Sophienlust 293 – Familienroman - Marisa Frank - E-Book

Sophienlust 293 – Familienroman E-Book

Marisa Frank

5,0

Beschreibung

Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren: Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Henrik von Schoenecker, ein Junge von neun Jahren, ließ den Kopf hängen. Seine Zähne bohrten sich in die Unterlippe. Er wollte doch nicht weinen. Er hätte seine Eltern aber so gern nach Baden-Baden begleitet. "Kopf hoch, alter Junge." Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick, schlug seinem um sieben Jahre jüngeren Halbbruder kräftig auf die Schulter. "Auch ich wäre gern mit von der Partie gewesen, aber ich finde, daß wir Mutti und Vati zwei ruhige Tage gönnen sollten." Henrik, der seinen großen Bruder um dessen Freiheit beneidete, warf Nick einen wütenden Blick zu. "Ich hätte diese ruhigen Tage nicht gestört. Ich bin doch kein Baby mehr." "Natürlich", stimmte Nick ihm sofort friedfertig zu. "Aber wann sind Vati und Mutti zum letzten Mal allein weggefahren?" Henrik war noch nicht beruhigt. Im Gegenteil. Er stemmte die Hände in die Seiten und funkelte seinen Bruder an. "Willst du damit sagen, daß ich störe?" Nick unterdrückte einen Seufzer. Er fand, der Kleine war wirklich schwierig. Er wollte einfach nicht verstehen.

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Sophienlust – 293 –

Plötzlich war Holger allein

Werden sich seine Eltern wieder versöhnen?

Marisa Frank

Henrik von Schoenecker, ein Junge von neun Jahren, ließ den Kopf hängen. Seine Zähne bohrten sich in die Unterlippe. Er wollte doch nicht weinen. Er hätte seine Eltern aber so gern nach Baden-Baden begleitet.

»Kopf hoch, alter Junge.« Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick, schlug seinem um sieben Jahre jüngeren Halbbruder kräftig auf die Schulter. »Auch ich wäre gern mit von der Partie gewesen, aber ich finde, daß wir Mutti und Vati zwei ruhige Tage gönnen sollten.«

Henrik, der seinen großen Bruder um dessen Freiheit beneidete, warf Nick einen wütenden Blick zu. »Ich hätte diese ruhigen Tage nicht gestört. Ich bin doch kein Baby mehr.«

»Natürlich«, stimmte Nick ihm sofort friedfertig zu. »Aber wann sind Vati und Mutti zum letzten Mal allein weggefahren?«

Henrik war noch nicht beruhigt. Im Gegenteil. Er stemmte die Hände in die Seiten und funkelte seinen Bruder an. »Willst du damit sagen, daß ich störe?«

Nick unterdrückte einen Seufzer. Er fand, der Kleine war wirklich schwierig. Er wollte einfach nicht verstehen.

Vorsichtig begann Nick zu erklären: »Stören würdest du nicht direkt. Vati und Mutti sind an dich ja gewöhnt. Aber schließlich hat man ja oft das Bedürfnis, allein zu sein…«

Nick wurde von Henrik unterbrochen. »So wie du mit Pünktchen«, rief der Junge und stellte triumphierend fest, daß sein Bruder errötete.

»Quatsch! Doch noch ein Baby«, konterte Nick. »Mit dir kann man einfach nicht vernünftig reden.« Er drehte sich um und wollte den Raum verlassen.

Henrik kam ihm nach. »Ich weiß schon, was du meinst«, sagte er und packte seinen Bruder am Arm. »Vati und Mutti haben so selten Zeit füreinander, und diese zwei Tage sollten nur Ihnen allein gehören.«

»Richtig, mein Junge. Das hast du ganz famos formuliert«, lobte Nick nun. Er liebte den Kleinen sehr, und im Grunde waren die beiden auch ein Herz und eine Seele.

»Siehst du, doch kein Baby mehr«, trumpfte Henrik auf. Dann wurde er ernst. »Mutti wollte zuerst gar nicht fahren. In Sophienlust ist ja eine Menge los.«

Nick nickte zustimmend. »Mutti ist wirklich prima. Weißt du eigentlich, daß sie der kleinen Elke neue Eltern verschafft hat? Unzählige Telefongespräche hat sie diesbezüglich geführt.«

»Mutti ist die Seele und der gute Geist von Sophienlust«, sagte nun auch Henrik mit Überzeugung. »Aber es ist ja dein Heim. Bald kannst du Mutti ablösen.«

Nachdenklich fuhr Nick sich durch sein dunkles Haar. Noch ging er in Maibach ins Gymnasium, aber Sophienlust, ein Kinderheim, war sein Erbe. Er hielt sich auch schon viel dort auf. Zum Glück lag das Kinderheim nicht weit entfernt von Schoeneich, dem Stammsitz der Familie von Schoenecker. Eine Straße, die durch den Wald führte, verband die beiden Besitztümer. Schoen­eich war ein Gut, Sophienlust hingegen ein altes Herrenhaus, in dem nun elternlose oder Geborgenheit suchende Kinder lebten.

»Ich fahre nach Sophienlust«, sagte Nick. »Mutti vergißt sonst noch, daß sie heute früher nach Hause kommen wollte. Die Eltern wollen morgen ja zeitig aufbrechen.«

»Ich werde trotzdem schon auf sein«, sagte Henrik mit Überzeugung. Dann wurde seine Miene aber nachdenklich. »Wenn ich Mutti nur noch irgendwie überreden könnte…«

Nick verzog die Mundwinkel. »Vergiß nicht, du hast Schule.«

»Ach, die zwei Tage.« Henrik winkte großzügig ab. »Ich habe erst kürzlich eine Eins in Mathe geschrieben.«

»Wenn mich nicht alles täuscht, dann liegt das schon eine ganze Weile zurück«, erwiderte Nick ungerührt. »Falls du deine Aufgaben gemacht hast, kannst du mich nach Sophienlust begleiten.«

Als Antwort schnitt Henrik eine Grimasse und raste an seinem großen Bruder vorbei. Er lief durch die Halle in den großen Park hinaus und zu den Fahrrädern. Er schnappte sich sein Rad und trat gleich darauf kräftig in die Pedale.

Nick folgte ihm. Er schwang sich ebenfalls auf den Sattel seines Fahrrades.

»Wir holen nur Mutti«, rief er der Köchin zu, als er merkte, daß diese aus einem Fenster sah.

»Es ist gut«, sagte Martha, deren Reich die Küche von Gut Schoeneich war, während ihre Schwester Magda in Sophienlust als Köchin tätig war. »Das Essen wird pünktlich fertig sein.«

»Ich werde es bestellen.«

Nick hob die Hand, dann fuhr er seinem Bruder nach. Er mußte sich anstrengen, aber schließlich holte er ihn doch ein.

Henrik strampelte mächtig, aber es gelang ihm nicht, Nick abzuhängen. Schließlich gab er auf. Er fuhr langsamer und knurrte dabei: »Ich habe es nicht eilig.«

»Aber ich.« Nick verlangsamte sein Tempo nicht.

Das ärgerte Henrik. Er rief hinter Nick her: »Ich weiß, warum du es so eilig hast. Du kannst es nicht erwarten, zu Pünktchen zu kommen.«

Nick hielt sofort, und Henrik bekam es mit der Angst zu tun.

»Ich wollte dich nicht ärgern«, sagte er rasch, um dann mit trotziger Miene hinzuzufügen: »Aber es stimmt doch, Pünktchen ist deine Freundin, oder?«

Nick zuckte die Achseln, gab sich gelassen. Er wußte, daß ihn die Kinder mit Pünktchen, einem Mädchen, das schon sehr lange in Sophienlust lebte, aufzogen. Er mochte Pünktchen sehr. Die Dreizehnjährige wurde wegen ihrer unzähligen Sommersprossen so genannt.

»Da kannst du erst mitreden, wenn du älter bist«, sagte Nick und traf damit den wehen Punkt bei Henrik. Der Neunjährige beneidete Nick brennend um die Jahre, die dieser älter war. Er war der Ansicht, alle sahen in ihm nur den Kleinen.

»Na warte, bis ich älter bin«, knurrte Henrik und schenkte Nick keinen Blick mehr. Er war als erster an der Freitreppe, die zu dem Portal emporführte, durch das man in die Halle des Kinderheims kam.

»Hallo! Nick und Henrik!« Heidi, das jüngste Dauerkind von Sophienlust, kam übermütig über die Treppe herabgesprungen. Heidi war fünf Jahre alt und bei allen sehr beliebt.

Vor Henrik blieb die Kleine stehen und sah ihm ins Gesicht. »Wie siehst du denn aus?« Sie überlegte, dann sagte sie: »Du bist sauer.«

»Hoheitsvoll reckte sich Henrik. »Ich bin nicht sauer, sondern schlecht gelaunt. Und das ist kein Wunder.« Ein scheeler Blick traf Nick. »Vom Bruder wird man geärgert, von seinen Eltern im Stich gelassen.«

»Im Stich gelassen«, echote Heidi. Sie wandte sich an Nick. »Was heißt das?«

»Henrik ärgert sich. Er wäre gern mit Mutti und Vati mitgefahren«, erklärte Nick.

»Ja, Tante Isi fährt fort«, bestätigte Heidi eifrigst und meinte damit Denise von Schoenecker, die von allen Kindern in Sophienlust liebevoll Tante Isi genannt wurde. »Zum Abschied geht sie mit mir nochmals auf den Spielplatz. Sie hat versprochen, mich zu schaukeln, ganz hoch.«

»Dann muß sie sich aber beeilen«, knurrte Henrik. »Wir sind nämlich hier, um sie abzuholen.«

»Da seid ihr zu früh gekommen. Tante Isi hat noch eine ganze Menge zu tun«, erklärte Heidi.

»Typisch Mutti«, meinte Nick. »Sie fährt nur zwei Tage weg, und vorher muß noch alles erledigt sein.«

»Mutti läßt eben nichts liegen«, sagte Henrik patzig. »Du könntest dir daran ein Beispiel nehmen. In deinem Zimmer…«

Erbost unterbrach Nick ihn: »Mein Zimmer geht dich überhaupt nichts an.« Selten war er über einen Ausspruch von Henrik so ärgerlich. Aber jetzt war er dem Jüngeren ins Wort gefallen, weil Pünktchen eben mit einigen Kindern aus dem Park kam. Pünktchen mußte nicht wissen, daß Ordnung nicht gerade seine starke Seite war. Wenn sie zu Besuch in Schoen­eich weilte, dann sorgte er schon dafür, daß es in seinem Zimmer ordentlich aussah.

Henrik drehte sich um. Er sah Pünktchen und verstand. »Ich sehe nach Mutti. Ich werde ihr sagen, daß sie Schwester Regine und Tante Ma auch noch Arbeit übriglassen soll.« Damit eilte er die Treppe empor.

Er kann ein ganz passabler, lieber Bursche sein, dachte Nick zufrieden und begrüßte Pünktchen, deren blaue Augen ihn anstrahlten. Pünktchen träumte heimlich davon, einmal Nicks Frau zu werden.

Henrik schlenderte unterdessen in die Halle. Dort stieß er auf Schwester Regine, die vor dem offenen Kamin saß und Wäsche aussortierte.

Henrik begrüßte sie freundlich. Genau wie alle anderen Kinder mochte er die Kinder- und Krankenschwester, Regine Nielsen, sehr. Diese junge Frau hatte bereits schwere Schicksalsschläge hinter sich Sie hatte ihren Mann und ihr zweijähriges Töchterchen verloren und ging nun ganz in der Fürsorge der Schützlinge von Sophienlust auf.

Henrik bekam beim Anblick der Kinderschwester ein schlechtes Gewissen. Wie konnte er seiner Mutti nur sagen, daß sie die Arbeit Schwester Regine oder Tante Ma überlassen sollte? Die beiden wetteiferten in der Fürsorge um die Kinder. Nicht zuletzt auch ihnen war es zu verdanken, daß das Kinderheim das ›Heim der glücklichen Kinder‹ genannt wurde.

»Wir wollten Mutti abholen«, sagte Henrik daher etwas verlegen und trat von einem Fuß auf den anderen. »Sie fährt ja morgen mit Vati nach Baden-Baden.« Diese Vorstellung ließ ihn unwillkürlich seufzen.

Schwester Regine sah kurz von ihrer Arbeit auf.

»Du möchtest wohl mitfahren?« fragte sie.

Jetzt kam Henrik in Fahrt. »Siehst du, du verstehst das. Aber glaubst du, in unserer Familie will das jemand verstehen? Da heißt es: die Schule, ich bin noch zu klein, ich wäre Mutti im Weg.« Henrik blähte seine Backen auf und stieß dann kräftig die Luft aus. »So ein Unsinn! Ich würde doch Mutti und Vati nicht hindern, wenn sie sich amüsieren wollten.«

Schwester Regine unterdrückte ein Schmunzeln. »Henrik, ich muß dich enttäuschen«, sagte sie dann. »Ich bin auch der Ansicht, daß du diesmal zu Hause bleiben sollst. Deine Eltern haben sich diese zwei Tage wirklich verdient.«

Mit offenem Mund sah der Junge sie an. Das hätte er nicht erwartet. Er kam aber nicht dazu, darauf zu antworten, denn Denise von Schoenecker kam aus dem Empfangszimmer. Sie war eine aparte Frau, der niemand ihr Alter ansah.

»So, die meisten Anrufe habe ich erledigt.« Lächelnd wandte Denise sich jetzt an ihren Sohn. »Schön, daß ihr mich abholt. Ich bin auch gleich soweit. Ich will nur noch rasch mit Heidi zum Spielplatz. Ich habe es ihr versprochen.«

Henrik spielte den Beleidigten. Er senkte den Kopf. »Ich weiß«, brummte er. »Bei ihr hältst du ein Versprechen immer.«

»Moment, mein Sohn.« Denise wußte sofort, worauf ihr Jüngster hinauswollte. »Dir habe ich nichts versprochen.«

Ruckartig fuhr Henriks Kopf hoch. Treuherzig sahen seine grauen Augen die Mutter an.

»Könntest du das nicht noch tun?« schmeichelte er.

Denise schüttelte den Kopf. »Kein Kommentar mehr. Wir haben schon ausführlich darüber diskutiert.«

»Da haben wir es.« Henrik seufzte kläglich. »Mich versteht niemand. Immer die anderen.«

»Du kannst Heidi und mich jederzeit begleiten. Wenn du willst, hebe ich dich auch auf die Schaukel und stoße dich an.«

Mißtrauisch sah Henrik seine Mutter an. Machte sie sich über ihn lustig? »Danke«, sagte er dann hoheitsvoll. »Das überlasse ich gern unseren Kleinen.«

Henrik begleitete seine Mutter und Heidi aber dann doch in den großen Park, der das Kinderheim umgab. Er war ein Paradies für die Kinder. Im Park gab es einen kleinen Weiher, einen Pavillon und einen Springbrunnen mit einer sprudelnden Fontäne. Natürlich fehlten auch ein Spielplatz mit Sandkästen, Schaukeln, Rutschen und Reck nicht.

*

»Aua«, schrie Holger Bittner em­pört. Im Gedränge war ihm jemand ziemlich unsanft auf den Fuß getreten. Der zweijährige Junge drängte sich enger an seinen Vater. »Die vielen Leute sind böse. Sie stoßen.«

»Es ist besser, du nimmst ihn auf den Arm«, meinte Wiebke Bittner, eine hübsche junge Frau. Sie beugte sich zu ihrem Sohn hinab und strich ihm liebevoll über das lockige Blondhaar.

Der Kleine lächelte, aber als Erik Bittner ihn hochheben wollte, wehrte er sich und verzog seinen Mund.

»Will nicht. Bin groß. Kann schon gehen.«

»Da hörst du es!« Erik Bittner schmunzelte. Er war ein Mann in den besten Jahren und sehr stolz auf seinen kleinen Sohn.

»Er ist ein kleiner Dickkopf«, sagte Wiebke, aber auch ihre Stimme klang zärtlich.

Das Gedränge verstärkte sich. Wiebke beugte sich nochmals zu ihrem Sohn hinab, und als sich ein Ellbogen in ihren Rücken bohrte, nahm sie den Kleinen kurz entschlossen auf den Arm. Da Holger zappelte, lockte sie: »Du siehst doch Pferde gern. Auf Papis Schultern kannst du sie viel besser sehen.«

In Holgers Gesicht blitzten die blauen Augen begeistert auf. »Holger reiten«, forderte er.

Beinahe wäre der Junge Wiebke aus den Händen geglitten, so heftig warf er sich seinem Vater entgegen. Dieser nahm ihn und setzte ihn auf seine breiten Schultern.

Kurze Zeit war Holger nun still. Er hielt sich am Kopf seines Vaters fest, blickte triumphierend von oben in die Runde. Von diesem Hochsitz aus hatte er auch einen Blick auf die Rennbahn.

»Wau, wau«, schrie er. Vor Begeisterung ließ er den Kopf seines Vaters los und patschte in die Hände. »Wau, wau.«

»Aber Holger«, mahnte Wiebke lachend. »Ein Pferd macht doch nicht wau, wau.«

»Holger macht wau, wau«, beharrte der Kleine und begann erneut in den verschiedensten Tonlagen zu bellen.

Die Köpfe der Umstehenden fuhren herum, aber ihre Mienen wurden freundlich, als sie den entzückenden Jungen gewahrten. Das Rennfieber trat für kurze Zeit in den Hintergrund.

Eine ältere Dame fühlte sich sogar bemüßigt zu wiehern. »Siehst du, mein Kleiner«, sagte sie freundlich. »So machen es die Pferdchen.«

»Papis Pferd macht anders«, sagte Holger. Er griff seinem Vater mit beiden Händen in die Haare, so daß dieser nur mit Mühe einen Schmerzensschrei unterdrückten konnte. »Papi, hopp! Holger reiten.«

»Nicht jetzt, Holger. Sieh jetzt zu den Pferden hin.«

Während Wiebke das Fernglas an die Augen setzte, hatte Erik Bittner alle Hände voll zu tun, um seinen Sohn ruhig zu halten. Dieser hopste auf seinen Schultern auf und ab und krähte dabei vergnügt. »Hü, hott, hü! Hoppe Reiter!«

Schließlich mußte Erik Bittner seinen Sohn von seinen Schultern nehmen. So kam es, daß er nicht einmal mitbekam, welches Pferd nun als erstes durch das Ziel gegangen war. Sekundenlang war er ärgerlich, aber dann sah er in das lachende Gesicht seines Sohnes, und sein Ärger schwand.

Wiebke hakte sich bei ihm unter. »Es tut mir leid, aber es wäre besser gewesen, wir wären im Hotel geblieben. Ich habe geahnt, daß Holger keine Ruhe geben wird. Er ist zwar wie der Papa an Pferden interessiert, aber…«

»… aber er ist noch kein solcher Pferdenarr wie der Papa«, ergänzte Erik lachend. »Ich werde dir aber nun beweisen, daß mir meine Familie vorgeht. Wir wollen das dritte Rennen auslassen und dafür mit unserem Sohn einen Spaziergang machen, der in einer Eisdiele endet.«

»Eis!« Holger hatte genau verstanden. »Schnell, Papi, Holger will Eis haben.« Eifrig schlang der Kleine seinem Papi die Ärmchen um den Hals.

»Gut, Holger bekommt Eis«, versprach Erik und bekam dafür einen feuchten Schmatz auf die Lippen gedrückt.

»Soll ich nicht mit ihm allein gehen?« erbot sich Wiebke. Sie waren extra nach Baden-Baden gefahren, damit ihr Mann das Rennen sehen konnte. Das war schon lange sein Traum gewesen. Er hatte sein Leben den Pferden verschrieben. Bereits als junger Bursche war er wie ein Wilder durch die Gegend geritten. Sooft es ihm möglich gewesen war, hatte er seinen Großvater besucht, der ein Gestüt besessen hatte. Seine Liebe hatte er nun zu seinem Beruf gemacht. Er war Dressurreiter geworden.

»Das kommt nicht in Frage. Ich habe die Blicke der Männer wohl wahrgenommen. Keine Sekunde lasse ich dich aus den Augen.« In seiner Stimme war Stolz, aber auch versteckte Eifersucht. Vier Jahre war er nun mit Wiebke verheiratet, aber er begehrte sie noch genauso wie am ersten Tag. Nie hatte er ein so starkes Gefühl für möglich gehalten. Er hatte auch nichts von der Liebe gehalten, sondern war lange ein eingefleischter Junggeselle gewesen. Über Nacht hatte sich dann sein Leben geändert. Er war Wiebke, einer Hamburger Deern, begegnet. Vom ersten Augenblick an hatte sein Herz in Flammen gestanden. Für ihn hatte es nur noch Wiebke gegeben. Die Sterne hätte er ihr vom Himmel geholt, und wie glücklich war er gewesen, als sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Er hatte es zuerst kaum fassen können. Sie war nicht nur eine Schönheit, sie war auch um zwanzig Jahre jünger als er.

»Aber Erik.« Glücklich lächelte Wiebke ihren Mann an. Für sie gab es nur ihn und ihren kleinen Sohn. Sie waren eine glückliche Familie, lebten nur in ihrer kleinen Welt, ließen kaum jemanden daran teilhaben. Für Wiebke hieß diese Welt Geborgenheit, und die hatte sie erst spät kennengelernt.

Wie immer sorgte Holger auch jetzt dafür, daß die Eltern ihn nicht vergaßen. »Holger will weg.« Energisch packte er mit der einen Hand die Mama, mit der anderen den Papa.

Da Erik gewohnt war, daß sein Liebling seine Wünsche ziemlich energisch vertrat, sagte er schnell: »Wir gehen ja schon.« Er nahm den Kleinen nochmals auf den Arm und begann sich durch die Menge zu drängen.

Wieder erregten sie Aufsehen. Das reizende Kind, das wieder in seine begeisterten Hü-Rufe ausgebrochen war und die bildhübsche junge Frau. Es gab eine Menge aparter Frauen am Rande der Rennpiste. Aber Wiebke Bittner war eine der charmantesten und apartesten. Sie trug ihre Schönheit jedoch nicht bewußt zur Schau.

Abseits vom Rennplatz ging das Paar dann Hand in Hand einen Wiesenweg entlang. Das Kind lief munter voraus, um dann wieder stehenzubleiben und in Begeisterungsrufe auszubrechen, weil es einen Schmetterling entdeckt hatte. Dann war es eine dunkelblaue Glockenblume, die sein Entzücken weckte.

Erik und Wiebke sahen Holger zu. Sie sprachen dabei nicht, aber sie genossen das Glück des Augenblicks.

Bald wurde Holger müde. Er lief in die Wiese hinein und ließ sich einfach ins Gras fallen. Lachend suchten seine Eltern ihn. Zu Holgers Freude taten sie so, als könnten sie ihn nicht finden. Beinahe trat sein Vater auf ihn, was ihm einen hellen Jauchzer entlockte. Daraufhin packte Erik seinen Sohn und warf ihn in die Luft. Es war ein Spiel, von dem der Kleine nicht genug bekommen konnte.

Mit einem glücklichen Leuchten in den Augen sah Wiebke dem übermütigen Treiben von Vater und Sohn zu. Es kam nicht allzu oft vor, daß Erik sich so intensiv seinem Sohn widmete. Er liebte ihn zwar über alles, aber in Gegenwart anderer konnte er nicht so aus sich heraus.

Ein zärtliches Lächeln glitt über Wiebkes Lippen. Zum erstenmal wurde ihr bewußt, daß in ihrem sonst so korrekten Mann auch noch ein Kind steckte. Schade, daß das nicht öfters zum Durchbruch kam.