Bekenne dich zu deinem Kind - Elisabeth Swoboda - E-Book

Bekenne dich zu deinem Kind E-Book

Elisabeth Swoboda

5,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. »Hier kann man nicht ordentlich Drachen steigen lassen«, maulte Henrik von Schoenecker, »die Spielwiese von Sophienlust ist einfach zu klein. Wir sind uns gegenseitig im Weg. Kein Wunder, dass sich Fabians und Robbys Schnüre verheddert haben.« »Drachen kaputt«, klagte der knapp drei Jahre alte Robert Geranek. Er befand sich erst seit wenigen Tagen in Sophienlust, doch er hatte auf Anhieb Anschluss an die anderen Kinder gefunden, obwohl sie alle älter als er waren. »O nein, er ist nicht kaputt«, tröstete Pünktchen, die sich gerne der jüngeren Kinder annahm. Mit vollem Namen hieß sie Angelina Dommin. Die vielen Sommersprossen, die auf ihrem hübschen Näschen tanzten, hatten ihr den Spitznamen Pünktchen eingetragen. »Wir müssen bloß die Schnüre entwirren, dann ist dein Drachen wieder in Ordnung. Soll ich dir dabei helfen?« »Lieb von dir, Pünktchen, aber das übernehme ich«, erklärte August Dürnauer. Robbys Vater war heute zu einem kurzen Besuch in das Kinderheim gekommen, um sich von dem Wohlergehen seines Sohnes zu überzeugen. Er kauerte sich neben seinen Sprössling ins Gras. Gemeinsam mit Henrik und Fabian Schöller mühte er sich ab, die ineinander verwickelten Schnüre der beiden Drachen wieder zu entflechten. Robby sah zu und zappelte vor Ungeduld. Mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen glich er seinem Vater kaum, August Dürnauer war dunkelhaarig und hatte dunkle Augen.

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Sophienlust (ab 300) – 394–

Bekenne dich zu deinem Kind

Ein Vater in Gewissensnöten ...

Elisabeth Swoboda

»Hier kann man nicht ordentlich Drachen steigen lassen«, maulte Henrik von Schoenecker, »die Spielwiese von Sophienlust ist einfach zu klein. Wir sind uns gegenseitig im Weg. Kein Wunder, dass sich Fabians und Robbys Schnüre verheddert haben.«

»Drachen kaputt«, klagte der knapp drei Jahre alte Robert Geranek. Er befand sich erst seit wenigen Tagen in Sophienlust, doch er hatte auf Anhieb Anschluss an die anderen Kinder gefunden, obwohl sie alle älter als er waren.

»O nein, er ist nicht kaputt«, tröstete Pünktchen, die sich gerne der jüngeren Kinder annahm. Mit vollem Namen hieß sie Angelina Dommin. Die vielen Sommersprossen, die auf ihrem hübschen Näschen tanzten, hatten ihr den Spitznamen Pünktchen eingetragen. »Wir müssen bloß die Schnüre entwirren, dann ist dein Drachen wieder in Ordnung. Soll ich dir dabei helfen?«

»Lieb von dir, Pünktchen, aber das übernehme ich«, erklärte August Dürnauer. Robbys Vater war heute zu einem kurzen Besuch in das Kinderheim gekommen, um sich von dem Wohlergehen seines Sohnes zu überzeugen. Er kauerte sich neben seinen Sprössling ins Gras. Gemeinsam mit Henrik und Fabian Schöller mühte er sich ab, die ineinander verwickelten Schnüre der beiden Drachen wieder zu entflechten.

Robby sah zu und zappelte vor Ungeduld. Mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen glich er seinem Vater kaum, August Dürnauer war dunkelhaarig und hatte dunkle Augen.

»Drachen kaputt«, wiederholte Robby, als die Bemühungen seines Vaters und der beiden Jungen nicht gleich den gewünschten Erfolg zeitigten.

»Am besten wird sein, ich hole eine Schere und wir machen kurzen Prozess«, meldete sich Dominik von Wellentin-Schoenecker, kurz Nick genannt, zu Wort. Er war der eigentliche Besitzer des alten Herrenhauses, in dem das Kinderheim untergebracht war, und der dazugehörigen Parkanlagen. Da er noch minderjährig war, verwaltete seine Mutter Denise das Heim. Allerdings fühlte Nick sich bereits jetzt für dessen jugendliche Bewohner mitverantwortlich.

»Ja, ich bin ebenfalls für eine Gewaltkur mit einer Schere«, pflichtete August Dürnauer Nick bei. »Aber dann bräuchten wir neue Leinen.«

»Ach, davon haben wir im Bastelzimmer genug«, rief Henrik, sprang auf und eilte zum Herrenhaus.

»Henrik lauft davon«, kommentierte Robby den plötzlichen Abgang von Nicks Halbbruder.

»Er wird gleich wieder da sein«, sagte Pünktchen schmunzelnd. »Henrik ist ziemlich ungeduldig. Mich wundert, dass er nicht als Erster auf die Idee mit der Schere gekommen ist.«

Der Junge kehrte tatsächlich in Windeseile zurück, bewaffnet mit einer großen Schere und zwei Garnknäueln. Im Nu waren die alten Schnüre der Drachen abgeschnitten und die neuen befestigt.

»Drachen können wieder fliegen«, rief Robby und klatschte die Hände.

»Aber nicht hier«, ließ Fabian sich vernehmen. »Gehen wir doch zu den Weiden vom Lechnerbauern. Dort haben wir viel mehr Platz.«

»Dein Vorschlag ist einstimmig angenommen«, sagte Nick nach einem kurzen Blick in die Runde. »Kommen Sie mit, Herr Dürnauer?«

»Nein, ich habe leider keine Zeit mehr. Ich muss nach Hause«, erwiderte Robbys Vater bedauernd. »Aber ich begleite euch ein Stück. Ihr werdet doch auf Robby aufpassen?«

»Selbstverständlich achten wir auf unseren Jüngsten«, versicherte Pünktchen. »Wir lassen unsere Drachen dort steigen, wo keine Gefahr droht.«

»Ich sage Schwester Regine rasch Bescheid, dass wir weggehen«, erklärte Irmela Groote, die mit ihren fünfzehn Jahren das älteste Mädchen war. »Wartet bitte auf mich.«

Kurze Zeit später marschierte die kleine Gruppe durch den Wald. Regine Nielsen, die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust, hatte sich den Drachensteigern angeschlossen. Dafür waren einige Kinder im Heim geblieben, weil ihnen eingefallen war, dass sie bis morgen noch einige wichtige Schulaufgaben zu erledigen hatten.

Bei einer Weggabelung verabschiedete sich August Dürnauer von seinem kleinen Sohn, den übrigen Kindern und Regine Nielsen.

Robby winkte seinem Vater fröhlich nach, dann griff er vertrauensvoll nach Schwester Regines Hand und trippelte an ihrer Seite weiter, so schnell es seine kleinen Beinchen erlaubten.

Pünktchen und Irmela bildeten die Nachhut. Sie hatten allerlei miteinander zu tuscheln, was nicht für die Ohren der Kleineren bestimmt war.

»Ich finde Robbys Vater riesig nett«, vertraute Pünktchen der Freundin im Flüsterton an. »Man merkt ihm an, wie gern er seinen kleinen Sohn hat.«

»Trotzdem tut mir Robby leid«, entgegnete Irmela. »Er hat seine Mutter verloren und … Na ja, sein Vater besucht ihn zwar häufig oder hat zumindest versprochen, dass er oft kommen wird, aber er scheint nicht viel Zeit zu haben.«

»Er hat nur so wenig Zeit, weil seine Frau nichts erfahren darf«, platzte Pünktchen heraus.

»Ah, Herr Dürnauer ist demnach verheiratet«, schloss Irmela.

»Ja. Ich sollte eigentlich nichts von dem, was Nick mir erzählt hat, weitersagen …« Pünktchen stockte und schien nicht gesonnen, fortzufahren.

»Sprich weiter«, forderte Irmela das jüngere Mädchen auf. »Es ist gemein, erst Andeutungen fallen zu lassen und dann nicht mit der Sprache herauszurücken.«

»Ich weiß ja selbst nichts Genaues.«

»Immerhin weißt du von uns allen stets am besten über die Vorgänge in Sophienlust Bescheid«, fiel Irmela Pünktchen ungeduldig ins Wort. Es war ein offenes Geheimnis, dass Nick und Pünktchen einander besonders gut verstanden und dass Angelina davon träumte, eines Tages Nicks Frau zu werden. Sie genoss eine Art Sonderstellung in Sophienlust und wurde auch oft nach Gut Schoeneich, dem Wohnsitz der Familie von Schoenecker, eingeladen. Diese Tatsache nahmen die übrigen Kinder von Sophienlust als Selbstverständlichkeit hin. Sie beneideten Pünktchen nicht, aber sie wollten von dem Mädchen über außergewöhnliche Vorfälle eingeweiht werden. Insbesondere Irmela legte darauf großen Wert. »Also rück schon heraus mit deinem Wissen«, bat sie.

»Nun, Robert Geranek ist ein uneheliches Kind …«

»Ja, ja, das ist mir bekannt.«

»Und dass Robbys Mutter im Juni an einer zu spät erkannten Blinddarmentzündung gestorben ist, ist dir ebenfalls bekannt.«

»Ja, natürlich. Das hat Tante Isi uns erzählt. Und auch, dass Robby den Sommer über bei seiner Tante war, der es jedoch zu viel geworden ist, weil sie drei eigene Kinder hat. Deshalb hat sich Robbys Vater nach einem geeigneten Platz umgesehen, wo der Kleine bleiben kann, bis er die Schule hinter sich hat. Das bedeutet, dass Robby noch viele Jahre bei uns leben wird. Aber kommen wir endlich zur Sache. Warum haben Robbys Eltern nicht geheiratet?«

»Dumme Frage. Weil der Vater schon verheiratet war, deshalb. Seine Frau darf nichts von Robbys Existenz erfahren. Das hat Nick mir erzählt. Einzelheiten wusste er selbst nicht. Wie die Erwachsenen nun einmal sind: Interessante Dinge besprechen sie untereinander. Wir erfahren bloß das bisschen, das wir so aufschnappen. Nicht einmal Tante Isi bildet in dieser Beziehung eine Ausnahme.«

Irmela nickte nachdenklich. Tante Isi, das war Denise von Schoenecker, Nicks und Henriks Mutter. Sie war sowohl bei ihren eigenen Kindern als auch bei den Bewohnern von Sophienlust ungeheuer beliebt, aber es ließ sich nicht ableugnen, dass sie eine sehr diskrete Frau war und nie etwas an die große Glocke hängte. »Hm, Tante Isi denkt sich sicherlich etwas dabei, wenn sie uns nicht immer alles auf die Nase bindet«, meinte Irmela. »Vor allem in diesem Fall. Wenn Frau Dürnauer nichts von Robby erfahren darf, dann ist es klüger, möglichst wenig über die ganze Geschichte zu reden.«

»Na, und was tun wir beide gerade? Wir benehmen uns wie zwei alte Tratsch­weiber.«

»Ach Pünktchen, wir sind doch unter uns. Niemand hört uns zu.« In der Tat waren Schwester Regine und die übrigen schon ein gutes Stück voraus. »Konntest du sonst noch irgendetwas über Robby in Erfahrung bringen?«

»Nein, nichts. Nick ist der Meinung, dass die Bombe eines Tages platzen wird, doch diese Vermutung hat er wohlweislich für sich behalten.«

»Welche Bombe? Welche Bombe?«

»Irmela, stell dich doch nicht so dumm an. Nick meinte, dass Herr Dürnauer nicht auf ewig seiner Frau die Existenz seines Sohnes wird verheimlichen können. Schließlich wohnen sie ebenfalls in Wildmoos, gar nicht weit von Sophienlust entfernt. Stell dir vor, seine Frau wäre uns vorhin begegnet, in dem Augenblick, als Robby von seinem Vater zärtlich Abschied nahm.« Diese Vorstellung erschien Pünktchen äußerst komisch, sie musste kichern.

Auch Irmela lachte verhalten.

Die Weidegründe des Lechnerbauern waren für das Vorhaben der Kinder in der Tat geeigneter als die Parkanlagen von Sophienlust. Hier standen ihnen keine Bäume beziehungsweise Sträucher im Weg, und sie brauchten auch nicht auf Blumenbeete zu achten. Die grasende Kuhherde hielt sich in der Nähe des Waldrandes auf, sodass den Kindern auf der weitläufigen Fläche genügend Spielraum blieb.

Ein leichter Wind wehte, gerade richtig zum Drachen steigen lassen. Der Himmel war tiefblau. Die klare Luft und vereinzelte gelb gefärbte Blätter waren Anzeichen des nahen Herbstes.

»Was für eine wunderbare Aussicht man von hier aus hat«, meinte die Kinderschwester. »Man sieht hinunter aufs Dorf, der Kirchturm scheint zum Greifen nahe.«

»Aber Sophienlust sieht man nicht«, kritisierte die fünfjährige Heidi Holsten. Als eines der jüngsten Kinder von Sophienlust wurde sie von den Größeren oft verhätschelt. Seit Robby in dem Kinderheim lebte, fühlte sie sich allerdings ein wenig zur Seite geschoben. Ihrem sonnigen Wesen tat dies keinen Abbruch, aber gänzlich konnte sie ihre Eifersucht auf den Neuling nicht unterdrücken. Auch jetzt, als Schwester Regine Robby hochhob, damit er ebenfalls die schöne Aussicht genießen konnte, schmiegte sie sich an die junge Frau und bettelte: »Nimm mich auch hoch. Ich will Sophienlust sehen.«

»Dein Zuhause kannst du von hier aus nicht erblicken«, erklärte die junge Frau freundlich. »Da sind zu viele Bäume dazwischen.«

»Trotzdem will ich hochgehoben werden. Du kümmerst dich nur noch um Robby, Schwester Regine. Mich schaust du überhaupt nicht mehr an«, jammerte das kleine Mädchen.

»Sei bitte vernünftig, Heidi. Robby ist zwei Jahre jünger als du. Außerdem ist er neu bei uns. Da ist es doch klar, dass Schwester Regine sich in erster Linie mit ihm befasst«, belehrte Irmela die Kleine.

Heidi rümpfte ihr Stupsnäschen und schob die Unterlippe vor.

»Na komm, sei nicht beleidigt«, bat Nick. »Ich werde dich hochheben.« Er übergab den prächtigen, selbst gebastelten Drachen, von dem er hoffte, dass er am höchsten fliegen würde, seinem Halbbruder, fasste Heidi um die Taille und stemmte sie hoch. »Siehst du jetzt den Kirchturm?«, erkundigte er sich.

»Ja, den Kirchturm sehe ich schon«, erwiderte Heidi. »Aber ich möchte auch den Turm von Gut Schoeneich sehen. Wo ist der?«

»Gut Schoeneich ist wie Sophienlust auch durch einen Waldstreifen verborgen. Wenn wir die beiden Herrenhäuser von oben betrachten wollen, müssen wir noch ein gutes Stück höher den Hügel hinaufsteigen. Aber ich dachte, wir sind hergekommen, weil wir unsere Drachen erproben wollen.«

»Sehr richtig«, stimmte Henrik seinem großen Bruder zu. Ihm lag wenig an der schönen Aussicht, er war voller Tatendrang. »Ich bin überzeugt, dass dein Drachen Sieger wird, Nick«, sprudelte er hervor. »Schließlich habe ich dir beim Basteln geholfen.«

»Euer Drachen muss ja ein wahres Meisterwerk sein«, äußerte Irmela.

Henrik war der leise Spott in ihren Worten entgangen, er nickte eifrig. »Ja, so einen tollen Drachen wie den hier hatten wir noch nie«, verkündete er arglos. »Gefällt dir die Bemalung, Irmela? Seine giftgrünen Augen? Und wie er bedrohlich die Zähne fletscht?«

»Tja, er schaut tatsächlich zum Fürchten aus«, bestätigte das Mädchen. »Aber wer weiß, ob ihr ihn überhaupt in die Luft kriegt. Die einzigen Drachen, die bisher ihre Flugtauglichkeit bewiesen haben, sind die von Fabian und Robby.«

»Wir werden dir gleich beweisen, dass er fliegt«, erklärte Henrik mit blitzenden Augen. »Schwester Regine! Heidi! Habt ihr noch immer nicht genug von der schönen Aussicht?«

»Doch, ich schon«, erwiderte Heidi.

Nick ließ das kleine Mädchen sanft zu Boden gleiten. Schwester Regine tat das Gleiche mit Robby. Ursprünglich hatten die Kinder vorgehabt, sich auf dem weiten Grundstück zu verteilen und sämtliche vorhandenen Drachen gleichzeitig zu starten. Angesichts Henriks großspuriger Bemerkungen beschlossen sie jedoch, abzuwarten und erst einmal gemeinsam den Höhenflug von Nicks Prachtstück zu beobachten, womit Henrik natürlich einverstanden war. Er dachte nicht im Entferntesten daran, dass ihm und seinem Halbbruder eine Blamage bevorstehen könnte. Schließlich hatten sie schon in den Jahren zuvor stets zu Ende des Sommers selbst gebastelte Drachen in die Lüfte geschickt, und noch nie hatten sie dabei eine Pleite erlebt.

Nick ging auch diesmal so vor, wie bei früheren erfolgreichen Startversuchen. Er zog die Windrichtung und stärke in Betracht, wickelte ein Stück Leine ab, wartete einen Windstoß ab, rannte, so schnell er konnte, doch das so fantasievoll bemalte Meisterwerk wollte und wollte sich nicht in der Luft halten, von einem Höhenflug ganz zu schweigen. Nach wenigen Sekunden klatschte es mit einem unschönen Plumps ins Gras. Nick wiederholte die Startversuche einige Male, bis er schließlich mit schweißüberströmter Stirn aufgab.

»Irgendetwas machst du falsch«, beschuldigte Henrik seinen Bruder.

»Dann mach du es doch richtiger«, keuchte Nick und übergab Henrik den Drachen.

Anfangs war sich Henrik noch sicher, dass es ihm glücken würde, doch bald kapitulierte auch er. Völlig außer Puste klagte er: »Warum will dieses blöde Ding nicht in der Luft bleiben?«

»Vielleicht ziehen ihn die gefletschten Zähne immer wieder zur Erde zurück«, stichelte Irmela.

»Oder der Himmel fürchtet sich vor ihm, weil ihr ihn so grausig bemalt habt«, schlug Fabian in die gleiche Kerbe wie Irmela.

»Blödsinn. Die Bemalung kann nicht schuld sein«, knurrte Henrik. »Nick, sag etwas. Was meinst du?«

Der ältere Junge zuckte ratlos mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist uns ein Konstruktionsfehler unterlaufen«, mutmaßte er.

Den kleinen Robby interessierte die Diskussion um Nicks umstrittenes Flugobjekt längst nicht mehr. Er zeigte auf seinen eigenen Drachen, den Pünktchen in der Hand hielt und forderte: »Fliegen lassen!«

»Sofort, Robby«, versprach Pünktchen lachend. »Wir lassen ihn hoch in den Himmel segeln. Er wird uns bestimmt nicht enttäuschen«, fügte sie mit einem mutwilligen Seitenblick auf Henrik hinzu.

»Kunststück«, murrte Henrik. »Robbys Drachen ist ja nicht selbst gebastelt, der ist in einem Spielzeugladen gekauft.«

Angelina Dommin zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Auch die übrigen Kinder kümmerten sich nicht mehr um Henrik und seinen Verdruss. Sie brannten darauf, sämtliche mitgebrachten Drachen auszuprobieren.

Ungefähr eine halbe Stunde später segelten die verschiedensten Gebilde am tiefblauen Himmel. Abgesehen von Nicks Drachen hatten alle die Prüfung bestanden.

»So eine Pleite«, knurrte Henrik. »Alle fliegen. Nur ausgerechnet unserer nicht. Pünktchen und die anderen werden uns noch wochenlang frotzeln.«

»Nicht, wenn du den Mund hältst und dir nicht anmerken lässt, wie sehr dich die Sache wurmt«, sagte Nick, der die Fluguntauglichkeit seiner Bastelarbeit gelassener hinnahm als Henrik.

»Es fällt mir schwer, mich zu verstellen«, seufzte der Jüngere. »Mich ärgert es maßlos, dass das blöde Ding immer wieder wie ein Mehlsack herunterplumpst. Du hast doch nicht vielleicht irrtümlich anstelle der Holzstäbchen Eisenstäbe verwendet?«

»Nein, natürlich nicht. Schau, Robbys Adler steigt am höchsten. Er ist winzig klein, man sieht ihn kaum mehr.«

»Ja, wirklich. Hoffentlich lässt Robby das Seil nicht los. Ich muss hin und ihm helfen.«

»Ja, tu das«, bestärkte Nick seinen Bruder. Er selbst schlenderte zu Pünktchen hinüber und fragte sie, ob sie am nächsten Tag mit ihm ausreiten wolle.

»O ja, riesig gern«, erwiderte das Mädchen fröhlich.

*

Bei der Familie Dürnauer herrschte keine solche Harmonie wie unter den Kindern von Sophienlust. Als August, das Familienoberhaupt, am Abend nach Hause kam, fand er lediglich seinen Sohn Guido vor, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher kauerte und Kartoffelchips in sich hineinstopfte.

»Hallo, Guido«, begrüßte der Mann seinen Sprössling.

»Hallo, Vati«, erwiderte der Junge den Gruß, ohne den Blick von der Flimmerkiste zu lösen. Er zählte sieben Jahre und war für sein Alter ziemlich groß. Er wäre ein hübsches Kind gewesen, wenn in seinen blauen Augen nicht der verdrossene Ausdruck gelegen hätte und wenn seine Gesichtsfarbe kräftiger gewesen wäre.

»Seit wann interessierst du dich für Damenmode?«, fragte August verwundert, nachdem er ebenfalls eine Weile auf den Bildschirm gestarrt hatte.

»Ich interessiere mich nicht dafür. Aber es kommt sonst nichts Gescheites. Im anderen Programm quatschen irgendwelche Politiker«, erwiderte der Junge und schob sich eine Handvoll Chips in den Mund.

»Auf die Idee, die Flimmerkiste abzuschalten, bist du wohl noch nicht gekommen.«

Guido überhörte diese Bemerkung seines Vaters und griff neuerlich in die Tüte mit den Knabbereien.

»Schluss jetzt.« Energisch drückte August auf den Knopf des Fernsehers. Das Bild verschwand. Guido seufzte und rappelte sich auf.

»Wie steht es mit deinen Hausaufgaben?«, erkundigte sich der Mann.

»Alles erledigt. Willst du sie sehen?«

»Ja, unbedingt.«

Guido brachte seine Schulhefte, die sein Vater kontrollierte. Sie waren in Ordnung. August öffnete den Mund, in der Absicht, seinen Sohn zu loben, doch die Kaugeräusche gingen ihm so auf die Nerven, dass er anstatt des Lobes ungeduldig ausrief: »Musst du ununterbrochen essen?«

»Ich esse nicht ununterbrochen«, verteidigte sich der Junge. »Ich habe zu Mittag bloß einen Teller Suppe gehabt. Seither habe ich nichts mehr zu mir genommen, bis auf die Chips. Die habe ich mir aus der Küche geholt, von unserem Knabbervorrat. Aber ich war halt schon so schrecklich hungrig. Ich habe auch aufgepasst, dass keine Krümel auf den Teppich fallen.«

»Ist ja schon gut, Zwerg.« August strich dem Buben über sein leicht gewelltes blondes Haar.

»Ich bin kein Zwerg mehr«, verwahrte sich Guido. Solange er sich zurückerinnern konnte, hatte sein Vater ihn mit diesem Kosenamen angesprochen.

»Stimmt, allmählich wächst du zu einem Riesen heran«, meinte August schmunzelnd. »Die Chips scheinen bei dir anzuschlagen. Aber im Ernst, du brauchst ordentliche Mahlzeiten. Mutti ist wohl noch nicht zu Hause?«

»Nein. Heute ist doch die Besprechung für das Erntedankfest. Hast du das vergessen?«

»Nein«, entgegnete der Mann einsilbig, runzelte leicht die Stirn und verfiel ins Grübeln.

»Was ist los, Vati?«, fragte Guido leicht besorgt.

»Nichts. Ich bin nur ebenfalls hungrig.«

»Möchtest du?« Guido hielt seinem Vater die Tüte mit den restlichen Chips hin.

»Nein, danke. Mir steht der Sinn nach einer warmen Mahlzeit. Wir wollen mal in der Küche nachsehen. Vielleicht hat Mutti außer der Suppe noch etwas anderes vorbereitet.«

»Nein, hat sie nicht«, machte Guido die Hoffnung seines Vaters zunichte. »Der Kühlschrank ist leer. Nicht einmal Eier sind mehr da. Sonst hätte ich mir nämlich eine Portion Rühreier gebacken. Das kann ich schon, es ist nicht schwer. Man darf nur nicht vergessen, Fett in die Pfanne zu tun. Butter ist auch keine mehr da. Brot haben wir noch genug, aber es ist schon ziemlich hart.«

»Hm. Weißt du was? Wir machen einen Spaziergang zum ›Grünen Krug‹ und bestellen uns dort ein ausgiebiges Nachtmahl«, schlug August seinem Sohn vor.

»Au fein! Prima! Aber …, aber sollten wir nicht auf Mutti warten? Sie wird doch auch hungrig sein, wenn sie von der Vereinssitzung nach Hause kommt.«

Dann soll sie eben mit dem harten, trockenen Brot vorliebnehmen, lag es dem Mann auf der Zunge. Er sagte jedoch bloß: »Wer weiß, wann Mutti nach Hause kommt. Bis dahin haben wir womöglich vor lauter Hunger sämtliche Knabbervorräte aufgefuttert. Nein, du musst etwas Warmes in den Magen bekommen.«