Sophienlust 398 – Familienroman - Elisabeth Swoboda - E-Book

Sophienlust 398 – Familienroman E-Book

Elisabeth Swoboda

5,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. "Wunderschön ist der Schal." Andächtig strich Pünktchen mit den Fingerspitzen über das kobaltblaue, mit Goldfarbe bedruckte Seidengewebe. "Ich finde es riesig nett von deiner Mutter, dass sie dich so mit Geschenken verwöhnt." "Hm", brummte Irmela, die Besitzerin des Schals. Sie war Halbwaise. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter ein zweites Mal geheiratet. Irmela hatte mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den Stiefvater rebelliert, doch allmählich war ihr Widerstand erlahmt, da sie die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes eingesehen hatte. Sie hatte sich mit den Tatsachen abgefunden. Dennoch war sie froh, dass sie nicht bei Mutter und Stiefvater in Mumbai leben musste, sondern in Deutschland bleiben durfte. In dem Kinderheim Sophienlust hatte sie so etwas wie eine zweite Heimat gefunden. Sie wusste, dass sie besser dran war als viele der anderen jugendlichen Bewohner des Heims. Pünktchen zum Beispiel war Vollwaise, sie hatte ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren. "Ich freu mich ja, dass meine Mutter an mich denkt und mir hübsche Sachen und reichlich Taschengeld schickt", gab Irmela ihren Überlegungen Ausdruck. "Lieber wäre mir allerdings, wenn sie nicht wieder geheiratet hätte, oder wenigstens nicht diesen …, aber lassen wir das. Der Schal ist wirklich schön, er passt ausgezeichnet zu meinem neuen Kleid." Wohlgefällig betrachtete sich das große blonde Mädchen im Spiegel. Pünktchen und Irmela befanden sich im sogenannten Nähzimmer. Außer zwei Nähmaschinen und etlichen Wandschränken gab es hier auch einen großen Spiegel, vor dem sich Irmela jetzt hin und her drehte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 153

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust (ab 351) – 398–

Ist meine Omi nicht fabelhaft?

Tilly und ihre seltsame Familie bringen Sophienlust zum Staunen ...

Elisabeth Swoboda

»Wunderschön ist der Schal.«

Andächtig strich Pünktchen mit den Fingerspitzen über das kobaltblaue, mit Goldfarbe bedruckte Seidengewebe. »Ich finde es riesig nett von deiner Mutter, dass sie dich so mit Geschenken verwöhnt.«

»Hm«, brummte Irmela, die Besitzerin des Schals. Sie war Halbwaise. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter ein zweites Mal geheiratet. Irmela hatte mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den Stiefvater rebelliert, doch allmählich war ihr Widerstand erlahmt, da sie die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes eingesehen hatte. Sie hatte sich mit den Tatsachen abgefunden.

Dennoch war sie froh, dass sie nicht bei Mutter und Stiefvater in Mumbai leben musste, sondern in Deutschland bleiben durfte. In dem Kinderheim Sophienlust hatte sie so etwas wie eine zweite Heimat gefunden. Sie wusste, dass sie besser dran war als viele der anderen jugendlichen Bewohner des Heims. Pünktchen zum Beispiel war Vollwaise, sie hatte ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren.

»Ich freu mich ja, dass meine Mutter an mich denkt und mir hübsche Sachen und reichlich Taschengeld schickt«, gab Irmela ihren Überlegungen Ausdruck. »Lieber wäre mir allerdings, wenn sie nicht wieder geheiratet hätte, oder wenigstens nicht diesen …, aber lassen wir das. Der Schal ist wirklich schön, er passt ausgezeichnet zu meinem neuen Kleid.« Wohlgefällig betrachtete sich das große blonde Mädchen im Spiegel.

Pünktchen und Irmela befanden sich im sogenannten Nähzimmer. Außer zwei Nähmaschinen und etlichen Wandschränken gab es hier auch einen großen Spiegel, vor dem sich Irmela jetzt hin und her drehte. Dabei zog sie ihren ohnehin nicht vorhandenen Bauch ein und straffte die Schultern.

»Gut, dass dich keiner von den Jungen beobachtet«, bemerkte Pünktchen trocken. »Sie würden dir Eitelkeit vorwerfen.« Irmela lachte, nahm den Schal von ihrem Hals, drapierte ihn um die Hüften und band ihn zu einer Schleife.

»Sieht toll aus«, kommentierte Pünktchen, seufzte ein wenig und strich sich eine helle Haarsträhne aus der Stirn.

Beide Mädchen waren blond und besaßen eine zarte, rosig angehauchte Haut. Hier endete aber auch schon die Ähnlichkeit zwischen ihnen. Irmela war zwei Jahre älter und ein gutes Stück größer als Pünktchen. Auf ihrem schmalen Gesicht lag meist ein ernster Ausdruck, während in Pünktchens blauen Augen ein heiteres Funkeln steckte, das sich beim geringsten Anlass in ein fröhliches Lachen verwandelte. Die vielen Sommersprossen, die dem jüngeren Mädchen seinen Spitznamen eingetragen hatten, passten hervorragend zu dem kleinen Stupsnäschen. In Wirklichkeit hieß Pünktchen Angelina Dommin, doch abgesehen von den Lehrern im Gymnasium wurde sie nur selten so angesprochen.

Irmela war der Seufzer ihrer Freundin nicht entgangen. Plötzlich kam sie sich egoistisch vor. Da protzte sie mit ihrem neuen Schal, und Pünktchen musste zusehen und hatte niemanden, von dem sie ein derartiges Geschenk erwarten konnte. Flüchtig kam Irmela der Gedanke, den Schal der Freundin zu schenken. Wenn er nur nicht so gut zu ihrem besten Sommerkleid gepasst hätte. Nach einigen Sekunden scharfen Nachdenkens fand Irmela einen Kompromiss. »Ich werde meiner Mutter schreiben, mich für den Schal bedanken und sie bitten, dass sie mir einen zweiten schickt. Für dich«, beschloss sie.

»Für mich? O nein, das darfst du nicht machen«, widersprach das sommersprossige Mädchen heftig. »Wie käme denn deine Mutter dazu, mir einen Schal zu schenken? Ich …, ich will ihn nicht. Ich will deine Mutter nicht anbetteln.«

»Aber Pünktchen, das siehst du ganz falsch«, versuchte Irmela die Freundin zu überzeugen. »Diese Dinger sind in Indien bestimmt spottbillig.«

Pünktchen schüttelte halsstarrig den Kopf.

Nun war Irmela diejenige, die einen langen Seufzer ausstieß. »Der Schal passt so fantastisch zu dem Kleid«, murmelte sie. »Aber wenn du ihn gerne möchtest …«

»Nein, auf keinen Fall«, fiel Pünktchen dem größeren Mädchen ins Wort. »Es ist dein Schal. Ich gebe ja zu, er gefällt mir, und ich bin ein bisschen neidisch, aber ich wollte dir keinesfalls die Freude daran verderben. Das – das wäre doch richtig ekelhaft von mir.«

»Was soll ich bloß machen?«, seufzte Irmela. »Es ist mir schon klar, dass du mir die Freude nicht verderben willst, aber irgendwie hab ich ein schlechtes Gewissen.«

»Weil du einen Seidenschal besitzt und ich nicht? Das ist ja lächerlich!«, rief Pünktchen und lachte tatsächlich.

Irmelas Miene blieb jedoch betrübt. »Warum erlaubst du mir nicht, dass ich meine Mutter um einen zweiten bitte?«, fragte sie.

»Du kannst deine Mutter um so viele Schals bitten, wie du möchtest, aber ich nehme keinen«, erklärte Pünktchen. »Deine Mutter kennt mich nicht einmal.«

»O doch, sie kennt dich. Aus meinen Briefen! – Unlängst habe ich ihr sogar ein Foto geschickt, wo du mit drauf bist.«

»Das sind keine Argumente«, versetzte Pünktchen. »Ich nehme kein Geschenk von jemandem, der mich nicht persönlich kennt und gernhat.«

Irmelas Miene hellte sich auf. »Mir ist ein anderer Ausweg eingefallen«, sagte sie schmunzelnd. »Ich kenne dich persönlich, und ich habe dich gern. Das willst du doch nicht bestreiten, oder?«

»Äh – nein, natürlich nicht.«

»Ich habe vom Vormonat noch eine Menge Taschengeld übrig«, sprudelte Irmela hervor. »Wir machen morgen nach der Schule einen Umweg durch die Bachgasse. Dort gibt es diesen neuen Ostasien-Shop. Vielleicht bekommen wir dort einen Schal, der so ähnlich ist wie meiner.«

»Aber Irmela, du willst dein Taschengeld doch sicher lieber für andere Dinge ausgeben«, sträubte sich Pünktchen.

»Nein, will ich nicht. Sonst hätte ich es längst getan.«

Die beiden Mädchen hätten vermutlich noch eine Weile herumgestritten, wenn nicht Regine Nielsen auf der Bildfläche erschienen wäre, auf der Suche nach einer Spule Nähseide.

Regine Nielsen war ausgebildete Krankenschwester, ein Beruf, der ihr bei der Betreuung der Kinder von Sophienlust sehr zugute kam. Kleinere Wehwehchen wurden gleich von ihr verarztet, man brauchte deswegen nicht die Kinderärztin zu belästigen. In erster Linie war Schwester Regine jedoch für die Betreuung der kleineren Kinder zuständig, was Irmela aber nicht daran hinderte, sie sogleich mit dem Schalproblem zu überfallen.

»Pünktchen ist so schrecklich stur«, klagte Irmela am Ende ihrer weitschweifigen Ausführungen.

»Nun, ich kann es ihr nicht verdenken, dass sie von deiner Mutter kein Geschenk annehmen will«, meinte die Kinderschwester. »Und dass sie dich deines Prachtschals nicht berauben will, liegt wohl ebenfalls auf der Hand. – Umgekehrt aber bist du wirklich stur, Pünktchen«, setzte sie an Angelina gerichtet hinzu. »Warum nimmst du Irmelas Angebot nicht an? Vielleicht findet ihr in dem Ostasien-Shop tatsächlich einen ähnlichen Schal. Falls Irmelas Taschengeld nicht ausreicht, lege ich den Rest dazu.«

»Das – das ist sehr lieb von dir, Schwester Regine«, stammelte Pünktchen. »Aber …«

»Kein ›aber‹ mehr«, schnitt die junge Frau Pünktchens Skrupel ab. »Am besten, ihr zieht gleich morgen los. Da habt ihr beide am Nachmittag Turnunterricht.«

*

So kam es, dass die beiden Mädchen am nächsten Nachmittag durch die Geschäftsstraßen von Maibach bummelten. Den Schalkauf hatten sie getätigt, es blieb ihnen noch etwas Zeit bis zur Abfahrt des öffentlichen Busses nach Wildmoos. Für gewöhnlich wurden die Gymnasiasten mit einem kleinen roten Privatbus von Sophienlust in die nahegelegene Kreisstadt und wieder zurück gebracht, doch für den Nachmittagsunterricht einzelner Schüler zahlte sich diese Maßnahme nicht aus.

Der vorhin getätigte Einkauf war zu Pünktchens vollster Zufriedenheit ausgefallen. Nach dem Mittagessen hatte ihr die Kinderschwester einen Geldschein in die Hand gedrückt, sodass Irmelas Taschengeld nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen werden musste.

Zwar hatten sie nicht den gleichen Schal auftreiben können – in dem Maibacher Laden gab es nur schlichtere Ausführungen –, aber das hatte Pünktchen nicht gestört. Ohne lange zu zögern, hatte sie ein schwarz-weiß gemustertes Exemplar ausgewählt.

»Vielleicht hätten wir noch anderswo suchen sollen. In einem Kaufhaus. Vielleicht hätten wir dort einen Schal gefunden, der so wie meiner aussieht«, meinte Irmela, während sie bei einer Straßenkreuzung darauf warteten, dass die Ampel auf Grün schaltete.

»Nein. Mir gefällt mein schwarz-weißer«, entgegnete Pünktchen. »Den kann ich zu meinem schwarzen Rock und zu meiner neuen weißen Jacke tragen. Ein blaugoldener würde nicht so gut dazu passen. Mein Schal gefällt mir mindestens ebenso gut wie deiner. Ich will nicht behaupten, dass …« Pünktchen hielt abrupt inne, stürzte ein paar Schritte vor und riss mit einer reflexartigen Bewegung ein etwa fünf Jahre altes Kind von der Fahrbahn auf den Gehsteig zurück.

Bremsen kreischten, eine wütende Männerstimme fluchte, und dann war der Spuk vorüber. Der Vorfall hatte nur wenige Sekunden gedauert. Ein Autofahrer hatte kurz angehalten, der nach ihm kommende hatte sein Fahrzeug gerade noch abbremsen können, ohne aufzufahren. Er war derjenige gewesen, der geflucht hatte, doch nachdem nichts passiert war und sein Vordermann wieder anfuhr, folgte er diesem Beispiel. Im nächsten Moment schaltete die Ampel auf Gelb, dann auf Grün.

Das Kind, dessen Arm Pünktchen immer noch festhielt, zappelte unter dem festen Griff des Mädchens. »Lass mich los!«, schrie das Kind. Es trug ein blaurot kariertes Knabenhemd und fleckige Jeans. Seine Füße steckten in schmutzigen Sandalen. Auch das Gesicht war nicht allzu sauber, auf dem Kinn prangte ein Schokoladenfleck. Blaugraue Augen blitzten Pünktchen zornig an.

»Nein, ich lasse dich nicht los«, sagte Pünktchen streng. »Du wärst eben beinahe in ein Auto gelaufen. Weißt du nicht, dass man die Straße nur bei Grün überqueren darf?«

Das Kind schnitt eine Grimasse und trat heftig gegen Pünktchens Schienbein. Für das Mädchen kam diese Attacke völlig unvorhergesehen, aber es lockerte seinen Griff nicht.

»Du bist ein besonders ungezogener Junge«, schimpfte Irmela. »Meine Freundin hat dich vor einem Unfall bewahrt, möglicherweise sogar das Leben gerettet und du trittst nach ihr. Pfui, schäm dich.«

Tränen traten in die blaugrauen Augen. »Ich bin kein ungezogener Junge«, schluchzte das Kind. »Ich bin überhaupt kein Junge. Ich bin ein Mädchen. Aber – aber vielleicht bin ich ein besonders ungezogenes Mädchen. Tante Gerlinde sagt, dass ich ein schlimmer Fratz bin und dass ich Prügel verdiene. Deshalb bin ich ja weggelaufen. Ich mag Tante Gerlinde nicht. Und Onkel Kurt mag ich noch viel weniger. Und Helmut, Gerhard, Ilse und Erika kann ich erst recht nicht leiden. Ich will zu meiner Uroma! Lass mich doch endlich los!«

»Warte. Gar so eilig kannst du es nicht haben. Die Ampel zeigt schon wieder rot«, warnte Pünktchen, ließ den Arm des Kindes los, fasste jedoch blitzschnell nach dessen Hand, da die Kleine erneut losstürmen wollte, ohne auf den Verkehr zu achten.

»Bist du lebensmüde, Kleine?«, rief Irmela erschrocken aus.

»Ich muss zu meiner Uroma!«, stieß das Kind hervor. »Bevor Tante Gerlinde merkt, dass ich weg bin. Wenn sie mich auf der Straße findet, dann setzt es Prügel. Tante Gerlinde hat mich nicht lieb.« Das Mädchen furchte seine runde Stirn und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ich glaube, mich hat niemand lieb. Außer der Oma. Na ja, und der Uroma. Aber die ist schon ziemlich alt. Trotzdem bleibe ich lieber bei der Uroma als bei Tante Gerlinde und ihren bösen Kindern. Die spielen sich ständig auf und spotten über mich und sagen, dass ich ihnen gehorchen muss. Weil sie meine Onkeln und Tanten sind. Dabei ist Ilse ein Stückchen kleiner als ich.« Mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand deutete das Kind eine Spanne von etwa drei Zentimetern an. »Um so viel ist sie kleiner«, erklärte es. »Aber weil sie meine Tante ist, muss ich ihr gehorchen. Sie ist eine – eine blöde Angeberin.«

Irmela und Pünktchen wechselten einen raschen Blick.

»Wir beide sind zwar nicht deine Tanten, aber wir sind wesentlich größer als du«, sagte das sommersprossige Mädchen. »Vielleicht hältst du uns ebenfalls für Angeberinnen. Aber eines ist sicher: Wir rennen nicht bei Rot über die Fahrbahn. Deshalb werden wir dich zu deiner Uroma begleiten.«

»Nein …«

»Keine Widerrede«, unterbrach Irmela das Kind. »Wir sind nicht besonders scharf darauf, eigentlich hätten wir Besseres zu tun. Wahrscheinlich werden wir sogar den nächsten Bus nach Wildmoos versäumen. Aber da kann man halt nichts machen. Auf keinen Fall lassen wir dich weiter unbeaufsichtigt durch Maibach rennen.«

Pünktchen hielt die linke Hand des Kindes, Irmela griff nun nach der rechten. Zu dritt überquerten sie die Straße.

»Wo wohnt deine Uroma?«, erkundigte sich Pünktchen.

»In der Goethegasse. Das ist weit, aber ich finde hin.«

Ein kurzes Stück des Weges legten sie schweigend zurück. Die Kleine schien sich mit ihren beiden Begleiterinnen abgefunden zu haben, denn sie brachte keine Proteste mehr vor. Im Gegenteil, sie äußerte plötzlich schüchtern: »Ihr seid nett. Viel netter als Gerhard, Helmut und Erika. Sagt ihr mir eure Namen?«

»Ich heiße Angelina. Aber meine Freunde und Freundinnen nennen mich Pünktchen.«

»Pünktchen! Das ist lustig«, rief die Kleine und kicherte. Dann sah sie von der Seite zu dem anderen Mädchen auf und fragte: »Und wie heißt du?«

»Irmela. Und du?«

»Gülnare.«

»Wie?« Irmela glaubte, sich verhört zu haben.

»Gülnare. Gülnare Mirtilla«, behauptete ihr Schützling.

»Du flunkerst«, beschuldigte Pünktchen das Kind. »Das sind Fantasienamen. Die hast du dir ausgedacht.«

Mit dieser Beschuldigung war der Anflug eines guten Einvernehmens wieder geschwunden. Die Kleine presste trotzig die Lippen zusammen und sprach kein Wort mehr, bis sie in der Goethegasse angelangt waren.

Vor einem dreistöckigen Jugendstilhaus blieb Gülnare stehen und erklärte: »Da wohnt meine Uroma. Das Haustor ist zugesperrt. Man muss läuten und warten, bis die Uroma durch den Lautsprecher fragt, wer da ist. Läutest du für mich, Irmela? Ich komm nicht hin, nicht einmal, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle.«

»Aha, jetzt hast du also doch eine Verwendung für uns«, meinte Irmela. Mit einem etwas ratlosen Blick streifte sie die sechs Namensschilder neben dem Haustor. »Du musst mir schon den Namen von deiner Uroma sagen«, verlangte sie.

»Holl. Das oberste Schild neben der Haustür.«

Irmela drückte auf den Klingelknopf, doch nichts geschah.

In Gülnares Miene trat ein verängstigter Ausdruck. »Oh, meine Uroma meldet sich nicht. Sie ist wohl nicht zu Hause. Ich werde warten.«

Diese Ankündigung rief bei den beiden großen Mädchen alles andere als reine Begeisterung hervor. Sie hatten noch allerhand Schularbeiten zu erledigen. Auf Pünktchen wartete ein sechsstrophiges Gedicht, auf Irmela mehrere Seiten Französischvokabeln. Umgekehrt aber wollten sie ihren Schützling nicht sich selbst überlassen.

»Am gescheitesten wäre es, wenn du zu deiner Tante zurückkehren würdest«, sagte Angelina. Sie vermied es, Gülnare mit dem ihr lächerlich vorkommenden Vornamen anzureden. »Es hat doch keinen Sinn, hier womöglich stundenlang zu warten.«

»Ich geh nicht zurück zu Tante Gerlinde«, erklärte die Kleine störrisch. »Wenn meine Uroma abgereist ist, dann – dann … Na ja, dann schlafe ich halt im Park. Unter einem Strauch. Oder ich bau mir aus Zweigen eine kleine Hütte.«

»Du spinnst ja«, warf Irmela dem Kind an den Kopf.

Pünktchen runzelte die Stirn. »Was hast du da eben gesagt? Dass deine Uroma schon abgereist sein könnte? Hatte sie denn vor, zu verreisen?«

Gülnare druckste herum, schließlich bekannte sie: »Ja, meine Uroma will mit einem großen Flugzeug weit fort fliegen.«

»Warum hast du uns das nicht gleich gesagt?«, tadelte Pünktchen. »Wir stehen nutzlos herum. Komm, wir gehen. Wo wohnt deine Tante?«

Pünktchens Strenge wirkte, dass Gülnare mit dem Fuß aufstampfte und brüllte: »Ich sag nicht, wo meine Tante wohnt. Lasst mich in Ruhe! Geht weg! Ihr seid doch nicht nett. Ihr wollt, dass Tante Gerlinde mich prügelt.«

»Nein, das wollen wir bestimmt nicht«, versicherte Pünktchen. Ein wenig ratlos fügte sie hinzu: »Hast du denn außer deiner Tante und deiner Uroma niemanden?«

»Ich habe noch eine Oma. Mein Opa ist gestorben. Er ist im Himmel. Meine Mutti ist auch im Himmel. Mein Vati aber nicht, der wohnt in Rimstein. Meinen Vati mag ich gern, er ist immer so lustig und weiß so schöne Spiele.«

»Tja, Rimstein ist nicht allzu weit weg von Wildmoos«, meinte Pünktchen nachdenklich. »Wir könnten dich nach Sophienlust mitnehmen und Schwester Regine oder den Chauffeur Hermann bitten, dich nach Rimstein zu deinem Vati zu bringen.«

Zur Verwunderung der beiden älteren Mädchen schüttelte Gülnare den Kopf, sodass ihre glatten hellbraunen Haare nur so flogen. »Nein, zu meinem Vati darf ich nicht. Das erlaubt die Oma nicht. Bevor sie ins Krankenhaus gekommen ist, hat sie Tante Gerlinde aufgetragen, dass mein Vati mich nicht mitnehmen darf. Nicht einmal auf den Rummelplatz oder in eine Eisdiele. Lass Oliver nicht aus den Augen, falls er Tilly besuchen sollte. Das hat Oma gesagt«, zitierte Gülnare. »Oliver, das ist mein Vati«, setzte sie erklärend hinzu.

»Aha. Und wer ist Tilly?«, erkundigte sich Irmela schmunzelnd.

»Ich natürlich.«

»Wirklich? Uns hast du aber einen anderen Namen genannt.«

»Ja, freilich. Ich heiße Gülnare. Gülnare Mirtilla. Bloß Oma und die bösen Kinder von Tante Gerlinde rufen mich Tilly. Außer wenn sie mich ärgern wollen. Dann sagen sie Narrli zu mir. Das ist gemein. Ich heiße Gülnare, nicht Narrli.«

»Hm. Da du ständig darauf pochst, Gülnare genannt zu werden, ist es verzeihlich, dass man dann Narrli zu dir sagt. Die Versuchung ist groß. Mir gefällt Tilly besser. Ich bleibe dabei«, meinte Irmela.

Pünktchen nickte zustimmend. »Nachdem wir nun die Namensfrage geklärt haben, müssen wir überlegen, was wir mit Tilly anfangen. Ihre Oma liegt im Krankenhaus, eine Mutter hat sie keine mehr, ihre Urgroßmutter ist verreist, zu ihrem Vater soll sie nicht, und zu ihrer Tante will sie nicht. Da ist guter Rat teuer. Eigentlich fällt mir nur eine Lösung ein.«

»Wir nehmen Tilly mit nach Sophienlust und bitten Tante Isi, sie aufzunehmen«, pflichtete Irmela der Freundin bei. »Möchtest du mit uns kommen, Tilly?«, wandte sie sich fragend an die Kleine. »Wir wohnen in einem schönen alten Haus mit einem großen Park rundherum. Es ist ein Kinderheim.«

»Ein Kinderheim?« Tilly steckte den Daumen in den Mund und knabberte daran herum. »Wohnen dort nur Kinder? Wer kocht und räumt zusammen? Machen das die Kinder alles selber?«

»Nein. In der Küche herrscht Magda, für die anderen Arbeiten im Haus sind die beiden Hausmädchen Ulla und Lena zuständig. Du brauchst gewiss nicht zu kochen und aufzuräumen, wenn du zu uns nach Sophienlust kommst.«

»Schade. Ich koche gern, aber Oma erlaubt es mir nicht. Ich darf immer bloß Kekse ausstechen. Sonst darf ich nichts machen. Nicht einmal Kartoffeln schälen darf ich. Oma hat Angst, ich schneide mir in den Finger.«

»Hm, wir in Sophienlust dürfen der Köchin und den Hausmädchen schon mal zur Hand gehen«, sagte Irmela. »Magda, Lena und Ulla freuen sich darüber. Sie sind froh, wenn sie nicht so viel Arbeit haben. Gewiss wirst du helfen dürfen. Allerdings denke ich mir, dass du lieber mit Heidi Holsten spielen wirst. Heidi ist ungefähr in deinem Alter. Ein liebes kleines Ding, verträglich und überhaupt nicht neidisch. Ihre beiden Kaninchen, Schneeweißchen und Rosenrot, überlässt sie auch den anderen Kindern …«

»Ihr habt auch Tiere in eurem Heim?«, fiel Tilly Irmela ins Wort.

»Ja. Heidis Kaninchen, den Bernhardiner Barri, Fabians Dogge Anglos, den Papagei Habakuk, einen Wellensittich und einen Kanarienvogel«, zählte Irmela die vierbeinigen und gefiederten Bewohner von Sophienlust auf.