Wehmütige Erinnerungen - Marietta Brem - E-Book

Wehmütige Erinnerungen E-Book

Marietta Brem

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. »Bist du endlich fertig, Jascha? Wir müßten schon längst unterwegs sein!« Sabina Gerber fuhr sich mit den langen, sensiblen Fingern nervös durch die kupferfarbenen Locken, die ihr schmales, etwas bleiches Gesicht umspielten.»Sofort, Mutti«, kam die Antwort aus dem Kinderzimmer. »Ich muß nur noch meine Badehose einpacken und das Buch von Jules Verne. Vielleicht habe ich in diesem Urlaub endlich einmal Zeit, es zu lesen.Wenige Minuten später trat ein hochaufgeschossener elfjähriger Junge zur Tür heraus.Hand trug er eine rote Reisetasche, in der anderen einen braunen Lederkoffer.»Hast du auch nichts vergessen?Sabina Gerber runzelte die Stirn und betrachtete ihren Sohn nachdenklich.Er schüttelte den Kopf, und über sein schmales Gesicht lief ein spitzbübisches Grinsen. »Die Geige hat Vati schon mitgenommen.»Dann ist es ja gut. Haben wir sonst nichts vergessen? Überleg einmal, schließlich sind wir für mindestens drei Wochen verreist.Jascha zog die Nase kraus, auf der sich unzählige Sommersprossen befanden. »Den Strom hat Vati abgedreht, das Wasser auch.»Stimmt. Und die Blumen gießt Frau Wendling. Wir müssen ihr nur noch den Schlüssel geben.

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Sophienlust – 380–

Wehmütige Erinnerungen

Jascha musste oft an seine Eltern denken

Marietta Brem

»Bist du endlich fertig, Jascha? Wir müßten schon längst unterwegs sein!« Sabina Gerber fuhr sich mit den langen, sensiblen Fingern nervös durch die kupferfarbenen Locken, die ihr schmales, etwas bleiches Gesicht umspielten.

»Sofort, Mutti«, kam die Antwort aus dem Kinderzimmer. »Ich muß nur noch meine Badehose einpacken und das Buch von Jules Verne. Vielleicht habe ich in diesem Urlaub endlich einmal Zeit, es zu lesen.«

Wenige Minuten später trat ein hochaufgeschossener elfjähriger Junge zur Tür heraus. In der einen

Hand trug er eine rote Reisetasche, in der anderen einen braunen Lederkoffer.

»Hast du auch nichts vergessen?«

Sabina Gerber runzelte die Stirn und betrachtete ihren Sohn nachdenklich.

Er schüttelte den Kopf, und über sein schmales Gesicht lief ein spitzbübisches Grinsen. »Die Geige hat Vati schon mitgenommen.«

»Dann ist es ja gut. Haben wir sonst nichts vergessen? Überleg einmal, schließlich sind wir für mindestens drei Wochen verreist.«

Jascha zog die Nase kraus, auf der sich unzählige Sommersprossen befanden. »Den Strom hat Vati abgedreht, das Wasser auch.«

»Stimmt. Und die Blumen gießt Frau Wendling. Wir müssen ihr nur noch den Schlüssel geben.«

Entschlossen griff Frau Gerber nach ihrer Handtasche und dem kleinen Koffer, der ihre wichtigsten persönlichen Dinge enthielt. Dann eilte sie schnell noch ins Schlafzimmer.

»Fast hätte ich noch meine Geige vergessen«, rief sie und lachte dabei herzlich.

»Und mit mir wolltest du schimpfen. Oh, Mutti, du bist doch die Beste.« Rasch hauchte ihr Jascha einen Kuß auf die Wange, als Frau Gerber an ihrem Sohn vorbeihasten wollte.

»Oh, Jascha, wir zwei«, sagte sie lachend, aber ihre blauen Augen blieben ernst.

»Und Vati«, fügte der Junge hinzu und lachte ebenfalls.

»Ja, du hast recht. Wir drei, wir sind eine glückliche Familie.«

Herr Gerber pfiff eine fröhliche Melodie, während ihm der Schweiß in kleinen Rinnsalen über das Gesicht lief.

»Gibst du mir bitte ein Taschentuch, Binchen? Ich sehe schon fast nichts mehr.«

Liebevoll wischte Sabina Gerber ihrem Mann das Gesicht ab. »Wir hätten doch in der Nacht fahren sollen. Die Hitze ist ja mörderisch.«

»Halb so schlimm.« Felix Gerber verzog schon wieder die Lippen, um zu pfeifen. Er war ein fröhlicher Mensch, der es immer wieder verstand, andere Leute in seinen Bann zu ziehen. Sein dichtes, dunkles Haar stand in wirren Locken vom Kopf ab und verlieh ihm ein verwegenes, draufgängerisches Aussehen. Nur seine dunklen Augen verrieten etwas von der geheimen Schwermut, die ihn zeitweise befiel.

»Mir gefällt es bei Tag auch besser«, mischte sich Jascha ein, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Man sieht doch viel mehr von der Landschaft, und außerdem können wir nachher zum Mittagessen gehen, wenn wir einen hübschen Gasthof finden.«

»Dachte ich es mir doch, du Schlauberger.« Sabina Gerber griff im Auto nach hinten und ergriff ihren Sohn spielerisch bei seinem rotblonden Schopf.

»Jascha, du hast wieder einmal recht. Das genau waren auch meine Überlegungen!« rief Felix Gerber und lachte herzlich. Ihm gefiel dieses lustige Geplänkel, auf das auch Sabina nur zu gern einging.

Er warf seiner Frau einen kurzen Seitenblick zu. Ihr sonst so blasses Gesicht war von der Hitze gerötet, und eine kleine, rotgoldene Locke klebte an ihrer feuchten Schläfe. Übermütig blitzten ihre blauen Augen.

»Dann schmeckt euch also mein Essen nicht? Gut, daß ich das jetzt weiß. Dann dürft ihr ab sofort immer im Gasthaus essen. Mal sehen, wie lange euch das gefällt.«

»Ist doch gar nicht wahr, Binchen. Du kochst von allen am besten. Aber einmal sollst du dich auch ausruhen und dich von anderen bedienen lassen.« Seine Rechte tastete sich suchend zum Nebensitz.

Sabina Gerber ergriff die Hand und legte sie an ihre Wange.

Mit leuchtenden braunen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, beobachtete Jascha diese kleine Geste grenzenloser Vertrautheit.

»Vati hat ganz recht. Niemand kann so gut kochen wie du«, mischte auch er sich ein.

Spielerisch drohte Sabina mit dem Zeigefinger. »Ihr versteht es doch immer wieder, mich zu besänftigen.«

Dann konzentrierte sich Felix Gerber ganz auf die Fahrt, die meist durch üppig wogende, goldgelbe Felder führte oder vorbei an Obstplantagen, deren Bäume über und über voll mit saftigen Äpfeln, Birnen oder Zwetschgen hingen.

Sabina ging in Gedanken noch einmal durch ihre Wohnung und überlegte, ob sie auch nichts vergessen hatte. Als sie mit ihrer geistigen Wanderung im Schlafzimmer angekommen war, fiel ihr ein, daß das Bild, das sie sonst immer mitgenommen hatte, auf dem Nachttisch stehengeblieben war. Es zeigte sie, Felix und Jascha vor etwa vier Jahren, als ihr Sohn das erste Mal bei einem Gastspiel dabeigewesen war. Seitdem hatte sie die Fotografie überallhin mitgenommen, als Talisman.

Ein ungutes Gefühl beschlich Sabina. Hoffentlich hatte es nichts zu bedeuten.

Gegen vierzehn Uhr kamen sie in Maibach an. Über die Straßen waren Transparente gespannt, und überall waren Wegzeiger, die das große Sommerfest ankündigten.

»Schaut nur, dort hinten ist ein Jahrmarkt!« rief Jascha beglückt und zeigte auf den Marktplatz von Maibach, auf dem bunte Wagen, ein Riesenrad und viele Schaubuden aufgebaut waren.

»Wirklich, du hast recht, Junge«, stimmte der Vater zu. »Da werden wir in den nächsten Tagen sicher allerhand erleben. Es ist doch gut, daß ich die Idee hatte, unseren Urlaub dieses Mal hier zu verbringen.«

Sabina lachte und streichelte ihrem Mann über die Wange. »Komm nur wieder auf den Boden, mein Lieber. Zugegeben, es ist wunderbar hier, aber deshalb brauchst du heute nicht mit der Krawatte ins Bett zu gehen. Das darfst du erst, wenn unser Konzert heute abend ein Erfolg geworden ist.«

»Na, wenigstens etwas«, entgegnete ihr Mann befriedigt. »Wo ist denn das Hotel, in das wir uns eingemietet haben?«

»Erstens ist es kein Hotel, sondern ein Gasthof, und zweitens kannst du ja jemanden nach dem ›Goldenen Adler‹ fragen. Genügend Leute laufen ja hier herum.«

»Kluges Frauchen. Was würde ich nur anfangen ohne dich«, spöttelte Felix Gerber. Aber ein Fünkchen Ernst war doch in seinen Worten, denn so ehrlich war er sich selber gegenüber, daß er sich eingestand, daß er ohne Sabina verloren wäre.

Der Musiker war ein Familienvater, der nur glücklich war, wenn er all seine Lieben um sich vereint hatte.

»Gleich um die Ecke, dann stehen Sie direkt davor«, erklärte ein junger Mann und deutete in die Richtung, in der sie fahren mußten.

»Dort vorne ist es!« rief Jascha und griff sofort nach seinem Geigenkasten. »Endlich sind wir da. Ich kann schon gar nicht mehr sitzen.«

»Gleich werden wir uns erst einmal frisch machen, und dann nehmen wir ein gepflegtes Mittagessen ein«, bestimmte Felix und rieb sich vergnügt die Hände. Mit der gewohnten Sicherheit hatte er seinen Wagen in die letzte freie Parklücke hineinmanövriert und streckte sich jetzt mit einem wohligen Seufzer. Man merkte ihm die Strapazen der vergangenen Stunden nicht an. »Kommt, ihr zwei! Ich habe so einen Kohldampf, daß ich einen ganzen Ochsen verschlingen könnte.« Gutgelaunt warf der stattliche, gutaussehende Mann die Autotür zu.

Ächzend schob sich Jascha vom Rücksitz, denn seine Beine waren von dem langen Sitzen eingeschlafen.

»Gib mir deinen Geigenkasten, Schatz«, schlug Sabina vor und griff nach dem Behälter, in dem das wertvolle Musikinstrument sicher aufbewahrt wurde.

»Nein, danke, Mutti. Den nehme ich schon selbst.« Jascha gab sich einen Ruck und schwang seine langen, mageren Beine aus dem Auto. Ihm wurde fast ein bißchen schwindlig, als er endlich stand.

»Tatsächlich. Ich habe auch Hunger«, stellte er dann überrascht fest.

Seine Eltern lachten herzlich, und Sabina legte ihren freien Arm um die schmalen Schultern ihres Sohnes. »Das ist ein gutes Zeichen, Jakob«, neckte sie ihn, weil sie wußte, daß er seinen richtigen Vornamen nicht besonders mochte.

»Jascha«, verbesserte der Junge auch prompt.

So marschierte Familie Gerber einträchtig durch die Holztür, die leise quietschte, als Felix sie öffnete. Sie standen in einem düsteren, etwas muffig riechenden Gang.

»Wohin soll ich mich wenden?« fragte Felix und schaute sich suchend um. »Am besten gehe ich gleich in die Küche und sage denen, daß drei hungrige Wölfe angekommen sind.«

»Sei still, Felix«, flüsterte Sabina und legte ihren Zeigefinger an die hellrot geschminkten Lippen, »vielleicht hört dir jemand zu.«

»Na und? Wenn ich Hunger habe, dann darf das ruhig jeder wissen.«

»Guten Tag, die Herrschaften«, erklang da eine freundliche Männerstimme hinter ihnen. Schweratmend stand der wohlbeleibte Wirt hinter ihnen, dem man sofort ansah, daß er selbst sein bester Kunde war. Ein rundes Bäuchlein wölbte sich unter der grünen Schürze, und sein rotwangiges Gesicht strahlte vor satter Zufriedenheit.

»Wir sind angemeldet, Herr Wirt. Felix Gerber heiße ich, das ist meine Frau und der Bursche hier mein hoffnungsvoller Sohn«, übernahm Herr Gerber die Vorstellung.

Jascha grinste und kratzte sich verlegen am Kopf. Er war zwar nicht gerade menschenscheu, aber wenn er neue Leute kennenlernen sollte, dann bereitete ihm das doch meistens Schwierigkeiten.

»Ach, ich erinnere mich. Sie haben vor... etwa zwei Monaten?«

Felix nickte zustimmend. »Genau vor zwei Monaten und fünf Tagen.«

»Also gut, vor zwei Monaten und fünf Tagen, zwei Zimmer bestellt. Ein Doppelzimmer für Sie und die ­gnädige Frau.« Ein anerkennender Blick traf Sabina, die sich nur mit Mühe ein Lachen verbeißen konnte. »Ein Einzelzimmer für den Herrn Sohn.«

Max Sieber, der Wirt, war von Natur aus ein recht umständlicher Mensch, der sich zu gern reden hörte. Und wenn er einmal die Gelegenheit hatte, sich mit Fremden zu unterhalten, dann nützte er das auch aus.

Aber Felix knurrte der Magen, daß es fast schon nicht mehr auszuhalten war.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Sieber, wenn ich Sie unterbreche, aber könnten wir wohl noch etwas Warmes zu Essen bekommen? Wir sind seit heute früh unterwegs und haben nichts gegessen.«

»Natürlich wird noch etwas da sein. Es ist zwar schon ziemlich spät, aber meine Frau wird bestimmt etwas für Sie zusammenstellen, daß Sie zufrieden sind.«

Der Wirt zog ein großes, blaukariertes Taschentuch unter seiner Schürze hervor und wischte sich damit über die Stirn, auf der große Schweißperlen schon kleine Rinnsale bildeten.

»Setzen Sie sich nur einstweilen in die Gaststube. Meine Grete wird Ihnen gleich das Gewünschte bringen.«

Kaum eine halbe Stunde später brachte ihnen die Frau des Wirtes Steaks, Bratkartoffeln und eine große Schüssel mit grünem Salat.

Heißhungrig stürzten sich die drei auf das duftende Essen, und bald hatten sie alle Schüsseln geleert. Die rote Grütze, die ihnen die Frau appetitlich verziert auf einem großen Teller brachte, schafften sie nicht mehr ganz.

»Nichts geht mehr«, erklärte Jascha stöhnend und hielt sich seinen Bauch. »Wenn ich tief Luft hole, dann platze ich.«

»Sage mir vorher Bescheid, damit ich rechtzeitig in Deckung gehen kann«, meinte der Vater lächelnd und wischte sich mit der Serviette seine Finger ab.

»Es war phantastisch, das Essen«, lobte Sabina und seufzte tief auf. »Ich glaube, wir sollten in Zukunft wirklich öfter zum Essen gehen. Jetzt merke ich erst den Unterschied zwischen dem Gasthausessen und meiner unbeholfenen Kocherei.«

»Doch, es war wirklich gut, das muß man den Leuten hier lassen«, stimmte Felix zu. »Trotzdem kann keine Frau auf der ganzen Welt auch nur annähernd so gut kochen wie du.« Er lachte schallend. »Ich habe dich schon durchschaut, Mäuschen. Du angelst nach Komplimenten.«

»Ach, Felix, du sollst mich nicht dauernd ärgern«, tat sie ärgerlich, obwohl sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.

»Wie ich sehe, hat es geschmeckt«, stellte der Wirt kurze Zeit später fest und stellte die Teller zusammen.

»Es war ausgezeichnet.« Felix hielt sich seinen Bauch, so wie es vorhin schon sein Sohn getan hatte.

»Sicher werden Sie sich jetzt eine Weile ausruhen wollen. Heute abend ist doch das Konzert, zu dem ich übrigens auch gehen werde.«

»Das freut uns sehr, Herr Sieber. Ich habe einige Freikarten. Sie erlauben doch, daß wir Ihnen und Ihrer Frau als kleines Dankeschön für das ausgezeichnete Essen zwei schenken.«

»Danke, vielen Dank«, sagte der Wirt erfreut. »Wenn Sie möchten, dann werde ich Ihnen jetzt Ihre Zimmer zeigen. Ich hoffe, Sie werden auch damit zufrieden sein.«

»Ja, das hoffen wir auch. Wir möchten schließlich mindestens drei Wochen Urlaub hier verbringen.«

Im Gänsemarsch stiegen sie die frisch gewachste, knarrende Wendeltreppe hinauf.

»So, wir sind da.« Max Sieber schnaufte so heftig, daß Felix schon um das Leben des Gastwirtes fürchtete.

»Das ist das Doppelzimmer.« Er öffnete die erste Tür gleich am Anfang des Flures.

Es war ein heller, freundlicher Raum mit einem großen Fenster und bunten Gardinen, deren Hauptfarbe ein leuchtendes Rot war.

Der Wirt hatte die Koffer schon heraufgetragen und in die Mitte des Raumes gestellt.

»Am anderen Ende ist das Schlafzimmer des jungen Herrn«, sagte er freundlich und deutete mit einer einladenden Geste in die andere Richtung.

Der Vater runzelte die Stirn. »Warum am anderen Ende? Ich sagte das am Telefon, daß wir die Zimmer nebeneinander haben möchten.«

»Ja, ja, ich weiß es und ich habe auch alles versucht, um Ihre Wünsche zu berücksichtigen. Aber diese beiden Zimmer sind leider die einzigen, die jetzt, in der Ferienzeit, noch frei sind. Sie müssen wissen, daß unsere Gäste meist schon am Ende ihres Urlaubs gleich für das nächste Jahr reservieren lassen.«

»Es macht nichts, Vati. Wir brauchen unsere Zimmer sowieso nur zum Schlafen. Wir werden sicher den ganzen Tag unterwegs sein, und wenn wir doch einmal hier bleiben, dann kann ich ja mit zu euch kommen.«

Es war Jascha zwar ebenfalls nicht recht, daß er so weit von seinen Eltern entfernt sein Zimmer haben sollte, aber er ließ sich nichts anmerken, um ihnen den wohlverdienten Urlaub nicht zu verderben.

»Da hast du auch wieder recht, mein Sohn«, stimmte Felix zu. »Dann packen wir erst einmal unsere Koffer aus und ruhen uns ein bißchen aus, damit wir heute abend fit sind.«

Sabine strich Jascha zärtlich durch das wirre Haar und gab ihm noch rasch einen Kuß auf die Wange. »Vielleicht kannst du ein wenig schlafen. Bitte, gehe nicht auf Entdeckung, ohne uns vorher Bescheid zu sagen.«

»Na klar, Mutti. Ohne euch macht es mir doch gar keinen Spaß.« Erst jetzt merkte der Junge, wie müde er eigentlich war. Die lange Fahrt war ziemlich anstrengend gewesen.

Ohne noch einen Blick auf seinen Koffer zu werfen, legte er sich angezogen auf das Bett und war schon in den nächsten Minuten eingeschlafen.

*

»Machst du mir bitte den Reißverschluß zu?« Denise von Schoenecker hielt ihren Mann Alexander gerade noch am Ärmel seines Abendanzuges fest, der ihm ausgezeichnet stand. Gerade hatte er ihr gemeinsames Schlafzimmer verlassen wollen, um nach den Söhnen Nick und Henrik zu sehen.

Nick, Denises sechzehnjähriger Sohn aus erster Ehe mit Dietmar von Wellentin, war der Besitzer des Kinderheims Sophienlust, das Denise von Schoenecker bis zu seiner Volljährigkeit für ihn verwaltete. Sie tat das mit viel Liebe und einem großen Herzen, das für alle Sorgen und Nöte der kleinen Bewohner ein Plätzchen hatte.

Denise, die früher Tänzerin gewesen war und deshalb von der Familie ihres ersten Mannes nicht anerkannt wurde, hatte in ihrem Leben schon viel Schweres erlebt. Das war auch mit ein Grund, warum sie für andere Menschen, vor allem Kinder, so viel Mitgefühl entwickelte.

Der neunjährige Henrik war De­nises und Alexanders gemeinsamer Sohn. Er bewunderte seinen Halbbruder, aber er beneidete ihn auch um die Freiheiten, die Nick als der ältere zwangsläufig genoß.

»Jetzt können wir gehen, Schatz«, sagte Alexander von Schoenecker und küßte seiner Frau zärtlich den weißen Nacken. Sie hatte ihr schwarzes Haar hochgesteckt und mit einer funkelnden Blüte aus Diamanten und Saphiren geschmückt.

Alexander hatte sie ihr zum letzten Hochzeitstag geschenkt.

»Nick und Henrik sind bestimmt noch nicht fertig«, sagte sie und lachte dabei. »Man sagt immer, wir Frauen seien eitel, aber wenn die beiden einmal ausgehen dürfen, dann sind sie von dem Spiegel kaum wegzubekommen.«

Alexander warf einen kurzen Blick auf seine goldene Armbanduhr. »Es ist aber höchste Zeit, daß wir losfahren. Ich möchte nicht mit meiner Familie als letzter in den Saal einmarschieren.«

Rasch griff Denise nach ihrem silbernen Abendtäschchen, das wundervoll zu ihrem tiefblauen langen Samtkleid paßte, das betont schlicht gehalten war.

Bewußt hatte Denise auf zuviel Schmuck verzichtet und nur die passenden silbernen Ohrringe, die ebenfalls mit Diamanten und Saphiren besetzt waren, angelegt. Auch das silberne Armband paßte genau, und Alexander mußte wieder einmal den ausgezeichneten Geschmack seiner Frau bewundern.

»Ich bin schon lange fertig, Vati!« rief Henrik aus seinem Zimmer. »Nur in den Spiegel muß ich noch sehen, ob die Fliege auch richtig sitzt. Nick steht schon die ganze Zeit davor, und für mich ist überhaupt kein Platz mehr«, schmollte der hübsche, aufgeweckte Junge.

»Beeilt euch doch, Kinder. Mutti und ich sind fertig. Es ist doch immer das gleiche, daß wir auf euch warten müssen.«

Mit raschen, weit ausgreifenden Schritten marschierte Alexander zu dem großen Wandspiegel, vor dem Nick stand und sich zufrieden von allen Seiten betrachtete.

»So müßte dich Pünktchen sehen können«, sagte er vor sich hin. Er hatte nicht bemerkt, daß Alexander nähergekommen war.

Pünktchen war eines der Dauerkinder von Sophienlust. Ihre Eltern waren bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen. Danach war Angelina Dommin, wie das Mädchen mit seinem richtigen Namen hieß, einfach davongelaufen. Nick hatte sie gefunden und ins Kinderheim gebracht.

Seitdem träumte Pünktchen davon, einmal Nicks Frau zu werden.

Auch Nick mochte das hübsche dreizehnjährige Mädchen mit den blauen Augen und dem weizenblonden Haar, das wegen seiner unzähligen Sommersprossen von allen nur Pünktchen genannt wurde.