.«

»Schläft sie denn?«

»Ach so – das habe ich dir noch nicht erklärt. Sie ist so heftig gestürzt, dass sie ohnmächtig geworden und noch nicht wieder erwacht ist. So etwas kommt vor. Deshalb konnte sie sich nicht um dich kümmern.«

»Hoffentlich wacht sie bald auf, Onkel Luchs.«

»Wir werden von Sophienlust aus gleich im Krankenhaus anrufen und nachfragen, wie es deiner Mutti geht.«

Thomas schwieg nachdenklich. Im Rückspiegel beobachtete Eugen Luchs, wie er sich zurücklehnte. Dem Jungen fielen die Augen zu. Wenige Minuten später schlief er fest. Angst und Aufregung hatten ihn erschöpft. Eugen Luchs lächelte. Es war sicher gut, dass der Junge die Fahrt verschlief.

*

Denise von Schoenecker war eine schlanke Frau mit dunklem Haar und sehr schönen braunen Augen. Sie hatte vom Jugendamt in Stuttgart einen Anruf erhalten und war nicht überrascht, als Eugen Luchs mit dem verschlafenen Jungen an der Hand zu ihr kam. Vor dem Portal des stolzen Herrenhauses, das zur Heimstatt für in Not geratene Kinder geworden war, umringten einige der jungen Bewohner von Sophienlust den Neuling. Kleine Hände streckten sich Thomas entgegen, und verschiedene Namen erreichten sein Ohr.

»Dies ist Pünktchen, diese beiden Schwestern heißen Angelika und Vicky Langenbach, das da ist unsere Heidi, und hier kommt Henrik.«

Die blonde Schwester Regina erkannte, wie müde Thomas war. »Ihr lernt euch schon noch früh genug kennen, Kinder. Jetzt bringen wir Thomas zu Tante Isi ins Biedermeierzimmer, und dann werde ich ihn baden und schlafen legen.«

Bald stand Thomas auf dem weichen hellen Teppich des stilecht eingerichteten Biedermeierzimmers, in dem Denise ihre Besucher zu empfangen pflegte. Ehrfürchtig betrachtete er die schönen Kirschbaummöbel, die geblümten Sesselbezüge und vor allem das große Gemälde einer alten Dame an der einen Wand.

Er fühlte sich von liebevollen Händen ergriffen und spürte einen feinen Duft nach Lavendel, als Denise ihn fest an sich drückte. »Willkommen in Sophienlust, Thomas. Ich bin Tante Isi und will dich lieb haben.«

Der Junge antwortete nicht. Er fühlte sich in den Armen dieser schönen Frau sicher und geborgen.

»Möchtest du dich erst einmal richtig ausschlafen?«, fragte Denise leise.

Thomas nickte. Er konnte sich kaum noch auf den kleinen Beinen halten.

Schwester Regine nahm ihn auf den Arm, obwohl er doch schon fünf Jahre alt und kein Baby mehr war. Eugen Luchs winkte ihm zu. »Wir sehen uns bald wieder, Thomas.«

Erst dann fand er Gelegenheit, Denise ausführlich von seinem Erlebnis zu berichten. »Er schlüpfte mir unter den Regenschirm, Frau von Schoenecker. Wer weiß, wo er gelandet wäre, wenn es nicht wie aus Kannen gegossen hätte!«

»Armes Kerlchen!«, entgegnete Denise. »Hoffentlich bessert sich der Zustand seiner Mutter recht bald. Konnten Sie Genaueres in Erfahrung bringen?«

»Nein, leider nicht. Thomas behauptet, weder einen Vater noch sonstige Angehörige zu haben. Vielleicht trifft das nicht im vollen Umfang zu. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Familie sich geschlossen von einer jungen Frau abwendet, nur weil sie als Unverheiratete ein Kind bekommen hat.«

»Es wäre schlimm für Thomas, wenn er jetzt auch noch die Mutter verlieren müsste«, sage Denise seufzend. »Ein Schädelbruch mit so lang andauernder Bewusstlosigkeit ist sicher nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie haben die Telefonnummer der Klinik mitgebracht?«

Eugen Luchs übergab Denise von Schoenecker das Blatt, auf dem alles über Thomas Harder notiert war, was man bis jetzt in Erfahrung bringen konnte. Es war wenig genug. »Ich habe mich nicht damit aufgehalten, noch in die Wohnung zu fahren und Kleidung für Thomas einzupacken«, sagte der Schriftsteller. »Zwar trägt der Junge den Schlüssel bei sich, doch dachte ich, es sei eine unnötige Verzögerung.«

»Wir haben hier genügend Sachen, um Thomas auszustaffieren, Herr Luchs. Es war ganz richtig, dass Sie gleich zu uns gekommen sind. Für Thomas wäre es wahrscheinlich recht schmerzlich gewesen, noch einmal die verlassene Wohnung zu betreten, in der er sich zwei Tage lang Sorgen um seine Mutter gemacht hat.«

Nachdem noch einige Einzelheiten besprochen worden waren, verabschiedete sich der Schriftsteller. Denise wollte nach oben gehen, um sich davon zu überzeugen, dass der kleine Neuling sich wohlfühlte. Eugen Luchs hatte die Absicht, zu seinem Wohnwagen zurückzukehren, der auf dem weitläufigen Gelände einen idealen Standort hatte. Im Gedanken an die ferne Heimat der kleinen Peggy hatten die Sophienluster Kinder den Platz Swasiland getauft.

Doch so rasch sollte er nicht fortkommen, denn in der geräumigen Halle warteten mehrere Kinder auf ihn, die ihn festhielten und nach Thomas Harder ausfragten. Eugen Luchs setzte sich, denn er wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis er die Neugier der Kinder befriedigt hatte. Die krausköpfige Peggy kletterte sofort auf seine Knie und schlang die schokoladenbraunen Ärmchen fest um seinen Hals. Sie liebte Eugen Luchs wie einen leiblichen Vater.

Nick, Pünktchen, Angelika, Vicky, Henrik, Irmela, Heidi und Fabian – sie alle wollten ganz genau wissen, was geschehen war. Der Schriftsteller tat den Kindern den Gefallen und berichtete von Anfang an.

»Er hat sich zu dir unter den Schirm gestellt, weil du so lieb aussiehst«, erklärte Peggy aufseufzend, als er geendet hatte.

»Falls seine Mutti nicht wieder gesund werden sollte, behalten wir ihn für immer«, sagte Nick.

»Nun, zunächst wollen wir doch hoffen, dass Frau Harder sich recht bald von ihrem Unfall erholt, Nick«, wies ihn Eugen Luchs freundlich zurecht.

»Na ja, ich meine ja nur …« Nick war der festen Überzeugung, dass Sophienlust für jedes Kind der beste Aufenthalt der Welt sei. Es fiel ihm immer wieder schwer, sich von einem der kleinen Schützlinge zu trennen, wenn er auch letzten Endes einsah, dass die Anzahl der jungen Bewohner von Sophienlust begrenzt bleiben musste.