Sophienlust 195 – Familienroman - Marisa Frank - E-Book

Sophienlust 195 – Familienroman E-Book

Marisa Frank

4,0

Beschreibung

Der hoch aufgeschossene Junge sah dem Mädchen entgegen, das atemlos angerannt kam."Entschuldige!", rief Pünktchen schon von Weitem. "Ich weiß, ich habe mich verspätet."Das kann man wohl sagen", erwiderte Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick. "Eine halbe Stunde warte ich nun schon.Betreten senkte Pünktchen den Kopf. Selbst ihre vielen Sommersprossen, denen sie ihren Namen verdankte, schienen jetzt nicht so unternehmungslustig zu funkeln wie sonst."Ich kann doch nichts dafür. Ich wurde Heidi einfach nicht los." Es war Pünktchen so peinlich, dass Nick hatte warten müssen. Sie hing sehr an dem Erben und Besitzer von Sophienlust, einem Kinderheim, in dem sie aufwuchs. Sie war erst dreizehn Jahre alt, aber trotzdem träumte sie schon davon, einmal Nicks Frau zu werden."Macht ja nichts", tröstete der Junge gutmütig. Trotz seiner sechzehn Jahre handelte er oft selbstständig, wenn es darum ging, einem Kind zu helfen. Noch verwaltete seine Mutter, Denise von Schoenecker, das Kinderheim. Doch Nick war stolz auf Sophienlust und verbrachte seine Freizeit meist dort.Mit Pünktchen hatte er sich an diesem Tag auf der Pferdekoppel verabredet, die gleich hinter den Wirtschaftsgebäuden von Gut Schoeneich begann und bis nahe an Sophienlust heranreichte. Die beiden Jungendlichen wollten ausreiten. Nick war ein ausgezeichneter Reiter und Besitzer eines eigenen Pferdes.

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Sophienlust – 195–

Mein Kind gehört nur mir

Sein Vater soll nie etwas von der kleinen Jenny erfahren

Marisa Frank

Der hoch aufgeschossene Junge sah dem Mädchen entgegen, das atemlos angerannt kam.

»Entschuldige!«, rief Pünktchen schon von Weitem. »Ich weiß, ich habe mich verspätet.«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick. »Eine halbe Stunde warte ich nun schon.«

Betreten senkte Pünktchen den Kopf. Selbst ihre vielen Sommersprossen, denen sie ihren Namen verdankte, schienen jetzt nicht so unternehmungslustig zu funkeln wie sonst.

»Ich kann doch nichts dafür. Ich wurde Heidi einfach nicht los.« Es war Pünktchen so peinlich, dass Nick hatte warten müssen. Sie hing sehr an dem Erben und Besitzer von Sophienlust, einem Kinderheim, in dem sie aufwuchs. Sie war erst dreizehn Jahre alt, aber trotzdem träumte sie schon davon, einmal Nicks Frau zu werden.

»Macht ja nichts«, tröstete der Junge gutmütig. Trotz seiner sechzehn Jahre handelte er oft selbstständig, wenn es darum ging, einem Kind zu helfen. Noch verwaltete seine Mutter, Denise von Schoenecker, das Kinderheim. Doch Nick war stolz auf Sophienlust und verbrachte seine Freizeit meist dort.

Mit Pünktchen hatte er sich an diesem Tag auf der Pferdekoppel verabredet, die gleich hinter den Wirtschaftsgebäuden von Gut Schoeneich begann und bis nahe an Sophienlust heranreichte. Die beiden Jungendlichen wollten ausreiten. Nick war ein ausgezeichneter Reiter und Besitzer eines eigenen Pferdes. Das Reiten wurde auf Sophienlust und auf Gut Schoen­eich großgeschrieben. Die Ponys der Kinder von Sophienlust hatten auch auf dieser Koppel ihren Auslauf.

Nick wollte gerade galant wie er war, Pünktchen in den Sattel helfen, als ein freudiges Gebell laut wurde. Da schoss auch schon ein Bernhardiner-Rüde heran.

»Barri, wirst du zurückgehen!«, schimpfte Pünktchen. Verzweifelt sah sie Nick an. »Nun ist er mir doch nachgelaufen. Womöglich kommt Heidi auch noch.«

»Das glaube ich nicht.« Nick beugte sich zu dem Hund hinab und kraulte dessen weißbraunes Fell. »Dann wäre Heidi auch schon hier. Barri ist wirklich ein sehr kluger Hund. Er hätte die Kleine nicht allein zurückgelassen.«

Es schien, als habe der Hund ihn verstanden. Er bellte kurz auf und sah Nick mit seinen hellen Augen dankbar an.

»Was machen wir nur mit ihm?« Pünktchen stemmte ihre Hände in die Seiten. »Wenn wir ihn zurückbringen, dann können wir das Ausreiten für heute vergessen. Ich hatte genug Schwierigkeiten wegzukommen. Heidi wollte unbedingt mit. So lieb sie ist, sie kann ein Quälgeist sein.«

»Daran seid ihr selbst schuld. Ihr verwöhnt Heidi. Keiner von euch kann ihr etwas abschlagen«, meinte Nick.

»Und du, kannst du es vielleicht?« Herausfordernd blickte Pünktchen den Freund an. »Erinnere dich nur an vorgestern Abend! Eigentlich wollten wir Boot fahren, aber dann hast du mit Heidi Puppen gespielt.«

»Na ja, sie ist nun mal mit ihren fünf Jahren das jüngste Dauerkind in Sophienlust.«

»Aber sie muss nicht überall dabeisein.« Nick gegenüber empfand Pünktchen ein wenig Eifersucht. Sie war sonst sehr liebevoll und kümmerte sich in der nettesten Weise um die Kleinen von Sophienlust. Heidi hatte sie genau, wie alle anderen Kinder, in ihr Herz geschlossen. Der Kleinen mit den hellblonden Rattenschwänzen und den blauen Augen konnte einfach niemand böse sein. Aber Pünktchen hatte noch nicht vergessen, dass Nick sie vor zwei Tagen wegen Heidi versetzt hatte.

»Was machen wir nun mit Barri? Können wir jetzt wieder nicht ausreiten?« Herausfordernd hob das Mädchen seine Stupsnase.

»Er soll einfach mitkommen. Bewegung schadet ihm sicher nicht.« Nick wandte sich an Barri, der schwanzwedelnd vor ihm stand. »Was meinst du dazu? Willst du mit den Pferden um die Wette laufen?«

Der Hund sprang an ihm hoch und führte eine Art Freudentanz auf.

»Na, bitte, er versteht mich. Er will!« Nick lachte, ergriff Pünktchen bei den Hüften und hob sie auf ihr Pferd.

Zuerst ging es gemütlich durch den großen Park, der zu Schoeneich, dem Stammsitz der Familie von Schoenecker, gehörte. Der Park war gepflegt und hatte einen alten Baumbestand. Mittendrin stand das Gutshaus. Pünktchen war oft dort zu Gast. Sie war das einzige Kind von Sophienlust, das Alexander von Schoenecker, Nicks Stiefvater, Onkel nannte. Denise von Schoenecker wurde dagegen von allen Kindern zärtlich Tante Isi genannt.

Pünktchen und Nick ritten diesmal an dem schlossartigen Bau mit seinem Turm vorbei. Pünktchen sah die dunklen Mauern, an denen sich wilder Wein emporrankte, nur von Weitem. Vorbei ging es auch an der kleinen Schlosskapelle, die zu dem Gut gehörte, und an dem gepflegten Tennisplatz. Dort trugen gerade Angelika und Fabian, ein schmächtiger Junge, ein Match aus.

»Pünktchen«, schrie Angelika mit voller Lautstärke, »wollt ihr nicht mitspielen? Fabian macht bereits schlapp.«

»Nein, du siehst doch, wir reiten aus!«, rief Pünktchen, deren wirklicher Name Angelina Dommin war, über die Schulter zurück. Dann gab sie ihrem Pferd die Sporen, damit Nick es sich nicht vielleicht doch noch anders überlegen konnte.

Seit vierzehn Tagen freute sich Pünktchen auf diesen Ausritt, denn vor zwei Wochen war sie mit Nick das letzte Mal ausgeritten. Immer war seitdem etwas dazwischen gekommen. Einmal hatte sie keine Zeit gehabt, dann war es wieder Nick gewesen, der nicht erschienen war.

»Was reitest du wie eine Verrückte?«, fragte Nick, der sein Pferd ebenfalls angetrieben hatte und nun an Pünktchens Seite weiterritt.

»Ich wollte nicht, dass du anhältst. Am Ende hätte Angelika dich noch herumbekommen, und du hättest Tennis gespielt.«

»So ein Quatsch! Du weißt doch, wie gern ich mit dir ausreite.«

Pünktchen errötete. Tief beugte sie sich über den Hals ihres Pferdes. »Los, wer ist zuerst am Waldsee?«, rief sie dann glücklich und schwenkte die Hand.

Seite an Seite galoppierten die beiden über die Wiesen. Einmal war Nick eine Pferdelänge voraus, dann wieder Pünktchen. Schließlich gelang es Nick doch, seine Freundin um einige Längen abzuhängen. Er ließ sich gerade aus dem Sattel gleiten, als Pünktchen angaloppiert kam.

»Das war herrlich!« Pünktchen strahlte. Ehe Nick ihr behilflich sein konnte, stand sie schon auf dem Waldboden. Aus ihrer Hosentasche holte sie ein Stück Zucker und hielt es dem Pferd hin.

»Du warst brav.« Sie tätschelte die schweißnassen Flanken. »Einmal werden wir Nick schon schlagen.«

»Du reitest ausgezeichnet«, lobte Nick sie und gab seinem Pferd einen leichten Schlag.

Hier konnten sie die beiden Tiere ungehindert herumstrolchen lassen. Sie liefen nicht weg, sondern blieben stets in der Nähe.

Mit heraushängender Zunge kam Barri angetrabt. Er wollte natürlich auch gelobt werden. Fordernd bellte er und rieb seinen Kopf an Pünktchens Beinen.

»Na, hat es dir Spass gemacht?« Spielerisch gab Pünktchen ihm einen Klaps. »Aber das nächste Mal bleibst du zu Hause, wenn ich es dir befehle«, setzte sie streng hinzu.

Barri stieß einen klagenden Laut aus und drehte ihr ostentativ sein Hinterteil zu.

Nick lachte. »Er ist wirklich ein kluges Tier.«

Kurze Zeit saßen die Kinder am Rand des kleinen Sees und zielten abwechselnd mit kleinen Steinen nach Seerosenblättern. Dann suchten sie nach Erdbeeren, aber sie fanden nur weiße Blüten oder unreife Beeren.

»Wenn es so schön bleibt, haben wir vielleicht nächste Woche mehr Glück.« Nick richtete sich auf und pfiff seinem Pferd. »Wollen wir noch zum Forsthaus reiten?«

»Gern!« Pünktchen war begeistert. Das Forsthaus gehörte zu den beliebtesten Ausflugszielen. Der alte Oberförster Bullinger, der dort mit seiner Frau Frieda im Ausgedinge wohnte, hatte es den Sophienluster Kindern angetan. Er sah mit seinem langen weißen Vollbart nicht nur wie eine Märchenfigur aus, sondern konnte auch die wunderbarsten Geschichten erzählen.

»Barri, komm, es geht weiter!«

Barri gehorchte, aber er strafte Pünktchen mit Verachtung. Er hielt sich zunächst dicht hinter Nicks Pferd. Doch dann schien er plötzlich die Lust dazu verloren zu haben. Übermütig sprang er hinter einem Zitronenfalter her. Schließlich verschwand er hinter einer Baumgruppe.

Nick pfiff dem Hund, aber Barri reagierte nicht. Nur sein Bellen war zu hören. Irgendetwas musste seine Aufmerksamkeit erregt haben.

»Barri, Fuß!« Nick und Pünktchen riefen es abwechselnd, doch ohne Erfolg.

»Er hat etwas gefunden. Lass uns nachsehen.« Nick trieb sein Pferd auf die Baumgruppe zu.

Barri verbellte eine junge Frau, die zusammengekauert auf der Erde saß. Mit großen ängstlichen Augen starrte sie auf den Bernhardiner.

Nick sprang ab und ergriff Barri an seinem Halsband. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Er tut keinem etwas zuleide.«

Pünktchen glitt ebenfalls aus dem Sattel. Besorgt näherte sie sich der jungen Frau, der das lange blonde Haar wirr um das Gesicht hing. »Ist Ihnen nicht gut. Können wir etwas für Sie tun?«

»Nein.« Die junge Frau stöhnte und drehte sich zur Seite. »Geht, verschwindet«, zischte sie dann.

»Was hat sie?« Nick war entsetzt. Die Frau – eigentlich war es noch mehr ein Mädchen – schien große Schmerzen zu haben.

Pünktchen kniete neben ihr nieder und strich ihr das schweißverklebte Haar aus dem Gesicht. Dabei sah sie, dass die Lippen der Fremden blutig gebissen waren.

Wie wild schlug die junge Frau jetzt mit den Fäusten um sich. »Lasst mich doch in Ruhe. Ich brauche niemanden …« Dann sank ihr Körper zu Boden, wobei ein unmenschliches Stöhnen über ihre Lippen kam.

Pünktchens Blick war an der Gestalt abwärts geglitten. Sie wurde blass. Sie erkannte, dass dieses Mädchen hochschwanger war.

»Nick, du musst schnell nach Schoen­eich. Du musst deine Mutti verständigen. Tante Isi muss herkommen. Schnell, sonst ist es zu spät.«

Langsam begriff Nick.

»Schnell, ich bleibe hier!« Pünktchen drängte Nick zu seinem Pferd. »Bitte, bitte, beeile dich«, sagte sie verzweifelt. »Ich habe so etwas noch nie …«

Nick wusste, was Pünktchen sagen wollte. Schon saß er auf seinem Pferd und ritt wie ein Wilder davon. Jetzt konnte er zeigen, was für ein hervorragender Reiter er war. Er schaffte die Strecke in kürzester Zeit. Atemlos stürmte er in die Halle.

»Mutti, Mutti, wo bist du?«

»Warum brüllst du so?« Henrik, ein richtiger Lausbub, erst neun Jahre alt, steckte seinen Kopf zur Tür herein.

»Ich brauche dringend Mutti!«

Ungerührt grinste Henrik. »Sag’ mir, was du von ihr willst, dann verrate ich dir, wo sie ist.«

»Mensch, Henrik! Es ist wichtig!«

Jetzt bemerkte der Kleinere erst, wie aufgeregt sein Bruder war. Es

schien wirklich ernst zu sein. »Mutti ist im Turmzimmer, aber sie will nicht gestört werden. Ich würde sie an deiner Stelle nicht stören.«

»Es muss sein!« Nick machte auf dem Absatz kehrt.

Ungeduldig sah Denise von Schoenecker hoch, als die Tür des Turmzimmers heftig aufgestoßen wurde. »Ich habe doch gesagt, dass ich arbeiten will.«

»Ich bin es, Mutti. Du musst schnell mitkommen.«

Denise, eine noch sehr jugendlich aussehende Frau, zog die Augenbrauen zusammen. Sie erkannte, dass irgendetwas ihren Ältesten schrecklich erregt hatte.

»Schnell, Mutti! Es geht um Leben und Tod«, drängte Nick.

Er übertreibt nicht, dachte Denise. Sie erkannte es an seinem Gesicht. Sie stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Nick hatte jedoch keine Ruhe. Er drängte seine Mutter zur Tür. »Wir müssen fahren. Pünktchen ist mit der Frau allein«, aufgeregt sprudelte er das eben Erlebte hervor.

Einen Moment glaubte Denise, nicht richtig verstanden zu haben. Sie sah in Nicks verstörtes Gesicht. Sie wusste, der Junge war sehr vernünftig. So etwas würde er sich nicht aus den Fingern saugen. Deshalb zögerte sie nicht länger.

Denise brauchte für den Weg in den Wald länger, als ihr Sohn von dort nach Schoeneich gebraucht hatte, denn sie konnte ja nicht einfach über die Wiesen fahren.

»Dort, bei der Baumgruppe!« Nick fasste seine Mutter am Arm. »Du musst hier halten.«

»Ich werde versuchen, von hinten an die Bäume heranzufahren.« Denise bog vom Weg ab. Nach einigen Metern kam dem Wagen Barri entgegengesprungen.

Pünktchen kniete neben der jungen Frau und wischte ihr mit ihrem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Erleichtert atmete sie auf, als sie das Auto hörte und dann Tante Isi sah.

»Ich glaube, es ist gleich soweit.«

»Kommen Sie!« Denise wollte der jungen Frau aufhelfen, aber diese stöhnte nur.

»In welchen Abständen kommen die Wehen?«, fragte Denise sachlich.

»Ich weiß es nicht. Hören Sie, gehen Sie, lassen Sie mich allein.«

Der Ausdruck in den Augen der jungen Frau war der eines gehetzten Tieres.

»Reden Sie keinen Unsinn. Sie müssen in ein Bett. Nick, bitte, hilf! Wir müssen sie zum Auto bringen.« Denise hakte die junge Frau unter und zog sie hoch.

»Lassen Sie mich doch. Ich will allein sein.« Der Protest wurde jedoch immer schwächer. Schließlich ließ sie zu, dass Nick sie am anderen Arm unterhakte.

»Danke, Nick. Jetzt komme ich schon allein zurecht«, sagte Denise, als die junge Frau am Vordersitz Platz genommen hatte. Sie wollte nicht, dass Pünktchen und ihr Sohn länger mit dieser Sache konfrontiert wurden. Für die beiden war es sicherlich ein erschütterndes Erlebnis.

»Was willst du tun, Mutti?«

»Das Naheliegendste. Sie ins Doktorhaus bringen.« Denise warf einen Blick auf die junge Frau. Zusammengekrümmt saß sie auf dem Sitz. Eine Welle des Schmerzes schien eben wieder über sie hinwegzugehen. Es war also höchste Zeit. Denise nickte den Kindern zu, klemmte sich hinter das Steuer und fuhr davon.

»Wohin bringen Sie mich?«

»In ein Bett. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Kind da ist.« Denise fuhr schnell. Dabei versuchte sie den Schlaglöchern auszuweichen.

»Ich weiß gar nicht, ob ich das Kind will. Es wäre besser gewesen, Sie hätten mich im Wald verbluten lassen.«

»Sobald Sie das kleine Wesen in Ihren Armen halten, werden Sie anders denken. Vergessen Sie nicht, das Kind hat ein Recht auf Leben. Sie dürfen nicht für das Kind entscheiden.«

»Ja, ich habe mich zuerst auch darauf gefreut. Warum wird einem nur alles so schwer gemacht?« Weiter kam die junge Frau nicht. Die Schmerzen wurden wieder unerträglich. Sie gab ihnen nach und stöhnte.

»Wir sind gleich da. Dann wird es besser werden. Dann können Sie sich entspannen.«

Das Doktorhaus stand an der Grenze von Wildmoos, einem Ort, zu dem auch Sophienlust gehörte. Die Bewohner des Doktorhauses waren das Arztehepaar Frey, deren kleines Töchterchen Felicitas und eine alte Tante. Zwischen der Familie von Schoenecker und der Familie Frey bestand eine langjährige Freundschaft. Dr. Anja Frey war außerdem die ärztliche Betreuerin der Kinder von Sophienlust. Was lag also näher, als dass Denise die junge werdende Mutter zu dem Arztehepaar brachte?

Denise fuhr auf das Grundstück, auf dem das Doktorhaus stand. Sofort wurde das Auto von Stoffel, einem Spaniel, umsprungen. Freudig begrüßte er Denise, denn er und seine kleine Herrin Felicitas, genannt Filzchen, waren oft in Sophienlust.

Erstaunt erschien Anja Frey in der Haustür. Sie hatte Denise von Schoenecker an diesem Tag nicht mehr erwartet. Dann fiel ihr Blick auf Denises Begleiterin, und es bedurfte keiner weiteren Erklärung mehr. Sofort griff sie zu.

Die junge Frau konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Jetzt ließ sie alles willenlos mit sich geschehen.

Frau Dr. Frey brachte sie im Gästezimmer unter. »Nun müssen Sie mithelfen«, sagte sie. »Dann ist es gleich soweit. Hier können Sie auch schreien.«

Rasch wurden alle Vorbereitungen getroffen. Dann erschien Dr. Stefan Frey. Er nickte Denise nur kurz zu und kümmerte sich gleich um die werdende Mutter. Mit ruhiger Stimme sprach er auf sie ein, versuchte ihr die Angst zu nehmen.

Denise wollte das Zimmer verlassen, aber der flehende Ruf der jungen Frau hielt sie zurück. Sie trat an das Bett und ergriff die unruhig zuckende Hand.

Die junge Frau versuchte zu lächeln, doch ihre Lippen verzerrten sich nur. Wie eine lodernde Flamme schlugen die Schmerzen über ihr zusammen. Sie presste Denises Hand, dann schrie sie.

»Ruhig, atmen Sie tief durch.« Während Stefan Frey die Beine der Gebärenden festhielt, holte Anja Frey das Kind. Gleich darauf ertönte der erste Schrei. Zuerst klang er kläglich, aber dann ging er rasch in ein Brüllen über.

Die junge Frau öffnete die Augen. »Ist alles in Ordnung?«

»Es ist ein Mädchen«, sagte der Doktor.

»Ein strammes kleines Mädchen. Es scheint kerngesund zu sein.« Anja Frey hob das Baby, das sie inzwischen fachgerecht gereinigt hatte, hoch.

Lächelnd ließ sich die junge Frau zurücksinken. »Darf ich es sehen?«

»Gleich!« Der Doktor nahm sich des Neugeborenen an und untersuchte es noch genau. Befriedigt schlug er den kleinen Körper dann in ein weißes Linnen ein und reichte ihn der jungen Mutter.

Denise stand am Fuße des Bettes und konnte ihren Blick nicht von dem Gesicht der jungen Frau lassen. Wie glücklich diese jetzt aussah. Hier war ein Wunder geschehen. Die Mutterliebe hatte gesiegt.

Die Finger der jungen Mutter, die noch wie ein Mädchen aussah, glitten vorsichtig über die kleinen Händchen ihres Kindes. Mit unsagbarer Zärtlichkeit strich sie über den Flaum des Köpfchens. »Es soll Jenny heißen«, sagte sie mit einem Schluchzen in der Stimme. »Jenny hat auch ihm gefallen.«

»Das ist ein schöner Name«, bestätigte Dr. Anja Frey. »Ich werde einen Wäschekorb holen. Der muss die Wiege ersetzen. Dort hinein werden wir Ihre Jenny legen, denn Sie müssen jetzt ein wenig schlafen.«

»Schlafen …« Die junge Frau sah verständnislos um sich. »Hier schlafen?«

»Sie müssen. Sie wollen doch für Ihr Kind sorgen, wollen es ernähren, oder?«

»Natürlich.« Heftig nickte das Mädchen, dann verschleierte sich sein Blick. »Ich kann doch nicht hierbleiben. Sie fragen nichts, haben einfach geholfen. Ich weiß nicht, was aus mir und meiner Jenny geworden wäre, wenn mich die Frau nicht hierhergebracht hätte.«

»Ich bin Denise von Schoenecker.« Die Herrin von Sophienlust und Schoeneich näherte sich wieder dem Bett. »Sie können stolz sein, Sie haben einem entzückenden Mädchen das Leben geschenkt.«

»Das habe ich Ihnen zu verdanken.« In den Augen der jungen Mutter brannten Tränen der Scham und des Glücks. »Bevor mich die Kinder entdeckten, wollte ich mein Kind nicht. Ich hasste es direkt. Ich fühlte mich so allein, so verlassen und betrogen. Nun denke ich anders. Ich bin nicht mehr allein und werde, was immer auch geschehen mag, zu meinem Kind stehen.«

»Das ist ein Wort.« Denise war zufrieden. Die Gefahr war gebannt. Diese junge Frau würde keinen Unsinn mehr machen.