Sophienlust 316 – Familienroman - Bettina Clausen - E-Book

Sophienlust 316 – Familienroman E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren: Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Eigentlich war alles schon klar gewesen. Simon Tretow hatte am Sonnabendmorgen mit seiner Familie wegfahren wollen. Aber als sie beim Frühstück saßen, sagte er: "Ihr müsst allein vorausfahren." Wanda Tretow schaute ihren Mann über den Tisch hinweg erstaunt an. "Aber warum, Vati?", fragte der achtjährige Mario. "Zwei dringende Fälle." Simon Tretow hatte ein schlechtes Gewissen, als er das sagte. Er war Zahnarzt. Und prompt entgegnete seine Frau: "Für so etwas gibt es doch einen Notdienst." "Ich weiß …" Seine Gewissens­bisse verstärkten sich. "Aber es handelt sich um zwei langjährige Patienten. Einer, ein älterer Mann hat einen vereiterten Backenzahn, den er sich nur von mir ziehen lassen will." Wanda versuchte ihren Mann zu verstehen. Sie schaute ihre beiden Söhne an. Sascha, der Jüngste, erst zwei Jahre alt, spielte mit seinem Brötchen. Mario zog zuerst einen Flunsch, dann schlug er vor: "Dann fahren wir eben allein, nicht wahr, Mutti?" Das hatte ja auch Simon vorgeschlagen. Normalerweise hätte Wanda das auch gemacht, aber ausgerechnet an diesem Morgen fühlte sie sich nicht wohl.

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Sophienlust – 316 –

Zu jung für dieses Leid

Als Marios heile Welt zerbrach

Bettina Clausen

Eigentlich war alles schon klar gewesen. Simon Tretow hatte am Sonnabendmorgen mit seiner Familie wegfahren wollen. Aber als sie beim Frühstück saßen, sagte er: »Ihr müsst allein vorausfahren.«

Wanda Tretow schaute ihren Mann über den Tisch hinweg erstaunt an.

»Aber warum, Vati?«, fragte der achtjährige Mario.

»Zwei dringende Fälle.« Simon Tretow hatte ein schlechtes Gewissen, als er das sagte. Er war Zahnarzt.

Und prompt entgegnete seine Frau: »Für so etwas gibt es doch einen Notdienst.«

»Ich weiß …« Seine Gewissens­bisse verstärkten sich. »Aber es handelt sich um zwei langjährige Patienten. Einer, ein älterer Mann hat einen vereiterten Backenzahn, den er sich nur von mir ziehen lassen will.«

Wanda versuchte ihren Mann zu verstehen. Sie schaute ihre beiden Söhne an. Sascha, der Jüngste, erst zwei Jahre alt, spielte mit seinem Brötchen. Mario zog zuerst einen Flunsch, dann schlug er vor: »Dann fahren wir eben allein, nicht wahr, Mutti?«

Das hatte ja auch Simon vorgeschlagen. Normalerweise hätte Wanda das auch gemacht, aber ausgerechnet an diesem Morgen fühlte sie sich nicht wohl. Sie hatte Kopfschmerzen und das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

Entweder eine Erkältung oder ein verdorbener Magen, diagnostizierte Wanda im Stillen. Sie schaute ihren ältesten Sohn an. »Warum warten wir nicht auf Vati?«

»Och, Mutti.« Mario zog erneut einen Flunsch.

Wanda blickte über den Tisch hinweg ihren Mann an. »Wann könntest du mitkommen, Simon?«

»Am Nachmittag, frühestens so gegen drei Uhr.« Zwei Stunden dauert die Fahrt, überlegte Wanda. Also wären wir so gegen fünf Uhr am Ziel. Zu spät für die Kinder, um noch etwas von dem Tag zu haben.

Die Familie Tretow hatte ein Wochenendhaus auf dem Land. Eine alte Mühle, die Simon gekauft und renoviert hatte. Dort verbrachten sie im Frühjahr und im Sommer fast jedes Wochenende. Oft fuhren sie auch noch im Herbst hin, seltener im Winter.

»Ich sehe wirklich keinen Grund, warum ihr auf mich warten solltet«, sagte Simon und schaute seine Frau an.

Natürlich hätte sie jetzt erwidern können, dass sie sich nicht wohlfühle. Aber damit hätte sie Simon beunruhigt und den Kindern das Wochenende verdorben. Und das alles nur wegen einer vorübergehenden Unpässlichkeit.

»Also gut, dann fahre ich mit den Kindern voraus«, entschied sie.

Sascha strahlte, und Mario reagierte mit lautem Indianergeheul.

»Na, siehst du.« Simon griff über den Tisch und drückte Wandas Hand. Dabei lächelte er ihr zu. Sie erwiderte seinen zärtlichen Blick.

Die Tretows führten eine Musterehe. Das behaupteten Nachbarn und Freunde – und das stimmte auch. Keiner der beiden Ehepartner konnte sich ein Leben ohne den anderen auch nur vorstellen. Sie hatten die gleichen Ansichten und die gleichen Interessen, und sie liebten beide ihre Kinder über alles.

Eine Stunde später saß Wanda mit den Kindern in ihrem kleinen Wagen und fuhr los. Während der Fahrt ließen ihre Kopfschmerzen ein wenig nach.

Nach fast drei Stunden erreichten sie die Mühle. Wanda war langsam gefahren. Bei normalem Tempo schaffte sie die Strecke in zwei Stunden.

Mario sprang als Erster aus dem Wagen.

»Warte auf mich«, rief Sascha und rannte hinter seinem Bruder her.

»Nicht so schnell«, mahnte die Mutter, als sie sah, dass Sascha stolperte und fast gefallen wäre.

Wanda nahm die Reisetasche aus dem Wagen. In diesem Moment spürte sie wieder diese seltsame Leere im Kopf. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Dann ging sie langsam zum Haus. Am liebsten hätte sie sich eine Stunde hingelegt, aber dann hätte sie die Kinder ohne Aufsicht draußen spielen lassen müssen, und das wollte sie nicht.

Zu der alten Mühle gehörte ein Bach: der Mühlbach. An ihm spielten die beiden Jungen besonders gern. Irgendwie hatte dieser Wasserlauf eine besondere Anziehungskraft für Sascha und Mario. Leider war er sehr tief und auch ziemlich reißend. Also nicht gerade ein Planschbecken für Kinder. Immer wieder hatte Wanda den beiden eingeschärft, nicht ins Wasser zu gehen und auch nicht zu nahe am Ufer zu spielen.

»Wasser«, rief Sascha und griff nach der Hand seines Bruders. »Zum Wasser gehen.«

»Ja, aber erst müssen wir unsere Schiffe holen.« Mario ließ den Kleinen los und lief zur Rückfront des Hauses. Dort hatte er zwei Segelboote versteckt.

»Mutti!«

»Ja?« Wanda steckte den Kopf durchs Küchenfenster.

»Wo sind meine Segelboote?«

»Die hat Vati in den Schuppen gestellt.«

Mario lief zum Schuppen, fand ihn verschlossen und kam zurück. Inzwischen hatte die Mutter schon den Schlüssel vom Haken genommen und reichte ihn Mario durchs Fenster. »Aber ihr geht nicht allein runter zum Bach, ist das klar?«

»Ja, Mutti, wir warten auf dich. Du musst dich aber beeilen.«

»Ist schon gut«, antwortete Wanda müde und dachte, ich kann mich ja auch unten am Bach ausruhen. Es ist doch egal, ob ich im Gras liege oder auf der Couch.

Wanda nahm ihre Sonnenbrille, eine Decke und eine Flasche Mineralwasser. Mario und Sascha waren trotz der mütterlichen Ermahnung schon vorausgelaufen. Wanda fand sie unten am Bach.

»Sieh nur, Mutti, wie unsere Segelschiffe schwimmen«, rief Mario begeistert.

Saschas Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Schwimmen weg!« Er deutete bachabwärts und lief am Ufer entlang.

»Bleib hier, Sascha«, befahl die Mutter. Sie wollte den Kleinen unter Aufsicht haben.

Mario lief seinen Booten nach und holte sie mit einem Haken zurück ans Ufer. Während Wanda ihn beobachtete, dachte sie wieder, dass dieser Bach einfach nicht der richtige Spielplatz für Kinder sei.

»Warum spielt ihr nicht in dem Planschbecken, das Vati für euch aufgestellt hat?«

»Das ist ja so klein«, maulte Mario.

Die Mutter seufzte. »Ich werde Vati bitten, euch ein größeres zu kaufen.«

Aber Mario schüttelte den Kopf. »Wir brauchen kein Schwimmbecken, Mutti. Wir haben doch hier den Bach.«

»Der Bach ist zu gefährlich für euch.«

»Warum?«, fragte Sascha.

»Weil er zu tief ist und weil ihr nicht schwimmen könnt.«

»Ich kann schwimmen«, widersprach Mario. Er lernte es gerade bei einem Schwimmlehrer.

»Außerdem ist die Strömung zu stark«, fuhr Wanda fort.

Aber gerade das gefiel den Kindern. Oft warfen sie einfach nur Stöcke oder Holzstücke ins Wasser und liefen am Ufer entlang, um zu sehen, wohin ihr Spielzeug schwamm. Einmal war eine Entenfamilie den Bach hinuntergeschwommen. Das hatte die Buben fasziniert, dass sie den Enten bis ins Dorf nachgelaufen waren.

Sascha wollte wissen, was eine Strömung ist. Die Mutter versuchte es dem Zweijährigen zu erklären. Dabei spürte sie plötzlich wieder diese seltsame Leere im Kopf. Gleich danach begann ihr Magen zu rebellieren. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, und sprang auf.

»Mutti!«, rief Sascha.

»Ich komme gleich wieder. Pass auf Sascha auf«, sagte sie zu Mario. »Und bleibt vom Wasser weg.«

Wanda erreichte das Haus. Dahinter musste sie sich übergeben. Ihr brach am ganzen Körper der Schweiß aus. Ihre Knie zitterten, ihr Kopf schmerzte. Kraftlos fiel sie auf die Holzbank, die hinter dem Haus stand. Sie hatte keinen anderen Wunsch, als sich hinzulegen.

Nur ein paar Minuten flach liegen, dachte Wanda und schloss die Augen. Mit letzter Kraft stand sie auf und tastete sich zur Küchentür.

Aber kaum hatte sie den ersten Schritt ins Haus getan, da kehrte sie auch schon wieder um. Es ging nicht. Sie konnte die Kinder nicht allein lassen. Ich werde sie zum Haus zurückholen, beschloss sie. Danach lege ich mich hin.

Wanda kam bis zu der Bank vor dem Haus. Dort musste sie sich wieder für ein paar Minuten setzen. Vor ihren Augen tanzten rote Ringe, und ihre Hände zitterten wie die einer Greisin. Sie dachte sofort an den Fisch, den sie am Vorabend gegessen hatte.

Vielleicht war er schlecht gewesen. Aber Simon und die Kinder hatten schließlich auch davon gegessen.

*

»Bleib hier!«, befahl Mario seinem Bruder. »Mutti hat gesagt, wir dürfen nicht zum Wasser gehen.« Er wollte Saschas Hand nehmen, doch der Zweijährige riss sich los.

»Da«, rief er und deutete zu einem Gegenstand, der auf der Wasseroberfläche vorbeischwamm. Wie eine bunte Dose sah er aus. Die wollte Sascha unbedingt haben.

»Rausholen«, sagte er zu seinem Bruder.

Mario versuchte es, doch sein Stock war nicht lang genug. Die Dose schwamm weiter, und Sascha lief am Ufer hinterher.

»Du sollst dableiben!«, befahl Mario noch einmal. Der Jüngere gehorchte jedoch nicht.

»Mit dir hat man aber auch nichts wie Ärger«, schimpfte Mario und lief hinter seinem Bruder her. Die Mutter hatte ihm ja befohlen, auf Sascha aufzupassen.

»Sascha will das haben«, kreischte der Zweijährige und stampfte mit dem Fuß auf.

Inzwischen interessierte sich sogar Mario für den seltsamen Gegenstand, der weiter und weiter schwamm. Noch einmal warf er seinen Stock, der vorn einen Haken hatte, wie eine Angel ins Wasser. Wieder verfehlte er sein Ziel, was den Kleinen noch wütender machte.

»Sascha holt es selber«, verkündete der Zweijährige. Schon stand er mit einem Fuß im Wasser.

»Sascha!« Mario sprang hinzu. Er streckte den Arm aus nach seinem Bruder, wollte ihn zurückziehen. Zu spät.

Sascha hatte einen weiteren Schritt ins Wasser gemacht und den Halt verloren. Der Mühlbach war hier gleich sehr tief.

Sascha begann zu schreien. Aus dem Schreien wurde ein Gurgeln, als sein Kopf unter Wasser sank.

»Sascha«, rief Mario entsetzt.

Der Zweijährige kam wieder hoch, schnappte nach Luft und ging wieder unter. Von Panik erfasst, rannte Mario zum Ufer.

Sascha war von der Strömung bereits ein Stück mitgerissen worden. Jetzt kam er wieder an die Oberfläche.

»Nimm meine Hand«, rief Mario.

Sascha streckte sein Ärmchen aus. Aber er war viel zu weit weg. Und die Strömung riss ihn weiter.

Da sprang Mario kühn und entschlossen ins Wasser. Ich muss meinen Bruder retten, dachte er. Außerdem kann ich ja schwimmen. Aber auch ihn riss die Strömung fort. Plötzlich war er unter Wasser, bekam keine Luft mehr. Er schlug um sich, schrie laut, als er Luft bekam, und schluckte wieder Wasser.

Plötzlich spürte er etwas. Mario wusste nicht, was es war. Er griff einfach danach und merkte, dass er wieder nach oben kam. Keuchend rang er nach Luft, hustete, prustete und merkte, dass er oben blieb. Er hing an einem morschen Ast, der vom Ufer ins Wasser ragte. Halb tot vor Angst klammerte er sich an das Holz.

Sascha, durchzuckte es ihn. Wo war der Bruder? Mario sah ihn nicht mehr. Vor Angst begann er laut Saschas Namen zu schreien. Dann rief er nach der Mutter.

*

Als Wanda wieder zum Mühlbach kam, waren die Kinder verschwunden. Sie spielen beim Haus, dachte die Mutter und drehte sich um. Aber dort war niemand.

»Mario«, rief sie laut. Dann: »Sascha! Wo seid ihr?«

Nichts, keine Antwort.

Wanda rief noch einmal. Da hörte sie plötzlich eine Kinderstimme. Sie lief bachabwärts. Die Stimme wurde lauter. Sehen konnte die Mutter nichts, denn hier wuchsen Bäume und Weidenbüsche bis dicht ans Ufer.

Und dann machte der Mühlbach einen Bogen. Als Wanda den Flusslauf wieder überblicken konnte, sah sie Mario. Er hing an einem Stück Holz, an einer Wurzel oder einem Ast. Warum um alles in der Welt war er denn im Wasser?

Die Mutter rannte so schnell, dass sie stolperte und fiel. Aber gleich war sie wieder auf den Beinen und hastete weiter. Sie erreichte Mario, stieg ins Wasser und zog den Jungen heraus.

»Wo ist Sascha?«

»Ins Wasser gefallen«, keuchte Mario. »Ich wollte ihm helfen …«

Wandas Knie zitterten so stark, dass sie zusammen mit Mario ins Gras fiel. Ihr wurde schwarz vor den Augen, aber nur für Bruchteile von Sekunden. Dann sprang sie auf.

»Wo ist er ins Wasser gefallen?« Wanda merkte gar nicht, dass sie schrie.

»Oben bei der Mühle. Das Wasser hat ihn mitgenommen. Ich wollte …«

Die Mutter unterbrach ihn: »An welcher Stelle hast du Sascha zum letzten Mal gesehen?«

Mario musste einen Augenblick überlegen.

»Wo?«, fragte die Mutter verzweifelt und schreiend.

»Ich glaube, es war hier. Drum bin ich ja auch reingesprungen. Ich wollte ihn herausziehen.«

»O Gott«, schluchzte Wanda. Sie spürte gar nicht, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen. »Komm«, sagte sie und rannte los. »Wir müssen ihn finden. Die Strömung kann ihn ja nur bachabwärts getragen haben.«

Die beiden liefen am Ufer entlang. Aber von Sascha war einfach nichts zu sehen.

Das gibt es doch nicht, dachte Wanda verzweifelt. Das kann doch gar nicht sein. Sie blieb stehen, um Luft zu holen, schaute zurück. Nein, dort konnte er nicht sein. Das Wasser floss schnell. Wenn die Strömung ihn mitgenommen hatte, dann musste er hier oder noch weiter unten sein.

»Komm, wir laufen weiter.«

Doch Mario setzte sich ins Gras. »Ich kann nicht mehr.«

»Dann bleib hier. Ich gehe allein weiter.«

Wanda ließ Mario da, wo er war. Allein rannte sie am Bach entlang und rief immer wieder Saschas Namen. Dabei spürte sie, wie sich ihre Angst in Panik verwandelte.

Wieder blieb sie einen Moment lang stehen. Sie versuchte logisch zu denken, um richtig zu handeln. Saschas Leben hing davon ab. O Gott, hilf mir, flehte sie. Lass mich das Richtige tun. Lass mein Kind nicht ertrinken. Rette Sascha!

Wanda merkte nicht, dass sie mit gefalteten Händen weiterrannte. Immer weiter, den Blick aufs Wasser gerichtet.

Schließlich bekam sie keine Luft mehr und blieb stehen. Konnte Sascha überhaupt so weit gekommen sein? Vielleicht war er längst ans Ufer gestiegen und lief nun zum Haus zurück.

Sie drehte sich um. Aber die alte Mühle konnte sie nicht sehen. Bäume standen dazwischen. Was soll ich nur tun, fragte sie sich verzweifelt. Zum Haus zurückgehen? Oder weiter am Bach entlanglaufen? Tränen stiegen ihr in die Augen vor Angst und Hilflosigkeit. Da stand plötzlich ein Mann vor ihr. Es war ihr nächster Nachbar.

»Aber, Frau Tretow«, sagte er erschrocken, als er sah, dass sie weinte. »Was ist denn passiert?«

»Mein Kind«, schluchzte Wanda. »Sascha ist in den Mühlbach gefallen, und jetzt ist er verschwunden. Was soll ich nur tun? Bitte geben Sie mir einen Rat.«

Der Nachbar war ein älterer, lebenserfahrener Mann. Er vergeudete keine Zeit mit unnötigen Fragen. »Sie bleiben hier und suchen weiter. Ich gehe zu meinem Haus und alarmiere die Feuerwehr.« Und schon rannte er los. »Und suchen Sie bachabwärts«, rief er noch zurück.

Wanda nickte und stolperte weiter.

Wenige Minuten später war der Nachbar in seinem Haus. Zuerst alarmierte er die Feuerwehr. Dann rief er alle Nachbarn an, die bachabwärts wohnten.

»Ein Kind ist in den Mühlbach gefallen«, sagte er. »Der zweijährige Sascha Tretow. Bitte helft mit, ihn zu suchen. Die Strömung muss ihn mitgerissen haben. Vielleicht ist er auch irgendwo hängen geblieben. Wir müssen ihn finden, bevor er ertrinkt.«

Sie fanden Sascha nicht. Auch nicht die Feuerwehr, die mit langen Haken den ganzen Mühlbach absuchte – Meter für Meter. Keiner sprach es aus, aber alle dachten es, der Junge kann doch nicht mehr am Leben sein.

Über eine Stunde war vergangen, seit Sascha in den Bach gefallen war.

»Wenn wir ihn in den nächsten zwanzig Minuten finden und sofort unters Sauerstoffzelt legen, kann er noch gerettet werden«, sagte ein Sanitäter. Ein Krankenwagen stand längst bereit.

Wanda war gelähmt vor Angst. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, nicht mitsuchen, nicht sprechen. Sie saß im Gras und betete.

Um Mario kümmerte sich eine Nachbarin. Der Junge war verstört, weil er sich schuldig fühlte. Er hatte auf Sascha aufpassen sollen. Das hatte die Mutter ihm doch extra aufgetragen.

»Ich wollte ihn festhalten«, schluchzte Mario unter Tränen. »Aber da stand er schon im Wasser. Und plötzlich ist er weggerutscht.«