Sophienlust 175 – Familienroman - Aliza Korten - E-Book

Sophienlust 175 – Familienroman E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. "Noch eine Geschichte vom Leuchtturm, Mutti", bettelte das blonde Mädchen. Anke Baldwin warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie zögerte. "Also gut", beschloss sie dann. "Aber ich muss mich beeilen, Silke." Das kleine Mädchen blickte die Mutter erwartungsvoll an. Doch ehe diese mit der Geschichte beginnen konnte, erklangen draußen rasche Schritte. Die Tür des Kinderzimmers wurde heftig aufgerissen, das zorngerötete Gesicht eines vierschrötigen Mannes, der trotz seiner sechsunddreißig Jahre schon zur Fülle neigte, zeigte sich. "Natürlich steckst du wieder bei dem Kind", schalt er. "Kannst du dich nicht um die Leute kümmern, die die Party vorbereiten? Wenn es heute Abend nicht klappt, ist es deine Schuld." Anke stand auf und strich ihren Rock glatt. "Es wird schon alles reibungslos ablaufen, Georg", antwortete sie. "Ich gehe gleich nach unten." "Höchste Zeit", polterte der Hausherr weiter. "Hoffentlich hast du dir diesmal wenigstens etwas anderes einfallen lassen als garnierten Rehrücken."

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Sophienlust – 175–

Hab Sonne im Herzen

Wie Anke und Silke wieder Lachen lernten

Aliza Korten

»Noch eine Geschichte vom Leuchtturm, Mutti«, bettelte das blonde Mädchen.

Anke Baldwin warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie zögerte. »Also gut«, beschloss sie dann. »Aber ich muss mich beeilen, Silke.«

Das kleine Mädchen blickte die Mutter erwartungsvoll an. Doch ehe diese mit der Geschichte beginnen konnte, erklangen draußen rasche Schritte. Die Tür des Kinderzimmers wurde heftig aufgerissen, das zorngerötete Gesicht eines vierschrötigen Mannes, der trotz seiner sechsunddreißig Jahre schon zur Fülle neigte, zeigte sich.

»Natürlich steckst du wieder bei dem Kind«, schalt er. »Kannst du dich nicht um die Leute kümmern, die die Party vorbereiten? Wenn es heute Abend nicht klappt, ist es deine Schuld.«

Anke stand auf und strich ihren Rock glatt. »Es wird schon alles reibungslos ablaufen, Georg«, antwortete sie. »Ich gehe gleich nach unten.«

»Höchste Zeit«, polterte der Hausherr weiter. »Hoffentlich hast du dir diesmal wenigstens etwas anderes einfallen lassen als garnierten Rehrücken.«

Die blonde Frau strich dem Kind rasch über das Haar und drängte ihren aufgebrachten Mann aus dem Zimmer. Zwar mussten draußen die Dienstboten ihren Streit mit anhören, doch das war ihr immer noch lieber als eine Szene vor den Ohren ihres Töchterchens.

»Das Essen habe ich mithilfe des Chefkochs von den ›Vier Jahreszeiten‹ zusammengestellt«, sagte Anke Baldwin so ruhig wie möglich.

»Weil dir selbst nie etwas einfällt«, spottete Georg Baldwin. »Ich hätte wissen müssen, dass die Tochter eines Leuchtturmwärters den Anforderungen eines anspruchsvollen Haushalts nicht gewachsen ist.«

Anke zuckte zusammen. Es hatte eine Zeit gegeben, zu der Georg Baldwin sie stürmisch umworben hatte. Damals hatte ihm ihre unverbildete Natürlichkeit gefallen. Er hatte nicht geruht, bis sie nachgegeben hatte und ihm in die große Stadt gefolgt war, wo sie noch nie glücklich und heimisch geworden war.

»Müssen wir immer so viele Gäste haben?«, wagte Anke zu fragen.

Georg lachte geringschätzig. »Du hast keine Ahnung! Wenn ich keine gesellschaftlichen Kontakte pflege, bekomme ich keine neuen Aufträge. Aus nichts wird nichts. Als Schiffsmakler braucht man Verbindungen. Aber du möchtest am liebsten in beschaulicher Abgeschiedenheit leben und dir nicht den Kopf darüber zerbrechen, woher das Geld kommt, das du ausgibst. Dieses große Haus verschlingt viel. Dazu die beiden Wagen … Von Kartoffeln und Salz möchtest du auch nicht leben!«

»Ich wäre mit weniger zufrieden, Georg.«

»Das ist Unsinn. Man muss sein Kapital vermehren, sonst verliert man es ganz. Ich verlange wirklich nicht viel von dir. Es gibt Frauen, die dich beneiden um das Leben, das du hier führst.«

Wie kalt er das gesagt hatte. Anke ahnte schon seit langer Zeit, dass es andere Frauen gab, zu denen er zärtlich war und mit denen er sie betrog. Ohne die kleine Silke hätte sie die Ehe mit Georg Baldwin kaum bis jetzt ertragen. Hinzu kam die Scheu vor ihrem alten Vater, dem Leuchtturmwärter Hinrich Grimm. Ihr guter Vater war von Anfang an gegen die Ehe seiner einzigen Tochter mit dem Schiffsmakler aus Hamburg gewesen.

Der jungen Frau brannten Tränen in den Augen. Sie sagte kein Wort mehr, sondern schob sich an ihrem Mann vorbei und eilte die Treppe hinab. Als sie gerade in die Küche gehen wollte, klingelte das Telefon.

Anke betrat das sogenannte Arbeitszimmer ihres Mannes. Hier stand zwar ein Schreibtisch mit kostbarer italienischer Schnitzerei, doch Georg Baldwin saß niemals hier um zu arbeiten. Er hatte sein Büro in der Innenstadt. Wohin er sonst ging, wenn er unterwegs war, wusste seine Frau nicht. Sie konnte sich von der Art seiner Tätigkeit nur eine undeutliche Vorstellung machen. Was die fortgesetzten aufwendigen Einladungen, die er gab, damit zu tun haben sollten, entzog sich vollends ihrer Kenntnis.

Die junge Frau nahm den Hörer ab und meldete sich. »Anke Baldwin.«

»Ich möchte Herrn Baldwin sprechen. Es ist dringend.«

Eine Frauenstimme hatte das gesagt. Anke konnte nicht verhindern, dass ihr Herz schneller schlug. »Einen Augenblick, bitte«, sagte sie, fragte die Anruferin aber nicht nach ihrem Namen. Sie würde ihn ja doch nicht erfahren.

Schon erschien Georg am Fuß der Treppe. »Für mich?«, fragte er nur.

»Ja.«

Anke wollte nicht lauschen. Doch der Klang seiner Stimme ließ sie aufhorchen. So hatte er früher mit ihr gesprochen – damals, als er sie um jeden Preis hatte für sich gewinnen wollen.

In der Küche waren fleißige Hände am Werk. Die düstere Prophezeiung des Hausherrn, dass am Abend nichts klappen würde, würde sich gewiss nicht erfüllen. Es war durchaus überflüssig, dass Anke sich noch einmal einmischte. So grüßte sie nur freundlich und trat den Rückweg an.

Zwischen Tür und Angel zur Diele prallte sie fast mit Georg zusammen, der wie ein Wilder aus dem Haus stürmte. »Pass doch auf«, schalt er. »Falls ich bis zum Eintreffen der ersten Gäste nicht zurück bin, musst du mich entschuldigen und die Leute allein empfangen.« Schon war er auf und davon. Die Tür schlug hart hinter ihm zu.

Anke konnte durch die Glasscheibe sehen, dass er in seinen Wagen einstieg und mit hoher Geschwindigkeit davonbrauste. Er wollte zweifellos zu der Frau, die eben angerufen hatte.

Der Gedanke tat Anke längst nicht mehr weh. Im Gegenteil – sie atmete erleichtert auf, dass ihr Mann zunächst einmal weg war. So gab es wenigstens keinen Streit mehr, und sie konnte sich um Silke kümmern, die ständig zu kurz kam, dessen Vater nicht einmal mehr verbarg, dass ihm das zauberhafte Kind lästig war.

Anke stieg die Treppe langsam wieder hinauf. Im hellen Kinderzimmer stand Silke am Fenster.

»Er ist weg«, sagte die Kleine. »Warum ist er immer böse mit uns?«

Anke umarmte ihr Töchterchen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie.

»Er mag uns nicht, Mutti. Wollen wir zu Großväterchen im Leuchtturm fahren und nie mehr heimkommen? Es muss wunderschön dort sein, viel schöner als hier. Großväterchen ist bestimmt immer lieb zu uns.«

»So einfach ist das nicht, Liebling«, erwiderte Anke traurig. »Aber es ist möglich, dass wir eines Tages hinfahren.«

Silke strahlte. »Ich nehme meinen roten Wettermantel mit und die Regenkappe, Mutti. Du hast gesagt, dass man auf der Insel festes Zeug braucht. Bloß gut, dass ich schon alles habe.«

Anke küsste die Kleine. Als ob das rote Lackmäntelchen das Wichtigste an dieser Reise wäre, die möglicherweise einen Abschied für immer bedeuten würde!

Sie erzählte dem andächtig lauschenden Kind von der kleinen Insel Neuwerk in der Elbemündung, auf der sie selbst aufgewachsen war. Immer wieder fragte Silke nach dem Leuchtturm. Dass ihr Großvater für dieses bedeutende Seezeichen die Verantwortung trug, fand sie ungeheuer interessant. In ihrer kindlichen Vorstellung war der alte Hinrich Grimm ein Mann, der von seinem Leuchtturm aus das ganze Meer beherrschte.

Am Abend, als Silke in ihrem Bettchen lag, fuhren unten die Wagen der Gäste vor. Anke trug ein langes festliches Kleid und hatte ihr lichtblondes Haar hochgesteckt. Sie war eine schöne Frau, doch ihre blauen Augen blickten den heiter gestimmten Menschen kummervoll entgegen. Ihren Mann musste sie zunächst bei den Gästen entschuldigen. Er habe etwas Dringendes erledigen müssen, erklärte sie und senkte die Lider, um die teils spöttischen, teils wissenden Blicke der Leute nicht sehen zu müssen.

Als Georg Baldwin endlich erschien, war er stark angeheitert und lärmte in peinlicher Weise. Insgeheim fragte sich Anke, ob er in dieser Verfassung in der Lage sei, geschäftliche Verbindungen anzuknüpfen. Er machte sichtlich auf niemanden einen vorteilhaften Eindruck. Man ging ihm deutlich aus dem Weg.

Warum ertrage ich das immer noch?, fragte sich Anke zum tausendsten Mal. Sie war müde und fühlte sich wie eine Fremde im eigenen Haus. Es war schon fast zwei Uhr morgens. Allmählich schickten sich die Gäste zum Gehen an. Ihr Mann flirtete eben mit der Tochter eines Reeders aus Griechenland, der angeblich sein Geschäftspartner war. Doch nun ergriff der Grieche unmissverständlich den schlanken Arm seiner Tochter und zog sie mit sich fort.

Endlich war das Haus leer. Georg Baldwin schenkte sich noch einmal Whisky ein. Anke wollte zu Bett gehen, aber ihr Mann befahl mit schwerer Stimme: »Bleib hier!«

Gewohnheitsmäßig gehorchte sie. Es war einfacher, als sich seinen Zorn zuzuziehen.

»Trink etwas«, forderte er sie auf. »Du bist so nüchtern, dass es mich richtig wütend macht.«

»Ich mag nicht, Georg.« Anke hasste Whisky.

»Die Welt sieht ganz anders aus, wenn man etwas getrunken hat.«

»Ich mache mir nun einmal nichts daraus. Willst du nicht schlafen gehen? Es wird schon bald wieder hell.«

»Wie eine Schulmeisterin redest du. Verflixt, guck mich nicht so an! Trink endlich etwas!« Mit unsicherer Hand füllte er ein Glas und hielt es ihr hin. »Hier.«

»Wirklich, ich möchte nicht, Georg.«

»Ich verlange, dass du es austrinkst!«

»Lass mich bitte in Ruhe. Ich kann nicht.«

Er stand auf und umklammerte ihren Arm. Als sie sich wehrte, warf er das Glas nach ihr. Es traf sie über dem Auge, der Whisky rann über ihr Kleid.

Plötzlich hatte sie keine Angst mehr vor ihm. Sie lief die Treppe hinauf und verschloss zunächst das Kinderzimmer. Dann huschte sie in ihr eigenes Schlafzimmer und drehte von innen den Schlüssel um.

Während sie mit einem Tuch das Blut von ihrem Gesicht tupfte, flüsterte sie: »Nun fahren wir nach Neuwerk, Silke.«

*

»Wie heißt die Insel?«, fragte die kleine schwarze Peggy neugierig.

»Neuwerk, Peggy. Sie liegt in der Elbemündung und hat einen Leuchtturm.«

»Was ist das, Onkel Luchs?«

Peggy, das Pflegekind des bekannten Tier- und Reiseschriftstellers Eugen Luchs, stammte aus Swasiland in Afrika. Zwar hatte sie sich inzwischen in Deutschland völlig eingelebt und besuchte bereits die Schule, doch von einem Leuchtturm hatte sie noch nie etwas gehört.

»Ein Turm mit einer besonders hellen Lampe, die über das Meer leuchtet, damit die Schiffe auch nachts ihren Weg finden.«

»Wohnt jemand im Turm?«

»Ja, der Leuchtturmwärter mit seiner Familie.«

»Und wo wohnen wir?«, fragte Peggy etwas besorgt. »Unseren Wohnwagen können wir nicht mit auf die Insel nehmen.«

»Nein, das geht nicht. Wir lassen ihn in Duhnen stehen. Das ist der nächste Ort. Wir werden uns bei einer Familie einmieten und richtige Inselferien machen.«

»Hast du auch für die ganze Zeit genügend Tiergeschichten auf Band gesprochen beim Rundfunk, Onkel Luchs?«, erkundigte sich Peggy altklug. »Sonst sind die Kinder nämlich enttäuscht, besonders die Kinder in Sophienlust.«

»Habe ich, Peggy«, erwiderte der untersetzte Mann mit dem imponierenden Vollbart. »Es liegt alles im Funkhaus bereit und kann jede Woche zur üblichen Sendezeit abgespielt werden.«

Der Schriftsteller und das Kind aus dem fernen Afrika waren inzwischen ein gutes Stück weitergekommen und erreichten nun im hellen Nachmittagssonnenschein das Grundstück des Tierarztes Dr. Hans-Joachim von Lehn in Bachenau.

Im Freigehege des von seiner jungen Frau Andrea gegründeten Tierheimes Waldi & Co. waren die Sophienluster Kinder erwartungsvoll versammelt. »Onkel Luchs, Onkel Luchs«, riefen sie durcheinander. »Erzählst du uns zum Abschied noch eine Geschichte?«

»Versprochen ist versprochen«, antwortete Eugen Luchs.

Die bildhübsche Andrea von Lehn begrüßte ihn herzlich. »Sie werden uns fehlen, Herr Luchs«, sagte sie. »Aber wir haben uns im Laufe der Zeit daran gewöhnt, dass Sie niemals ganz sesshaft werden können.«

»Dazu bin ich in meinem Leben schon zu viel herumzigeunert, Frau Andrea. Es steckt mir im Blut. Damals, als ich hier bei Sophienlust den schönsten Platz für meinen Wohnwagen fand, dachte ich beinahe, dass ich nie mehr reisen würde. Aber das war ein Irrtum.«

»Dabei ist unser Swasiland so schön«, mischte sich Peggy ein. »Aber das Reisen gefällt mir auch sehr gut.«

Der idyllische Standplatz des Wohnwagens zwischen dem Kinderheim Sophienlust und dem Tierheim Waldi & Co. war zu Ehren von Peggys Heimat Swasiland genannt worden. Eugen Luchs hatte das echte Swasiland einmal gründlich bereist. Damals hatte er sich des verwaisten Kindes angenommen und es nach Deutschland mitgebracht. Hatte der Schriftsteller einmal selbst nicht die Möglichkeit, Peggy zu betreuen, so fand die Kleine liebevolle Aufnahme im Kinderheim Sophienlust. Denise von Schoenecker, Andreas Stiefmutter, hatte die kleine Afrikanerin in ihr Herz geschlossen, und die Kinder von Sophienlust betrachteten Peggy als zu ihnen gehörig. An ihrer dunklen Hautfarbe nahm niemand den geringsten Anstoß.

»Du darfst ja mitfahren, Peggy«, meinte Eugen Luchs. »Schließlich sind Ferien.«

Die Kinder drängten sich um Eugen Luchs und bettelten um die Geschichte, die ihnen zugesagt worden war. Man lagerte sich ins Gras, und der Schriftsteller wollte eben mit seiner Geschichte beginnen, als ein vielstimmiger Schrei ertönte. Alle blickten erschrocken auf. Vor ihren Augen stieß ein mächtiger Vogel herab und schwang sich blitzschnell wieder empor. In seinen Fängen aber hielt er einen Junghasen, der sich verzweifelt zu wehren versuchte.

»Das ist ein Adler«, rief Eugen Luchs befremdet aus. »Hier in dieser Gegend ist das höchst ungewöhnlich.«

Niemand hörte ihm zu. Die Tiere im Freigehege flüchteten unter schützende Büsche, und Waldi, Chef und Namens­patron des Tierheims, kläffte wütend. Man merkte dem Dackel seine Entrüstung deutlich an.

Die Kinder gaben erregt ihrer Meinung Ausdruck.

»Der arme kleine Hase!«

»So ein gemeines Biest. Das ist bestimmt ein Geier.«

»Quatsch, hier gibt es keine Geier.«

»Es ist ein Adler«, wiederholte Eugen Luchs laut. »Seht nur, er trägt einen Ring am Bein. Wahrscheinlich ist er entflohen.«

»Wir müssen den armen kleinen Hasen retten«, schrie Pünktchen. »Lass dir ganz schnell etwas einfallen, Onkel Luchs!«

»Wenn Hans-Joachim doch hier wäre!«, rief Andrea bedauernd. »Er könnte vielleicht etwas tun. Ausgerechnet heute wollte er auf die Jagd gehen.«

Kaum hatte sie den Satz beendet, ertönte ein Schuss. Das war ein neuer Schreck für alle. Dann aber sahen sie, dass kein anderer als der Tierarzt eben zur rechten Zeit erschienen war.

Deutlich erkannte man, dass der mächtige Adler unsicher wurde und den Hasen schließlich aus seinen Fängen gleiten ließ. Das kleine Tier fiel auf einen an das Freigehege angrenzenden Acker.

»Vielleicht ist der Hase noch nicht tot«, flüsterte Peggy mitleidig.

Die Kinder machten sich auf, um dem Hasen beizustehen.

»Er lebt«, stellte Nick erleichtert fest.

»Vorsichtig«, ermahnte Eugen Luchs den lang aufgeschossenen Gymnasiasten, »er könnte sich etwas gebrochen haben.«

Die Kinder brachten das blutende Tierchen dem Tierarzt. »Wird er durchkommen?«, fragte Henrik von Schoenecker atemlos und sah seinen großen Schwager gespannt an.

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, antwortete Hans-Joachim. »Hilfst du mir, Andrea?«

Das Ehepaar ging mit dem Hasen in die Praxis des Tierarztes. Schwester Regine und die Kinder warteten gespannt auf das Ergebnis der Untersuchung.

»Woher der Adler nur gekommen sein mag«, überlegte Eugen Luchs halblaut.

Die Kinder stellten allerlei Mutmaßungen an. Schließlich kamen Andrea und Dr. Hans-Joachim von Lehn zurück. Andrea trug den verletzten Hasen wie ein Wickelkind im Arm. Das Tier war sorgsam verbunden, machte jedoch einen etwas kläglichen Eindruck.

»Bei guter Pflege kriegen wir ihn durch«, meinte Andrea. »Es sah zuerst schlimmer aus, als es ist. Der kleine Kerl hat Glück gehabt.«

Als sie den verbundenen Hasen ins Tierheim tragen wollte, kam ein fremder Junge in den Hof gelaufen, der etwa fünf oder sechs Jahre alt sein mochte. Sein Äußeres wirkte alles andere als gepflegt, auf seinem Gesicht zeichneten sich Erschöpfung und Aufregung ab. Als er das Gewehr des Tierarztes auf der Bank vor dem Haus liegen sah, keuchte er zornig: »Sie haben ihn erschossen!«

Dr. von Lehn trat näher, nahm sein Gewehr und schüttelte dabei den Kopf. »Aber nein, mein kleiner Freund. Falls du den Adler meinst – dem habe ich gewiss nichts getan. Es war nur ein Schreckschuss, damit er den Junghasen wieder hergab.«

»Wo ist mein lieber Greif?«, fragte der Junge vorwurfsvoll, wobei er das ›R‹ stark rollte.

»Das weiß ich leider nicht«, antwortete der Tierarzt, während die Umstehenden den fremden Buben neugierig musterten.

»Wir suchen Greif schon seit gestern. Er ist weggeflogen. Jetzt ist er bestimmt tot.« Nun rannen dem Buben ein paar dicke Tränen über die verschmierten Bäckchen.

»Glaub mir doch«, versicherte der Tierarzt erneut, »es war nur ein Schuss in die Luft. Einen so wunderschönen Adler würde ich doch nicht totschießen.«

Der Junge wurde etwas ruhiger, und Andrea übergab den pflegebedürftigen Junghasen ihrem Mann und legte die Hand auf des Buben magere Schulter.

»Wo wohnst du?«, fragte sie sanft.

»Im Wald«, antwortete der Bub scheu. »In dem kleinen Haus auf der Lichtung.«

»Hm, dort hat ein Häuschen lange Zeit leergestanden«, erinnerte sich Andrea. »Gewiss wohnst du noch nicht lange dort.«

Der Junge nickte. »Mein Vater wollte gern dort bleiben wegen Greif. Den haben wir nämlich mitgebracht.«

»Ach so«, erwiderte Andrea, als ob sie ganz genau verstehe. »Und wie heißt du?«

»Thomas Grothe.«

»Also, Thomas, mein Mann hat deinen Adler bestimmt nicht verletzt.«

Thomas fuhr sich mit den schmutzigen Fingern durchs Gesicht. »Vati war sehr traurig gestern. Deshalb bin ich heute allein losgegangen, um Greif zu suchen. Als ich ihn endlich sah, war ich froh. Aber dann kam der Schuss …« Er sprach nicht weiter, sondern warf einen misstrauischen Blick in Richtung auf das Tierheim, durch dessen Eingangstür der Tierarzt inzwischen mit dem Hasen verschwunden war.

»Der Schuss hat deinen Greif verscheucht, Thomas«, tröstete Andrea den Jungen. »Am besten, du gehst jetzt nach Hause. Deine Eltern werden sich sorgen.«

»Bloß mein Vati«, korrigierte sie der Junge. »Meine Mutti ist doch tot.« Es klang, als würde das jedermann wissen. »Und Vati hat noch geschlafen, als ich wegging.«

»Nun, dann lauf zu, Thomas.« Andrea lächelte ihm zu.

Indessen hatte Eugen Luchs die Kinder wieder zum Freigehege geführt, wo sie sich erneut im Kreis lagerten, um endlich die versprochene Geschichte zu hören. Peggy sah, wie der fremde Junge zögernd davonging. Sie sprang auf und flüsterte ihrem Pflegevater zu. »Warte noch, Onkel Luchs.«

Mit der ihr eigenen Behändigkeit huschte Peggy davon und nahm des fremden Buben Hand. »Magst du auch zuhören, Thomas?«, fragte sie. »Onkel Luchs erzählt schöne Geschichten. Dann bist du nicht mehr traurig wegen des Adlers. Ich denke, dass dein Greif heimfinden wird, wenn er hungrig ist.«

»Ich würde schon gern zuhören, wenn ich darf«, gestand Thomas schüchtern.