Acro, der Freund aller Kinder - Elisabeth Swoboda - E-Book

Acro, der Freund aller Kinder E-Book

Elisabeth Swoboda

3,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Was Sie da von mir verlangen, Frau Kukla, geht mir zutiefst gegen den Strich«, erklärte Dr. Hans-Joachim von Lehn mit finsterer Miene. Normalerweise kennzeichnete den Tierarzt ein heiteres und entgegenkommendes Wesen, doch im Moment machte er aus seiner Verstimmung keinen Hehl. »Aber Frau Pelikan hat es doch so bestimmt«, rechtfertigte sich die einfach wirkende, zirka fünfzigjährige Frau etwas weinerlich. »Sie hat mir zu diesem Zweck sogar Geld ausgehändigt. Sie hat gewusst, dass es schlecht um sie steht und dass sie wahrscheinlich sterben wird.« »Um den Hund steht es aber nicht schlecht. Der ist kerngesund«, brummte der Tierarzt und kraulte den rotbraun gelockten irischen Setter zwischen den Ohren. Frau Kukla zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Ich handle bloß in Frau Pelikans Auftrag«, sagte sie. »Die alte Dame hat verlangt, dass Arco nach ihrem Tod eingeschläfert wird. Gestern ist sie im Maibacher Krankenhaus gestorben, und nun bin ich mit dem Hund da. Wenn Sie es nicht machen wollen, muss ich mich eben an einen Kollegen wenden.« »Tut Ihnen das arme Tier denn nicht leid?«, fragte Hans-Joachim empört. »Natürlich tut mir der Hund leid«

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Sophienlust – 282–

Acro, der Freund aller Kinder

Wer gibt dem Wirbelwind ein neues Zuhause?

Elisabeth Swoboda

»Was Sie da von mir verlangen, Frau Kukla, geht mir zutiefst gegen den Strich«, erklärte Dr. Hans-Joachim von Lehn mit finsterer Miene. Normalerweise kennzeichnete den Tierarzt ein heiteres und entgegenkommendes Wesen, doch im Moment machte er aus seiner Verstimmung keinen Hehl.

»Aber Frau Pelikan hat es doch so bestimmt«, rechtfertigte sich die einfach wirkende, zirka fünfzigjährige Frau etwas weinerlich. »Sie hat mir zu diesem Zweck sogar Geld ausgehändigt. Sie hat gewusst, dass es schlecht um sie steht und dass sie wahrscheinlich sterben wird.«

»Um den Hund steht es aber nicht schlecht. Der ist kerngesund«, brummte der Tierarzt und kraulte den rotbraun gelockten irischen Setter zwischen den Ohren.

Frau Kukla zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Ich handle bloß in Frau Pelikans Auftrag«, sagte sie. »Die alte Dame hat verlangt, dass Arco nach ihrem Tod eingeschläfert wird. Gestern ist sie im Maibacher Krankenhaus gestorben, und nun bin ich mit dem Hund da. Wenn Sie es nicht machen wollen, muss ich mich eben an einen Kollegen wenden.«

»Tut Ihnen das arme Tier denn nicht leid?«, fragte Hans-Joachim empört.

»Natürlich tut mir der Hund leid«, gab Frau Kukla zurück, »aber was soll ich machen? Ich selbst kann mir keinen Hund leisten, noch dazu einen so großen. Solange Aussicht auf Frau Pelikans Genesung bestand, habe ich mich um Arco gekümmert, aber behalten kann ich den Hund nicht. Die Fleischportionen, die er jeden Tag verschlingt! Und meine Zimmer-Küche-Wohnung ist viel zu klein für ihn. Er würde sich dort nicht wohlfühlen. Außerdem wäre er oft allein. Oder glauben Sie, dass meine diversen Arbeitgeber einverstanden wären, wenn ich mit so einem Riesenvieh zur Arbeit erscheinen würde?«

Frau Kuklas Ausdrucksweise war drastisch, doch Hans-Joachim musste ihr im Stillen recht geben. Er wusste, dass sie allein lebte und stundenweise als Putzfrau in verschiedenen Haushalten arbeitet, um die kinderreiche Familie ihres Sohnes ein wenig unterstützen zu können. Nein, von Frau Kukla konnte man nicht verlangen, dass sie für den Hund ihrer verstorbenen Dienstgeberin sorgte. Umgekehrt jedoch war Frau Pelikan wohlhabend gewesen. Sie hatte eine hübsche Villa in Wildmoos besessen und über ein reichliches Einkommen verfügt.

»Was ist mit den Erben?«, fragte der Tierarzt. »Derjenige, der die Villa erbt, könnte doch auch den Hund behalten. Das wäre nur recht und billig. Ich verstehe nicht, warum Frau Pelikan diese Dinge nicht testamentarisch geregelt hat.«

»Die Arme hat zwar gespürt, dass sie todkrank war, aber ich glaube, sie wollte es nicht wahrhaben. Und außerdem war Arco eben ihr besonderer Liebling.«

»Sie meinen, sie hatte ihn so gern, dass sie sich auch im Tod nicht von ihm trennen wollte«, äußerte Hans-Joachim sarkastisch. »Eine solche Bestimmung finde ich unerhört grausam und weigere mich, dementsprechend zu handeln.«

In diesem Augenblick ließ Arco ein Bellen hören, das wie eine Zustimmung klang. Obgleich Hans-Joachim bezweifelte, dass das Tier fühlte, was ihm drohte, bestärkte ihn dieses Bellen in seinem Entschluss. »Ruhig, Arco, dir geschieht nichts«, beschwichtigte er den Hund. »Einstweilen bleibst du bei mir.«

»Sie wollen ihn behalten?«, erkundigte sich Frau Kukla überrascht.

»Ja. Was bleibt mir denn anderes übrig? Mein Beruf ist es, kranke Tiere zu heilen, nicht jedoch, gesunde zu töten. Arco ist ein völlig gesundes Tier. Ich kenne ihn von klein auf, seit ich ihm die ersten Impfungen verabreichte. Ich weiß, dass sein Frauchen vernarrt in ihn war, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass … Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Einstweilen kommt Arco in unser Tierheim. Später werden wir weitersehen.«

Frau Kukla erhob sich zögernd aus dem Stuhl, der Hans-Joachims Schreibtisch gegenüberstand. Einerseits war sie erleichtert, denn auch ihr hatte der letzte Auftrag von Frau Pelikan nicht gefallen, andererseits glaubte sie jedoch, den Tierarzt warnen zu müssen. »Auf Frau Pelikans Erben würde ich mich an Ihrer Stelle nicht verlassen«, sagte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Herr Ingenieur in Wildmoos sesshaft wird und sich einen Hund zulegt. Wahrscheinlich wird er die Villa mit allem Drum und Dran verkaufen und weiterhin durch die Welt gondeln.«

»Sie kennen Frau Pelikans Erben?«, warf der Tierarzt ein.

»Ja. Es handelt sich um Frau Pelikans Großneffen, Herrn Dipl.-Ing. Resak. Er war ihr einziger Verwandter. Natürlich kenne ich ihn nur flüchtig. Genaugenommen habe ich ihn nur ein einziges Mal gesehen, als er seine Tante besuchte. Sonst lebt er nämlich im Ausland – in den wildesten Gegenden. Er baut dort Brücken, Straßen und Flugplätze. Ich bin gespannt, ob er wenigstens zum Begräbnis seiner Tante kommen wird. Sie könnten ihn dann ja wegen Arco fragen. Vielleicht nimmt er ihn doch. Hm – ich kann mich nicht länger aufhalten. Frau Berger hat mich für zehn Uhr bestellt. Na ja, jedenfalls bin ich froh, dass der Hund am Leben bleiben darf«, verabschiedete sich Frau Kukla etwas umständlich.

Hans-Joachim blieb mit seinem neuen Schützling allein zurück. Arco hatte sich angeschickt, seiner bisherigen Betreuerin zu folgen, aber auf einen Zuruf des Tierarztes hin war er stehen geblieben, verbellte nun die sich schließende Tür und trottete dann zum Medikamentenschrank, vor dem er sich behaglich niederließ. Er legte den Kopf auf die Vorderpfoten und musterte seinen Lebensretter mit nachdenklichen Blicken aus seinen klugen braunen Hundeaugen.

Hans-Joachim sah ins Wartezimmer, das leer war. Er konnte also seine morgendliche Praxisstunde für diesen Tag als beendet betrachten. »Komm, Arco«, forderte er den Setter auf, »wir wollen sehen, was Andrea treibt.«

Andrea von Lehn, seine junge Frau, hatte dem Tierarzt noch vor einer halben Stunde bei der Behandlung eines Kätzchens assistiert, dann jedoch war sie von dem Hausmädchen zu ihrem kleinen Sohn gerufen worden und seither nicht wieder aufgetaucht.

Der Tierarzt durchquerte die Diele. Arco kam zwar mit, aber nur zögernd. Für seine empfindliche Hundenase gab es in diesem Haus so viele interessante Gerüche, die unbedingt erkundet werden mussten. Plötzlich hob er den Kopf und spitzte die Ohren. Vom Hof her erklang ein wütendes Kläffen, dann eine energische Männerstimme, die das Kläffen zum Verstummen brachte.

»Das waren Waldi und Janosch«, erklärte Hans-Joachim. »Du wirst die beiden bald kennenlernen. Hoffentlich verträgst du dich mit Waldi. Zuvor aber muss ich dich Andrea vorführen.«

Der Tierarzt brauchte nicht lange nach seiner Frau zu suchen. Sie hielt sich in der Küche auf, umgeben von einem Chaos. Kochtöpfe in den verschiedensten Größen standen auf dem Boden, zwei Bratpfannen, ein Satz Plastikschüsseln und eine Kuchenform vervollständigten die Auswahl an Haushaltsgeräten. Dazwischen verstreut waren Kartoffeln, Zwiebeln und dunkle Knollen, die Hans-Joachim erst bei näherem Hinsehen als rote Rüben identifizierte. Das Schlimmste aber waren die Glasscherben, die über­all herumlagen, und die undefinierbare Flüssigkeit, die das Ganze umspülte.

»Hans-Joachim, pass auf, wohin du steigst!«, rief Andrea, seine hübsche, noch sehr junge Frau mit dunklen Haaren und strahlenden blauen Augen. »Nein, bleib lieber draußen«, setzte sie hinzu.

»Und du, Peter, bleib gefälligst auf deinem Stuhl sitzen!«, befahl sie ihrem kleinen Sohn im gleichen Atemzug.

»Papi! Weh-tan!«, verkündete Peterle voll Stolz und streckte seinem Vater einen dick verbundenen Daumen entgegen.

Hans-Joachim war in der Tür stehen geblieben und hatte Arco beim Halsband gefasst, um den Hund zurückzuhalten, denn Arco war sichtlich gewillt, sich freudig in das Getümmel zu stürzen.

»Einen Augenblick noch, wir sind gleich fertig«, sagte Andrea und half der dritten in der Küche anwesenden Person, dem Hausmädchen Marianne, die Scherben aufzuklauben und in den Mülleimer zu befördern.

»Nach dem Urheber dieser – hm – dieser Unordnung brauchte ich wohl nicht zu fragen«, meinte Hans-Joachim. »Könnt ihr dem Jungen denn nicht abgewöhnen, alle Schränke auszuräumen? Still, Arco! Sitz!« Der Hund befolgte diesen Befehl nur widerstrebend. Er hätte gar zu gern an den Vorgängen in der Küche teilgenommen.

Andrea fand es überflüssig, die Frage ihres Mannes zu beantworten. Er musste doch wissen, dass man dem gesunden Wissensdurst eines Kleinkindes keine Schranken setzen durfte. Peter liebte es eben, die Küchenschränke zu durchstöbern. Es war ein harmloses Vergnügen, denn das Hausmädchen hatte längst alles zerbrechliche Geschirr in höhere und für Peterle unerreichbare Regale umgeräumt. Dass er an diesem Tag eine volle Limonadenflasche erwischt und vom Tisch gezerrt hatte, war besonderes Pech. Zum Glück hatte er keine ärgere Verletzung davongetragen. Andrea hatte ihn verarztet und dann gemeinsam mit Marianne mit den Aufräumungsarbeiten begonnen.

»Eigentlich wollte ich dir einen neuen Bewohner unseres Tierheims vorstellen«, sagte Hans-Joachim, »aber ich glaube, das verschiebe ich lieber. Komm, Arco, wir sind hier unerwünscht.« Er wandte sich zum Gehen.

Doch da rutschte Peter von seinem Stuhl und schrie begeistert: »Wau-Wau – großer Hund!« Schon tappte er auf seinen Vater zu, ohne Rücksicht auf die Gegenstände, die ihm im Weg waren.

»O nein! Jetzt hast du die Töpfe umgeworfen, die wir bereits abgewischt hatten, Peter«, seufzte Andrea. »Auf diese Art schaffen wir nie wieder Ordnung.«

»Überlassen Sie alles Weitere mir, Frau von Lehn«, schlug Marianne vor. »Ich komme ganz gut allein zurecht.«

»Ja, Sie haben recht«, gab Andrea mit einem kurzen Auflachen zu. »Vermutlich ist es am klügsten, wenn ich Peterle aus dem Weg schaffe und ihn für die nächste Stunde von der Küche fernhalte.«

Peter, ein stämmiger kleiner Bursche mit blonden leicht gelockten Haaren und wissbegierigen braunen Augen, kümmerte sich nicht mehr um die Vorgänge in der Küche. Sein Interesse galt jetzt dem Neuzuwachs. Ohne Scheu kauerte er sich neben den noch immer gehorsam vor der Küchentür sitzenden Setter, betrachtete ihn eingehend und streckte schließlich die Hand aus, um ihn zu streicheln. Arco seinerseits beschnupperte neugierig den kleinen Wicht.

Auch Andrea hatte inzwischen die Küche verlassen und die Tür hinter sich zugezogen. »Ein neuer Bewohner unseres Tierheims?«, wiederholte sie fragend. »Das ist ein prächtiges Tier. Woher hast du den Hund? Der einzige Setter, von dem ich weiß, gehört einer alten Dame in Wildmoos.«

»Das ist er. Ich meine, das ist Frau Pelikans Arco. Sein Frauchen ist ges­tern gestorben. Vor ihrem Tod hat sie bestimmt, dass das Tier eingeschläfert werden soll.«

»Was?«, rief Andrea so laut, dass Peterle erschrocken zusammenzuckte und Arco knurrte. »Dieser schöne Hund soll eingeschläfert werden? Er ist doch nicht krank oder alt, nicht wahr?«

»Nein, er ist kerngesund und erst zwei Jahre alt«, entgegnete Hans-Joachim.

»Und trotzdem willst du …, willst du …«

»Nein, selbstverständlich nicht«, beruhigte der Tierarzt seine aufgebrachte Frau. »Hätte ich sonst von einem neuen Bewohner unseres Tierheims gesprochen? Arco bleibt bis auf Weiteres bei uns. Vielleicht nimmt ihn dann Frau Pelikans Erbe auf. Frau Kukla, die den Hund während der Krankheit der alten Dame betreut und ihn heute in die Praxis gebracht hat, ließ mir in dieser Hinsicht allerdings nicht viel Hoffnung. Es ist also möglich, dass Arco ein Dauergast von Waldi und Co. wird. Bist du einverstanden?«

»Das fragst du noch? Und ob ich einverstanden bin!«

*

So kam Arco ins Tierheim Waldi und Co. Auch dem Tierpfleger Janosch gefiel der Setter. Er mutmaßte, dass das prächtige Tier nicht lange im Tierheim bleiben, sondern sich bald ein Interessent finden würde. Doch Hans-Joachim und Andrea wollten erst die Ankunft von Frau Pelikans Erben abwarten, bevor sie sich nach einem Platz für Arco umsehen wollten. Sie waren der Ansicht, dass es Arco ja einstweilen im Tierheim gut hatte.

Leider zeigte sich jedoch bald, dass sich der Hund in seiner neuen Umgebung nicht wohlfühlte. Die Boxen, in denen die Insassen des Tierheims untergebracht waren, waren geräumig, aber Arco, der bisher einen weitläufigen Garten zur Verfügung gehabt hatte, kam sich darin sichtlich eingesperrt vor. Am ersten Tag ertrug er geduldig sein Los, doch am zweiten weigerte er sich zu fressen. Er lag apathisch in seiner Box und schien mit sich und der Welt zerfallen zu sein.

Janosch zögerte nicht, Arcos Zustand Andrea von Lehn vor Augen zu führen. »Sehen Sie selbst. Der Hund ist nicht fröhlich, sondern traurig«, erklärte er. »Er will nicht fressen.«

»Wahrscheinlich hat er Sehnsucht nach seinem Frauchen und wundert sich, dass es sich nicht mehr um ihn kümmert«, meinte Andrea. »Wir sollten ihm sein Los erleichtern, indem wir ihm wenigstens einen freien Auslauf gewähren.«

Andrea führte ihr Vorhaben sofort aus. Sie lockte Arco aus seiner Box, was aber gar nicht so leicht war. Offensichtlich war der Setter gekränkt. Erst als Waldi – ein Rauhhaardackel, der der Chef und Namensgeber des Tierheims war – ihn vom Mittelgang aus herausfordernd anbellte, verließ er die Box.

Waldi, der aus Eifersucht manchmal dazu neigte, Neulinge im Tierheim mit Missachtung zu strafen, zeigte sich diesmal von seiner besten Seite. Sein Bellen war eine eindeutige Aufforderung für Arco, mit ihm ins Freigehege hinter dem Tierheim zu laufen.

Als Andrea merkte, welches Ziel Waldi hatte, folgte sie den beiden Hunden. Das Freigehege war eingezäunt, aber Waldi hatte eine Stelle entdeckt, die es ihm erlaubte, sich unter dem Zaun durchzuzwängen. An­drea wusste davon, doch da sich der Rauhaardackel und Bambi, das zahme Reh, das das Freigehege bewohnte, ausgezeichnet vertrugen, hatte sie gegen Waldis gelegentliche Streifzüge nichts einzuwenden. Bei Arco war das etwas anderes. Obwohl Andrea bezweifelte, dass der bedeutend größere Setter unter dem Zaun durchschlüpfen konnte, wollte sie Bambi keiner Gefahr aussetzen. »Du darfst Bambi nichts tun, hörst du?«, schärfte sie ihm ein, fasste ihn aber zur Sicherheit doch am Halsband.

Bambi kam zutraulich herbeigesprungen, aber als Arco ein drohendes Knurren hören ließ, ergriff das Reh erschrocken die Flucht.

»Du hast Bambi erschreckt, Arco!«, schalt Andrea, obwohl sie wusste, dass sie gegen die Jagdinstinkte des Setters mit Ermahnungen nichts ausrichten konnte. Waldi und Bambi waren aneinander gewöhnt. Arco hingegen lebte erst seit einem Tag im Tierheim. Er konnte nicht wissen, dass das zahme Reh sozusagen tabu war.

Andrea pfiff Waldi, der mittlerweile in das Freigehege eingedrungen war, zurück. Doch statt zu gehorchen, begann Waldi aufgeregt zu kläffen.

»Was hast du nur? Was willst du mir sagen?«, fragte Andrea.

Die Antwort klang eindringlich, war für Andrea jedoch unverständlich. Wegen Bambi und Arco konnte sie nichts anderes tun, als sich über den Zaun beugen, um die Ursache von Waldis Aufregung zu ergründen.

Waldi lauerte vor einem Erdloch, das sein Misstrauen erregt hatte, hielt aber zu Andreas Verwunderung einen gewissen Respektabstand ein. Andrea dachte an einen Maulwurf oder eine Wühlmaus, aber vor solchen Tieren hatte Waldi bisher keinerlei Scheu gezeigt.

»Irgendetwas stimmt da nicht. Komm jetzt, Waldi. Wir werden der Sache später auf den Grund gehen. Zuvor bringe ich dich und Arco in den Garten. Dort könnt ihr gemeinsam mit Munko und Severin auf Peterle aufpassen.«

Endlich gehorchte Waldi. Auf dem Weg zum Garten gab er Laute von sich, die zwischen einem warnenden Jaulen und einem ärgerlichen Brummen lagen. »Ach, Waldi, es ist ein Jammer, dass ich dich nicht verstehen kann«, sagte Andrea. »Aber du kannst dich beruhigen. Ich habe wenigstens begriffen, dass ich mich um das Erdloch im Freigehege kümmern muss.«

Andreas Söhnchen lag auf einem Liegebett im Schatten des großen Nussbaums und hielt sein Mittagsschläfchen. »Pst, Arco, wir dürfen ihn nicht aufwecken«, flüsterte die junge Frau. Sie kniete neben dem Liegebett nieder und strich dem kleinen Buben zärtlich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. Peterle ließ sich durch diese mütterliche Geste nicht stören. Er schlief ruhig weiter.

Auch die Dogge Severin und der Schäferhund Munko lagen unter dem Nussbaum. Sie schienen ebenfalls in einem Schlummer versunken zu sein.

Andrea überlegte, ob sie es riskieren konnte, die vier Hunde und Peterle allein zu lassen. Sie entschied sich dagegen. Man konnte nicht wissen, was Arco einfiel. Deshalb entschloss Andrea sich, eine Weile im Garten zu bleiben.

Schon eine halbe Stunde später war Andrea über diesen Entschluss sehr froh. Solange Peter schlief, blieb die Szene friedlich, aber als er erwachte, änderte sich die Lage blitzartig. Arco, der den Buben auf Anhieb in sein Herz geschlossen hatte, bekundete seine Zuneigung dadurch, dass er versuchte, Peterle das Gesicht abzulecken. Peter hatte dagegen nichts einzuwenden, aber seine Mutter war davon weniger begeistert, und in Munko und Severin weckte dieser Liebesbeweis Eifersucht.

Als Peter zur Welt gekommen war, hatte Severin sich zum Bewacher und Beschützer des Kleinen ernannt. Später hatte Severin sich in seiner Gutmütigkeit damit abgefunden, dass er dieses Amt mit Munko, einem ehemaligen Polizeihund, teilen muss­te. Aber einen dritten, der noch dazu erst vor einem Tag hier eingezogen war, mochte er nicht dulden. Er zeigte sein Miss­fallen dadurch, dass er Arco einen indignierten Blick zuwarf, dann der Szene den Rücken kehrte und mit hocherhobenem Haupt davonstolzierte.

Munko legte ein weniger aristokratisches Verhalten an den Tag.

»O nein!«, rief Andrea, der die Anzeichen eines nahenden Kampfes nicht entgangen waren. »Arco! Fuß! Arco! Ich will hier keine Rauferei. Munko, schäme dich! Arco hat dir nichts getan. Er hat Peter eben lieb. Siehst du das nicht ein?«

Nein, Munko sah es nicht ein. Seine Haltung verlor ein wenig an Kampfbereitschaft, aber zum Friedensschluss zeigte er sich nicht bereit.

Peter rollte sich auf den Bauch, glitt vorsichtig von seinem Lager und lief hinter dem beleidigten Munko her.

Arco schickte sich an, dem Buben zu folgen, was Munko erneut in Wut versetzte.

»Nein, so geht das nicht«, seufzte Andrea. »So leid es mir tut, Arco, du musst zurück ins Tierheim. Ich habe keine Zeit, stundenlang den Aufpasser zu spielen, um einen Kampf zwischen dir und Munko zu verhindern.« Sie befestigte die Leine an Arcos Halsband und zerrte den Setter zurück zum Tierheim.

Waldi, der die Vorgänge aufmerksam, jedoch ohne Partei zu ergreifen, verfolgt hatte, lief, ohne dazu aufgefordert zu werden, hinter Arco und Andrea her.

»Es ist ein Jammer mit Arco«, teilte Andrea etwas atemlos dem Tierpfleger mit. »Er ist sehr kinderlieb, aber gerade dadurch hat er sich Munkos und Severins Feindschaft zugezogen. Im Haus und im Garten kann er deshalb nicht sein, und im Freigehege macht er Jagd auf Bambi. So bleibt nur der Hof für ihn, aber dort wird er sich wahrscheinlich langweilen. Er bräuchte eine Familie mit Kindern. Für die wäre er der ideale Spielgefährte.«