Sophienlust 411 – Familienroman - Marietta Brem - E-Book

Sophienlust 411 – Familienroman E-Book

Marietta Brem

5,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. "Jetzt kannst du endlich unseren hochverehrten Chef kennenlernen. Dort hinten kommt er." Stella Wegener, der die Aufsicht über die Drogerieabteilung des Kaufhauses oblag, deutete unauffällig in Richtung Tür, die sich gerade hinter einem hochgewachsenen, gutaussehenden Mann geschlossen hatte. Kerstin Hennings, ein bildhübsches Mädchen von neunzehn Jahren, senkte rasch den Kopf und bemühte sich, ihre Arbeit besonders ordentlich zu machen. Seit etwas über zwei Wochen arbeitete sie schon in diesem Kaufhaus, räumte Regale ein und wischte mehrmals am Tag den Fußboden auf. Die Arbeit machte ihr keine Freude, aber sie war froh, daß sie überhaupt etwas arbeiten konnte. Zwar hatte Kerstin mit mittlerem Erfolg ihre Banklehre absolviert, aber nach der Abschlußprüfung ist sie leider nicht übernommen worden. So war ihr nach längerem Suchen nichts anderes übriggeblieben, als das Angebot von Merkels Kaufhaus anzunehmen. Seit über einem Vierteljahr lebte sie schon mit ihrer schwerkranken Mutter in einer kleinen Wohnung am Rande von Maibach, damals war ihr Vater an einem unheilbaren Magenleiden gestorben. Noch hatte Kerstin seinen Tod nicht verwunden, dazu kam noch die Sorge um die Mutter, die mit jedem Tag verhärmter aussah. Kerstin duckte sich noch tiefer in das unterste Regal, als sie fühlte, daß Richard Merkel immer näher kam. Ihr dunkles, schulterlanges Haar fiel nach vorne, und sie hätte es am liebsten zurückgestreift, um ihn unbemerkt ansehen zu können. Nur einen Augenblick paßte sie nicht richtig auf und schon geschah es. Eine Glasflasche mit Haarwasser rutschte ihr aus der Hand und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden, wo sie in tausend Scherben zersprang. "Machen Sie das öfter so?" fragte Richard Merkel und runzelte mißbilligend seine dunklen, dichten Augenbrauen. Um seine Lippen glitt ein etwas überhebliches Lächeln. "Entschuldigen Sie bitte, ich war unvorsichtig", gab Kerstin kleinlaut zu und strich nun doch mit der linken Hand die Strähne zurück. Ihr Blick wanderte von den schwarz glänzenden Schuhspitzen hinauf, an der exakten Bügelfalte seiner dunklen Hose entlang, bis zu dem markant geschnittenen Gesicht des Mannes.

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Leseprobe: Gaston, der Sohn des Diplomaten

Der betäubende Duft der in verschwenderischer Fülle blühenden Rosen strömte durch das offene Fenster des Schreibzimmers, in dem Irene von Wellentin an ihrem zierlichen Schreibtisch aus Rosenholz saß und den Brief ihrer Jugendfreundin Claudine Arnoud nun schon zum zweiten Mal las. Als sie ihn zusammenfaltete und in das hellblaue Kuvert zurücksteckte, dachte sie an die Zeit mit Claudine in dem Genfer Internat. Was waren das doch für herrliche, unbeschwerte Jahre gewesen! Damals hatten sie noch geglaubt, das Leben bestünde nur aus einer Reihe von glücklichen Tagen. Gemeinsam hatten sie Zukunftspläne geschmiedet, wobei Claudine immer den Wunsch geäußert hatte, die Frau eines Diplomaten zu werden, um an seiner Seite fremde Länder kennenzulernen. Dieser Wunschtraum hatte sich bei ihr tatsächlich erfüllt, aber ob sie so glücklich geworden war, wie sie erhofft hatte, das schien fraglich zu sein. Nach ihrem Brief zu schließen, verlief ihr Leben recht problematisch. Vor ungefähr sechs Jahren hatte Irene von Wellentin Claudine zum letzten Mal in Paris getroffen, in der Zeit, als es in ihrer Ehe eine Krise gegeben hatte. Doch damals hatte auch ihre Freundin alles andere als einen ausgeglichenen und zufriedenen Eindruck gemacht. »Mutti, ich bin da!«, riss eine helle Kinderstimme Irene von Wellentin aus ihren Träumereien. Kati, jetzt zehn Jahre alt, stürmte mit strahlenden Augen ins Zimmer und rief voller Freude: »Mutti, stell dir vor, ich habe den besten Klassenaufsatz geschrieben und eine Eins bekommen. Was sagst du dazu?« »Das freut mich sehr, mein kleiner Liebling«, lobte Irene von Wellentin die Kleine mit einem weichen mütterlichen Lächeln. Kati bereitete ihr nur Freude, und sie bereute es keine Stunde, das Mädchen adoptiert zu haben. Unendlich dankbar war sie dem Schicksal, dass es ihr dieses Kind zugeführt hatte. Noch heute erschauerte sie, wenn sie daran dachte, welche entsetzliche Angst sie ausgestanden hatte, als Hanna Ebert, Katis leibliche Mutter, eines Tages aufgetaucht war und ihre Rechte auf das Kind geltend gemacht hatte. Glücklicherweise hatte die Gier nach Geld Hanna Eberts Mutterliebe bei Weitem überwogen. Niemals würde sie, Irene, vergessen, was ihr Mann damals für sie getan hatte.

Sophienlust (ab 351) – 411 –

Heimweh nach den Eltern

Und wenn es hier noch so schön ist …

Marietta Brem

»Jetzt kannst du endlich unseren hochverehrten Chef kennenlernen. Dort hinten kommt er.« Stella Wegener, der die Aufsicht über die Drogerieabteilung des Kaufhauses oblag, deutete unauffällig in Richtung Tür, die sich gerade hinter einem hochgewachsenen, gutaussehenden Mann geschlossen hatte.

Kerstin Hennings, ein bildhübsches Mädchen von neunzehn Jahren, senkte rasch den Kopf und bemühte sich, ihre Arbeit besonders ordentlich zu machen. Seit etwas über zwei Wochen arbeitete sie schon in diesem Kaufhaus, räumte Regale ein und wischte mehrmals am Tag den Fußboden auf. Die Arbeit machte ihr keine Freude, aber sie war froh, daß sie überhaupt etwas arbeiten konnte.

Zwar hatte Kerstin mit mittlerem Erfolg ihre Banklehre absolviert, aber nach der Abschlußprüfung ist sie leider nicht übernommen worden. So war ihr nach längerem Suchen nichts anderes übriggeblieben, als das Angebot von Merkels Kaufhaus anzunehmen.

Seit über einem Vierteljahr lebte sie schon mit ihrer schwerkranken Mutter in einer kleinen Wohnung am Rande von Maibach, damals war ihr Vater an einem unheilbaren Magenleiden gestorben. Noch hatte Kerstin seinen Tod nicht verwunden, dazu kam noch die Sorge um die Mutter, die mit jedem Tag verhärmter aussah.

Kerstin duckte sich noch tiefer in das unterste Regal, als sie fühlte, daß Richard Merkel immer näher kam. Ihr dunkles, schulterlanges Haar fiel nach vorne, und sie hätte es am liebsten zurückgestreift, um ihn unbemerkt ansehen zu können.

Nur einen Augenblick paßte sie nicht richtig auf und schon geschah es. Eine Glasflasche mit Haarwasser rutschte ihr aus der Hand und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden, wo sie in tausend Scherben zersprang.

»Machen Sie das öfter so?« fragte Richard Merkel und runzelte mißbilligend seine dunklen, dichten Augenbrauen. Um seine Lippen glitt ein etwas überhebliches Lächeln.

»Entschuldigen Sie bitte, ich war unvorsichtig«, gab Kerstin kleinlaut zu und strich nun doch mit der linken Hand die Strähne zurück. Ihr Blick wanderte von den schwarz glänzenden Schuhspitzen hinauf, an der exakten Bügelfalte seiner dunklen Hose entlang, bis zu dem markant geschnittenen Gesicht des Mannes. So gutaussehend hatte sich Kerstin ihren Chef nicht vorgestellt. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Vorstellung von ihm gehabt bis zu dem Tag, als Stella ihr mit verschämtem Augenaufschlag gestanden hatte, daß Dr. Richard Merkel der Schwarm aller weiblichen Angestellten des Kaufhauses war.

Das ließ Kerstin gleich die Oppositionsstellung einnehmen, die aber in den letzten Minuten nur so dahingeschmolzen war. So hatte sie sich Richard Merkel wirklich nicht vorgestellt.

Ärgerlich registrierte das junge Mädchen, daß ihr Herz einige unkontrollierte Schläge machte. Den heftigen Puls spürte Kerstin bis in die Schläfen.

Forschende Blicke aus grauen Augen musterten das Mädchen, das noch immer am Boden kniete.

»Bitte, räumen Sie die Scherben weg, in etwa einer halben Stunde erwarte ich Sie in meinem Büro.« Er nickte ihr noch kurz zu und setzte dann seinen Rundgang fort.

Stella Wegener stand wie zur Salzsäule erstarrt an das Regal gelehnt und holte tief Luft.

»Au wei, das bedeutet bestimmt nichts Gutes.«

»Meinst du, daß er mich hinauswirft?« fragte Kerstin ängstlich und richtete sich jetzt langsam auf.

»Ganz so schlimm wird es hoffentlich nicht kommen. Aber es ist gut möglich, daß du den Schaden bezahlen mußt. Er soll sehr streng sein, habe ich gehört.«

Kerstin zuckte die Schultern. »Das werde ich noch verkraften können. Hauptsache, er setzt mich nicht gleich auf die Straße.«

Eine knappe halbe Stunde später machte sich Kerstin mit gemischten Gefühlen auf den Weg zum ›Allerheiligsten‹, wie die Chefetage bei den Angestellten genannt wurde. Nervös fuhr sie mit gespreizten Fingern noch einmal durch ihr dunkles Haar und holte dann tief Luft. Den Kopf konnte er ihr ja nicht abreißen.

»Herr Doktor Merkel erwartet Sie schon, Fräulein Hennings«, tadelte die Sekretärin im Vorzimmer und zog überheblich eine ihrer stark geschminkten Augenbrauen hoch. »Sie können gleich hineingehen.«

»Danke.« Kerstin zögerte einen Augenblick, aber als sie dann das kühle Metall der Türklinke in ihrer Hand spürte, bekam sie auf einmal Mut. Was hatte sie denn schon getan? Schließlich konnte es jedem passieren, daß ihm etwas aus der Hand rutschte.

Richard Merkel saß an seinem pompösen Schreibtisch, dem man den Wert schon von weitem ansah. Anscheinend las er gerade ein wichtiges Schriftstück, denn er hielt den Kopf gesenkt.

»Setzen Sie sich schon mal, Fräulein Hennings. Dort drüben, bitte«, murmelte er, ohne aufzusehen.

Zaghaft setzte sich Kerstin auf den äußersten Rand des lederbezogenen Stuhls, der normalerweise für Besucher bestimmt war. So unauffällig wie möglich schaute sie sich in dem vornehm eingerichteten Büro um.

Das Mädchen merkte nicht, daß der Mann es immer wieder kurz betrachtete, denn Kerstin war so mit dem Studium der vielen Bücher beschäftigt, die in einem hohen Regal standen. Wie gerne hätte sie in einigen von ihnen geblättert, denn es waren etliche Titel dabei, die sie brennend interessiert hätten.

»So, und nun zu Ihnen, Fräulein Hennings.« Aufatmend legte Herr Merkel das eng beschriebene Blatt in die Mappe zurück. Er runzelte die Stirn, denn er wußte, wenn er es sich genau überlegte, nicht einmal, was er überhaupt von Kerstin wollte. Die zerbrochene Flasche hatte er längst vergessen. Das einzige, an was er noch dachte, waren die wunderschönen blauen Augen des Mädchens, das ihn vom ersten Augenblick an fasziniert hatte. Eigentlich war das auch der Grund gewesen, warum Kerstin jetzt in seinem Büro saß.

»Wie lange arbeiten Sie schon bei uns?« Seine Stimme klang freundlich und aufmunternd, und Kerstin atmete auf.

»Seit gut zwei Wochen«, gab sie Auskunft und konnte nicht verhindern, daß ihr flammende Röte ins Gesicht schoß.

»Und wie gefällt es Ihnen?« Richard stand auf und kam nun ebenfalls auf die Sitzgruppe zu. »Machen wir also eine kleine Pause«, fuhr er fort, ohne Kerstins Antwort auf seine Frage abzuwarten.

»Es gefällt mir gut«, sagte das Mädchen zögernd und senkte den Blick.

Richard Merkel grinste. »Also begeistert klingt das überhaupt nicht. Wo haben Sie denn vorher gearbeitet?«

»Bei der Sparkasse. Aber nachdem ich meine Lehre abgeschlossen hatte, wurde ich leider nicht übernommen.«

Richard nickte. Er kannte die Geschichte schon aus der Personalakte. »Eigentlich schade. Dann haben Sie Ihre ganze Ausbildung umsonst gemacht.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Leben Sie ganz allein hier in Maibach?«

»Nein, nicht ganz. Meine Mutter ist bei mir. Wir teilen uns die Wohnung.« Zwar war Kerstin verwundert über den Verlauf ihrer Unterhaltung, aber sie zeigte es nicht.

»Schönes Haar haben Sie.« Der Mann musterte das Mädchen ungeniert. Noch immer konnte sich Kerstin nicht vorstellen, auf was er eigentlich hinauswollte.

Plötzlich läutete das Telefon. Richard sprang auf.

»Wir müssen unsere interessante Unterhaltung leider beenden, denn der Anruf ist dringend. Hätten Sie Lust, heute abend mit mir essen zu gehen? Ich erwarte Sie nach Dienstschluß an der Bushaltestelle.«

Damit war Kerstin entlassen. Benommen ging sie an der Sekretärin vorbei, die ihr verwundert nachschaute.

Die Stunden bis zum Feierabend krochen dahin, und fast jede Viertelstunde schaute Kerstin auf ihre Armbanduhr. Endlich war es soweit. Das Mädchen warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, der im Waschraum hing. Sie bürstete ihr Haar so lange, bis es in glänzenden Locken auf ihre Schultern fiel, dann zog sie sogar noch ihre Lippen mit einem unauffälligen Lippenstift nach, obwohl sie das gar nicht nötig hatte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Kerstin gezögert, die Einladung ihres Chefs anzunehmen, aber dann hatte sie sich gesagt, daß das alles wohl keine allzu große Bedeutung haben würde. Bestimmt war das in diesem Betrieb so üblich, daß neue Angestellte anfangs einmal mit dem Chef essen gingen.

Wohlweislich aber hatte sie es vermieden, Stella Wegener von der Einladung zu erzählen, warum, das wußte Kerstin selbst nicht.

Immer wieder sah sie Richard Merkel vor sich, der ihr wie die Erfüllung ihrer Mädchenträume vorkam. Er war hochgewachsen, schlank, dunkelhaarig und gutaussehend, er war charmant und wirkte so überlegen, daß sie sich in seiner Gegenwart schrecklich jung und ungebildet vorkam. Was sollte sie nur mit ihm reden, wenn sie den ganzen Abend mit ihm zusammen war?

Mit aufgeregt klopfendem Herzen machte sich Kerstin auf den Weg zum Ausgang. Ihre Kolleginnen waren fast alle schon gegangen, nur Stella kramte noch in ihrer Handtasche herum und schien etwas zu suchen.

»Wartest du einen Augenblick auf mich, Kerstin? Wir können ja wieder ein Stück zusammen gehen, wie immer«, schlug die Ältere vor und ­beobachtete das Mädchen unauffällig.

»Es tut mir leid, Stella, aber heute geht das nicht. Ich muß… für meine Mutter noch etwas besorgen.« Kerstin wußte, daß ihre Ausrede ziemlich unglaubwürdig klang, und es tat ihr auch leid, daß sie ausgerechnet Stella anlog, aber ihr Geheimnis wollte sie auch nicht preisgeben. Sie sah es an dem Gesicht der Kollegin, daß sie ihr nicht glaubte. Warum sie die Wahrheit verschwieg, wußte Kerstin selbst nicht. Irgendeine innere Stimme hielt sie davon ab.

»Dann eben nicht.« Stella zuckte die Schultern und lief grußlos an Kerstin vorbei. Sie ahnte, was da im Gange war, und sie hätte das Mädchen gerne gewarnt. Aber jeder mußte nun einmal seine Erfahrungen selbst sammeln, deshalb konnte und durfte sie sich hier auch nicht einmischen.

»Fräulein Kerstin, endlich.« Demonstrativ schaute Richard auf seine Uhr. Bereits seit zehn Minuten wartete er auf das Mädchen, das er näher kennenlernen wollte.

Nur einen kurzen, etwas schuldbewußten Gedanken verschwendete er an Diane, seine Frau. Wie schon so oft hatte er eine wichtige Besprechung vorgeschoben, und Diane hatte es gleichmütig hingenommen. Sie ahnte ja nichts.

»Guten Abend, Herr Merkel.« Höflich streckte Kerstin ihrem Chef die Hand hin, als sie sich etwas verlegen auf den weichen Sitz seines eleganten Wagens gesetzt hatte. Sie wußte, daß ihr Chef verheiratet war und fühlte sich auch aus diesem Grunde etwas unbehaglich. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen?

Am liebsten hätte sie fluchtartig den Ort des Schreckens verlassen, um Richard niemals mehr wiederzusehen. Aber das war nicht mehr möglich, denn er hatte den Motor bereits gestartet.

»Wohin möchten Sie fahren, Fräulein Kerstin? Oder soll ich einen Vorschlag machen?« Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, denn er fühlte, wie nervös das Mädchen war.

»Ich kenne mich in Maibach nicht sonderlich gut aus«, gestand Kerstin verlegen. »Da ist es besser, wenn Sie das Ziel bestimmen.«

»Also, dann fahren wir nach Backnang in die ›Alte Post‹. Ich weiß aus Erfahrung, daß man dort ausgezeichnet ißt. Außerdem ist die Atmosphäre dort einmalig.«

Es dämmerte schon, als sie endlich am Hauptbahnhof Backnang vorbeifuhren.

»Jetzt haben wir es endlich geschafft. Ich habe einen Mordshunger«, stellte Richard fest und lachte jungenhaft.

Kerstin hatte die ganze Fahrt über geschwiegen, denn sie wußte ja nicht, über was sie mit ihrem Chef hätte sprechen sollen. Alles kam ihr so dumm und uninteressant vor. Insgeheim sehnte sie sich schon danach, daß dieser Abend endlich vorüber war.

Richard blinkte rechts und fuhr in die Stuttgarter Straße ein. Es grenzte fast an ein Wunder, daß er um diese Zeit noch einen Parkplatz nicht weit von dem Gasthaus entfernt fand.

Jetzt im März war es noch ziemlich kühl, und Kerstin zitterte ein bißchen, als sie neben ihm herging.

»Sie frieren ja, Kindchen«, stellte der Mann fest und legte ganz selbstverständlich den Arm um ihre Schultern. »Nach dem ersten Glas Württemberger wird Ihnen schon warm werden.«

Gehorsam nickte Kerstin, obwohl sie da nicht so sicher war. Es war weniger die abendliche Kühle als ihre aufgescheuchten Nerven, die sie frösteln ließen.

Anscheinend war Richard in der ›Alten Post‹ des öfteren Gast, denn die Kellnerin erkannte ihn sofort und führte sie zu einem etwas versteckten Platz, der von den anderen Gästen nicht so gut beobachtet werden konnte.

»Bringen Sie uns zuerst, bitte, einen Riesling zum Aufwärmen, und dann hätten wir gern Rostbraten mit verschiedenen Salaten. Es ist Ihnen doch recht, Kerstin?«

Das Mädchen nickte nur mechanisch, denn dieses vornehme Restaurant verwirrte sie. Irgendwie kam Kerstin alles wie ein Traum vor, aus dem sie jeden Moment erwachen mußte. Aber nichts geschah. Die Kellnerin brachte zuerst den Wein und dann den Rostbraten, der verführerisch duftete. Hastig trank Kerstin ihr Glas leer.

Sie fühlte, wie wohltuende Wärme in ihr aufstieg, und auch ihre Unsicherheit wich langsam. Jetzt fühlte sie sich fast wohl in der Gesellschaft des gutaussehenden Mannes, der ihr immer besser gefiel. Wenn sie nur wüßte, über was sie mit ihm reden sollte.

»Ihnen gefällt es also nicht sonderlich bei uns«, stellte Richard Merkel lakonisch fest. Um seine Lippen spielte ein gutmütiges Lächeln. Er betrachtete das Mädchen forschend, und es gefiel ihm immer besser. Nur, daß sie so schweigsam war, störte ihn etwas.

»Das habe ich nicht gesagt«, widersprach Kerstin und ließ sich von ihm das Glas zum zweiten Mal füllen. »Die Arbeit geht mir gut von der Hand. So etwas zu bekommen, ist heutzutage ein Glück. Aber… Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, es ist eben nicht das, was ich gelernt habe.« Kerstin zögerte, weil sie Herrn Merkel nicht verärgern wollte.

»Sie leben also allein mit Ihrer Mutter«, wechselte er das Thema.

»Ja, seit Vaters Tod«, berichtete das Mädchen. »Meine Mutter ist ebenfalls krank und kann kaum mehr arbeiten.«

»Dann lastet auf Ihren schwachen Schultern eine große Last, obwohl Sie noch so jung sind. Sicher haben Sie einen männlichen Beschützer, der Ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht.«

Richard wartete gespannt auf ihre Antwort, aber Kerstin ging nicht auf seine Anspielung ein.

»Es tut mit leid wegen der Flasche, die ich heute vormittag heruntergeworfen habe«, begann sie zaghaft und schnitt ein kleines Stückchen von dem saftigen Rostbraten ab. Eigentlich hatte sie überhaupt keinen Hunger.

»Vergessen Sie es«, wehrte Richard ab und füllte noch einmal Wein nach. »Jetzt trinken wir erst einmal Brüderschaft, okay? Dann können wir uns auch viel besser unterhalten.«

Kerstin war verwirrt von dem Tempo, das er an den Tag legte, aber sie wagte nicht zu widersprechen. Außerdem gefiel es ihr auch, Freundschaft mit dem Chef zu schließen.

Sein Kuß war zärtlich und sanft, und Kerstin schloß die Augen. War das die Liebe?

»Komm, Kleines, machen wir noch einen Spaziergang durch Backnang bei Nacht. Du wirst sehen, wie romantisch das ist.«

Richard legte einen größeren Schein auf das dafür vorgesehene Schälchen und half Kerstin in ihre Strickjacke. Dann legte er besitzergreifend seinen Arm um sie und führte sie aus dem Restaurant.

Zuerst schlenderten sie ein Stück die Stuttgarter Straße hinauf und blieben immer wieder stehen, um die hell erleuchteten Schaufenster zu betrachten.

Kerstin war auch jetzt ziemlich schweigsam, denn sie war sich noch immer nicht klar über die Rolle, die sie bei Richard spielen sollte. Schließlich war er doch verheiratet. Und in seine Ehe eindringen, das wollte sie natürlich nicht.

»Meinst du nicht, daß wir wieder nach Hause fahren sollten«, sagte

sie nach einer Weile zaghaft, weil ihr das Du noch schwer über die Lippen kam.

»Natürlich, Kleines, du bist sicher müde. Außerdem wartet deine Mutter bestimmt auf dich«, hakte er sofort ein.

Erleichtert ließ sich Kerstin auf den bequemen Beifahrersitz fallen.

»Es war ein schöner Abend. Danke, Richard.« Kerstin meinte es ernst, was sie sagte. Der Abend hatte ihr wirklich gefallen. Für eine Weile kam es ihr vor, als wäre sie ein Teil der großen, weiten Welt, von der sie sonst immer nur träumen konnte.

Richard Merkel zündete sich eine Zigarette an. »Willst du auch eine?«

»Nein, danke, ich rauche nicht.«

»Braves Mädchen«, lobte er, aber er konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. Sie ist doch noch ein Kind, dachte er. Was will ich denn mit der? Aber eine andere Stimme in ihm sagte: Sie ist jung und hübsch. Was willst du mehr? Denk an Diane. Die mahnende Stimme in ihm wurde immer intensiver. Noch hatte er die Kraft, sich gegen die Leidenschaft zu wehren, die immer mehr Besitz von ihm ergriff.

»Wir sind gleich da. Bitte laß mich jetzt schon aussteigen. Meine Mutter braucht nicht zu sehen, daß du mich nach Hause gebracht hast. Sie würde sich sicher unnötige Gedanken machen, wenn sie den großen Wagen vor dem Haus entdeckt.«

Sofort hielt Richard Merkel an. »Gute Nacht, Kerstin, und träume etwas Schönes, vielleicht von mir.« Zärtlich hielt er ihre Hand.