Wo ist Tiger? - Bettina Clausen - E-Book

Wo ist Tiger? E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Wann sind wir bei Vati, Tante Britta?« Britta Hamberg überlegte. »Morgen Abend.« »Morgen erst?«, fragte der achtjährige Christian enttäuscht. Er schaute seine Schwester an. »Hast du das gehört, Fee?« Felizitas, sie wurde nur Fee genannt, war zwei Jahre jünger als ihr Bruder. Sie trug gerade ein Köfferchen mit Spielsachen aus dem Haus. »Was willst du denn noch alles mitschleppen?«, fragte Britta ungeduldig. Fee stellte das Köfferchen neben dem Wagen ab. »Das sind nur meine Puppen. Ich kann sie doch nicht allein hierlassen.« Britta nahm den Koffer und warf ihn zu dem anderen Gepäck. »Nicht so grob«, rief Fee. »Du machst sie doch kaputt.« Britta warf den beiden Kindern einen gereizten Blick zu. »Seid ihr jetzt endlich so weit?«

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Sophienlust – 314 –

Wo ist Tiger?

Bettina Clausen

»Wann sind wir bei Vati, Tante Britta?«

Britta Hamberg überlegte. »Morgen Abend.«

»Morgen erst?«, fragte der achtjährige Christian enttäuscht. Er schaute seine Schwester an. »Hast du das gehört, Fee?«

Felizitas, sie wurde nur Fee genannt, war zwei Jahre jünger als ihr Bruder. Sie trug gerade ein Köfferchen mit Spielsachen aus dem Haus.

»Was willst du denn noch alles mitschleppen?«, fragte Britta ungeduldig.

Fee stellte das Köfferchen neben dem Wagen ab. »Das sind nur meine Puppen. Ich kann sie doch nicht allein hierlassen.«

Britta nahm den Koffer und warf ihn zu dem anderen Gepäck.

»Nicht so grob«, rief Fee. »Du machst sie doch kaputt.«

Britta warf den beiden Kindern einen gereizten Blick zu. »Seid ihr jetzt endlich so weit?«

»Ja«, sagte Christian, den sein Vater und seine Schwester Chris nannten. Er warf einen letzten Blick auf das große Haus. Die Fensterläden waren geschlossen, der kleine Spielplatz im Garten war verwaist. Durch den Garten kam jetzt ein kleiner rotbrauner Hund gesprungen. Er sah aus wie ein Dackel, war aber für einen Dackel etwas zu groß geraten. Andreas Bergen hatte den Dackel­mischling aus einem Tierasyl geholt, um seinen Kindern eine Freude zu machen. Weil der Hund so angriffslustig war, hatten die Kinder ihn Tiger getauft. Manchmal erinnerte er tatsächlich ein bisschen an eine Raubkatze. Zum Beispiel jetzt: Mit langen Sprüngen jagte er über den Rasen.

»Er hat Angst, dass wir ihn vergessen«, sagte Fee.

»Wäre gar keine so dumme Idee«, murmelte Britta. Dafür erntete sie einen vernichtenden Blick von Christian.

Tiger war im Garten vor der verschlossenen Tür stehen geblieben. Er wedelte mit dem Schwanz, seine großen braunen Augen bettelten.

»Wir vergessen dich schon nicht«, sagte Fee zärtlich und öffnete die Gartentür.

Tiger lief auf die Straße und landete mit einem Satz auf dem Beifahrersitz des Wagens. Chris und Fee setzten sich hinten hin. Keines der beiden Kinder wollte neben Britta sitzen. Wenn wir nur schon bei Vati wären, dachte Chris.

Britta verschloss die Gartentür, warf einen letzten prüfenden Blick auf Haus und Garten und stieg dann ins Auto ein. Sie hatte die letzten beiden Tage bei den Kindern gewohnt. Immer, wenn Andreas nicht da war, wohnte sie in dessen Haus und beaufsichtigte Chris und Fee. Seit zwei Jahren war sie mit Andreas befreundet. Und seit einem Jahr hoffte sie, seine Frau zu werden.

Wenn wir erst verheiratet sind, kommen die Kinder in ein Heim, dachte Britta. Ich habe keine Lust, mich dauernd mit ihnen herumzuärgern. Und dann dieser unmögliche Hund! Sie warf Tiger einen strafenden Blick zu. Der Hund schielte zu ihr empor und begann leise zu knurren.

»Hast du ihm etwas getan?«, fragte Fee alarmiert. Ihr ganzes Herz gehörte Tiger. Sorgsam wachte sie darüber, dass niemand ein garstiges Wort zu ihm sagte – zu dem armen Waisenhund, wie sie ihn insgeheim nannte.

Britta warf den Kindern einen wütenden Blick zu. »Ich werde mich doch nicht an dieser Kreatur vergreifen«, sagte sie böse.

»Tiger ist keine Kreatur«, widersprach Chris ihr.

»Ruhe jetzt!«, befahl Britta. »Wir fahren los. Sind die Türen alle zu?«

»Ja.«

Britta startete den Motor und kuppelte. Morgen Nachmittag, spätestens morgen Abend, sind wir an der französischen Riviera, dachte sie. Dann soll sich Andreas mit seinen Kindern herumärgern. Ich werde mich nicht auch noch im Urlaub um sie kümmern. Eine steile Falte hatte sich zwischen ihren Brauen gebildet und machte sie um zehn Jahre älter. Dabei war Britta erst neunundzwanzig.

Sie war verwitwet und hatte ein beträchtliches Vermögen von ihrem ersten Mann geerbt. Damit führte sie ein sorgloses und bequemes Leben.

Am Ortsausgang stand ein Hinweisschild zur Autobahn. Die Kleinstadt, die sie verließen, lag in der Nähe von Frankfurt. Schon nach fünfundzwanzig Minuten erreichte Britta die Autobahn.

Fee und Chris unterhielten sich leise. Tiger war auf dem Beifahrersitz eingeschlafen.

»Weiß Vati, dass wir kommen?«, fragte Fee leise.

»Klar weiß er das«, sagte Chris. »Wir haben es ihm doch gestern am Telefon gesagt. Morgen Abend sind wir dort, und dann baden wir gleich im Meer.«

Das Haus in Beaulieu an der Côte d’Azur hatte Andreas Bergen erst vor einem Jahr gekauft. Es lag direkt am Meer und war so groß, dass zwei Familien leicht darin Platz gefunden hätten. Andreas Bergen war seit vier Jahren Witwer. Nach dem Tod seiner Frau hatte er nur noch für seine Arbeit gelebt. Der Erfolg war nicht ausgeblieben. Seine Agentur betreute die erfolgreichsten Künstler aus ganz Europa.

Fee war jetzt auf dem Rücksitz eingeschlafen. Auch Chris fielen die Augen immer wieder zu. Gewaltsam versuchte er, sie offenzuhalten. Eine Weile gelang ihm das auch, doch dann übermannte ihn der Schlaf.

Die beiden Kinder hatten in der vorangegangenen Nacht vor Aufregung lange nicht einschlafen können. Um sechs Uhr war Britta aufgestanden, und um halb sieben hatte sie die Kinder geweckt. »Ihr könnt im Auto weiterschlafen«, hatte sie gesagt. Sie selbst war an lange Autofahrten gewöhnt. Sie machten ihr nichts aus.

Trotz der frühen Stunde war auf der Autobahn schon ziemlich viel Verkehr. Mit ihrem schnellen Wagen überholte Britta die anderen. Sie wollte an diesem Tag bis Österreich fahren und dort übernachten. Dann konnte sie am nächsten Tag spielend die Küste erreichen. Wenn alles gut ging, würden sie schon am Nachmittag in Beaulieu sein.

Britta zündete sich eine Zigarette an und schaltete das Autoradio ein. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihr, dass die Musik Chris und Fee nicht störte.

Die beiden schliefen weiter.

Nach einer halben Stunde Autobahnfahrt schlug Fee die Augen auf. »Ich muss mal.«

»Warte, bis wir zur nächsten Tankstelle kommen«, sagte Britta.

Ein paar Minuten schwieg Fee, dann schüttelte sie den Kopf. »So lange kann ich nicht warten.«

Britta stöhnte. »Konntest du nicht zu Hause daran denken?«

»Habe ich doch«, sagte Fee kläglich. »Aber jetzt muss ich eben schon wieder.«

Britta seufzte. Bevor ein Malheur passiert, verlasse ich lieber die Autobahn, dachte sie. Ein Hinweisschild auf einen Rastplatz tauchte auf. Noch fünfhundert Meter, noch zweihundert. Britta blinkte und nahm den Fuß vom Gaspedal.

Als der Wagen stand, riss Fee die Tür auf und sprang hinaus.

»Warte«, rief Chris. »Ich komme mit! Dann kann ich aufpassen, dass dir niemand zuguckt.«

Britta blieb im Auto sitzen und schaute den Kindern nach, die in den Wald hineinliefen. Tiger hatte neugierig den Kopf gehoben. Britta betrachtete ihn mit Widerwillen. Wenn er wenigstens reinrassig wäre, dachte sie. Aber mit so einem Ausbund an Hässlichkeit muss man sich ja auf der Straße schämen. Plötzlich erinnerte sie sich an einen Zeitungsartikel, den sie am Vortag gelesen hatte. Jedes Jahr um die Urlaubszeit wurden Hunde auf der Autobahn oder auf Landstraßen ausgesetzt. Sie wurden einfach aus dem Auto geworfen oder irgendwo im Wald an einen Baum angebunden. Das kann ich verstehen, dachte Britta, während sie Tiger anschaute. Der Hund begann plötzlich zu winseln, als spüre er, dass ihm Gefahr drohte.

Einer plötzlichen Eingebung folgend drückte Britta ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Energisch riss sie die Tür auf und schaute zum Wald hinüber. Chris und Fee waren noch nicht zu sehen.

Schnell ging Britta um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und packte Tiger. Doch der Hund wollte nicht von ihr auf den Arm genommen werden und wehrte sich. Aber nachdem er einen kräftigen Klaps auf den Kopf bekommen hatte, wurde er ruhig. Ängstlich steckte er den Kopf zwischen die Vorderpfoten.

Britta lief. Nach fünfzig Metern blieb sie stehen und schaute sich um. Der Rastplatz war leer. Da lief sie in den Wald hinein. Den Wagen, der am Ende des Parkplatzes stand, sah sie nicht. Büsche verbargen ihn.

In diesem Wagen saß eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hatte Britta längst gesehen, sie aber nicht weiter beachtet. Sie wurde erst aufmerksam, als sich Britta immer wieder umdrehte – wie jemand, der auf der Flucht war. Komisch, dachte sie.

Sie kurbelte das Fenster herab und spähte zwischen den Büschen hindurch. Da sah sie, dass die fremde Frau mit dem Hund stehen blieb. Und dann schoss ihr vor Entrüstung das Blut ins Gesicht. Die Fremde hatte den kleinen Hund an einen Baum angebunden und lief allein zurück.

Britta erreichte den Wagen vor Chris und Fee. Schnell stieg sie ein und startete den Motor.

Immer noch ein bisschen verschlafen kehrten Chris und Fee aus dem Wald zurück und kletterten auf den Rücksitz. Kaum war die Autotür ins Schloss gefallen, fuhr Britta auch schon an. Sie fuhr an dem Wagen vorbei, in dem das fremde junge Mädchen saß.

Chris schaute zum Fenster hinaus und sah, dass sich die Fremde etwas notierte. »Die hat sich jetzt unsere Autonummer aufgeschrieben«, murmelte er.

Britta achtete jedoch nicht auf ihn. Sie wollte so schnell wie möglich von dem Rastplatz wegkommen.

Fee hatte schon wieder die Augen geschlossen. Gerade als sie in die Bewusstlosigkeit des Schlafes hinüberglitt, stieß Chris einen Schrei aus. Erschrocken fuhr Fee auf.

Chris hatte sich über die Lehne des Beifahrersitzes gebeugt. Seine Augen fanden einen leeren Platz. »Wo ist Tiger?« Er beugte sich noch weiter vor, um zu sehen, ob Tiger vielleicht auf dem Boden liege. Aber auch dort konnte er ihn nicht entdecken.

Die Frage nach Tiger hatte Fee schlagartig hellwach gemacht. Sie stand auf und sah ebenfalls den leeren Sitz neben Britta. »Tiger!«, schrie sie mit Panik in der Stimme. »Wo ist er? Was hast du mit ihm gemacht?«

Britta antwortete nicht gleich. Sie tat, als müsste sie sich auf ein Überholmanöver konzentrieren. Da spürte sie Chris’ kleine Hand auf ihrer Schulter. »Wir wollen wissen, was du mit unserem Hund gemacht hast.« Tränen standen in den Augen des Jungen.

»Er ist auf dem Rastplatz hinausgesprungen«, sagte Britta seelenruhig.

»Er kann doch nicht hinausspringen, wenn die Tür zu ist«, folgerte Chris logisch.

»Ich habe sie aufgemacht, damit er ein bisschen frische Luft schnappen kann. Er ist hinausgesprungen und euch nachgelaufen.« Britta zuckte mit den Schultern und fuhr weiter.

Da fuhr ihr Chris’ Hand in die Haare.

»Ich will, dass du sofort anhältst. Fahre zurück! Wir müssen unseren Hund holen.«

Britta schüttelte die Hand aus ihrem Haar. »Wenn du das noch einmal machst, bekommst du eine Tracht Prügel. Ich kann jetzt nicht umkehren.«

»Du kannst ihn doch nicht einfach allein im Wald lassen«, flüsterte Fee fassungslos.

»Irgendjemand wird ihn schon finden.«

»Warum hast du uns das nicht gesagt?«, schrie Chris aufgebracht. »Wir hätten ihn doch gesucht.«

»Dazu ist es zu spät«, sagte Britta. »Und jetzt möchte ich nichts mehr darüber hören.«

Fee schaute ihren Bruder an. »Sie hat unseren Hund hinausgeworfen.«

»Ja«, sagte Chris. Seine kindliche Stirn legte sich in Falten, so angestrengt dachte er nach.

»Wir müssen doch etwas tun«, flüsterte Fee. »Stell dir doch nur vor, der arme Tiger allein im Wald.« Sie tastete nach Chris’ Hand.

»Das erzähle ich Vati«, sagte Chris laut. »Du hast es absichtlich getan. Die Tür hast du aufgemacht, damit Tiger davonlaufen konnte.«

Britta zuckte mit den Schultern. »Ist es meine Schuld, dass euer Hund nicht weiß, wohin er gehört? Ein anständiger Hund läuft nicht einfach davon.«

»Du hättest warten können, bis wir ihn gefunden haben«, sagte Fee mit weinerlicher Stimme. »Aber du bist einfach fortgefahren. Du hast uns nicht einmal gesagt, dass Tiger im Wald ist.«

»Hört endlich mit dem Geheule auf«, befahl Britta.

Da ballte Chris seine kleinen Hände zu Fäusten. »Das hast du absichtlich getan«, schrie er. »Weil du Tiger nicht leiden kannst. Du bist gemein! Ich hasse dich!«

Britta antwortete nicht. Sie fuhr immer weiter.

In ohnmächtigem Zorn sah Chris es, während Fee hilflos vor sich hin weinte.

*

Olivia Heine schaute dem davonfahrenden Wagen nach. In aller Eile hatte sie die Autonummer auf einen Zettel gekritzelt. Jetzt verließ sie ihren Wagen und lief in den Wald hinein. Sie lief zu der Stelle, an der sie die Fremde mit dem Hund gesehen hatte.

Olivia musste nicht lange suchen. Lautes Winseln wies ihr den Weg. Und dann sah sie ihn. Einen rotbraunen kleinen Hund, angebunden an dem Stamm einer Tanne. In seinen großen braunen Augen stand die blanke Angst. Er lief ununterbrochen um den Baum herum und versuchte sich zu befreien. Dabei verwickelte er sich nur immer mehr in seine Leine.

Olivia blieb einen Augenblick stehen.

Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr jemals ein Tier so leid getan hatte wie dieser fremde kleine Hund. Als er sie sah, begann er zu jaulen. Laut und flehend. Er sprang ihr entgegen, als wollte er sagen: Hilf mir, nimm mich mit!

Olivia war so entrüstet, dass sie sekundenlang keinen klaren Gedanken fassen konnte. Automatisch band sie den Hund los. Tiger wedelte dankbar mit dem Schwanz und sprang an ihr hoch.

»Schon gut, mein Kleiner. Ich nehme dich ja mit.«

Olivia bückte sich und nahm ihren Findling auf den Arm. Dabei fiel ihr ein Schildchen am Hals des Hundes auf. Seine Adresse? Hatte die Besitzerin vergessen, ihm das Schild abzunehmen?

Olivia griff danach und drehte das kleine Lederstück um. Aber es stand keine Adresse darauf. Nur ein Name: Tiger.

Verwundert schaute Olivia den kleinen Hund an. »Heißt du Tiger?«

Es kam ihr so vor, als bewege er den Kopf.

»Wie ein Tiger siehst du ja nicht gerade aus«, fuhr sie fort. »Aber vielleicht hast du das Herz eines Tigers, so mutig und kühn. Auf jeden Fall hast du ein böses Frauchen.« Sie streichelte das gepflegte Fell, und Tiger hielt ganz still.

Was nun, fragte sich Olivia, als sie wieder vor ihrem Wagen stand. Mitnehmen konnte sie den Hund nicht. Sie war Konzertpianistin und befand sich auf dem Weg nach München. Dort sollte sie am nächsten Abend auf einem Konzert spielen. In der kleinen Hotelpension, in der sie wohnte, waren Hunde nicht erlaubt.

Seufzend öffnete Olivia die Autotür und setzte den Dackelmischling auf den Beifahrersitz. Eigentlich gab es nur eine Lösung. Sie musste den Hund zur nächsten Polizeistation bringen. Also setzte sie sich wieder hinters Steuer und fuhr auf die Autobahn.

Aber schon bei der nächsten Ausfahrt lenkte Olivia den Wagen wieder von der Autobahn weg. Es gelang ihr, die nächste Polizeistation ausfindig zu machen. Als sie davor hielt, hob Tiger neugierig den Kopf.

»Komm, mein Kleiner.« Olivia nahm den Hund auf den Arm und ging mit ihm ins Haus. Als sie mit ihm die Wachstube betrat, wollte Tiger von ihrem Arm springen, doch sie hielt ihn fest. Da begann er so kläglich zu winseln, dass sämtliche Polizisten zusammenliefen.

»Er scheint zu wissen, dass ich ihn hier abliefern will«, sagte Olivia hilflos.

»Abliefern wollen sie ihn?«, fragte einer der Beamten.

Olivia nickte. »Ich habe ihn auf einem Rastplatz der Autobahn gefunden. Festgebunden an einem Baum.«

Tiger winselte lauter. Jetzt vergrub er sogar seinen Kopf in Olivias Halsbeuge.

Voller Mitleid sahen es die Polizeibeamten. »Es ist jedes Jahr zur Urlaubszeit das Gleiche. Wissen Sie, dass Sie allein in dieser Woche schon die zweite sind, die uns einen ausgesetzten Hund bringt?«

»Was geschieht mit den Tieren?«, fragte Olivia besorgt.

Der Beamte zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Wir können nur eins machen, sie in ein Tierasyl bringen. Wenn sie Glück haben, findet sich jemand, der sie dort herausholt, der sein neuer Besitzer wird.«

»Und wenn sie Pech haben?«, fragte Olivia. Ihr Mund war plötzlich trocken.