Der Augenblick der Wahrheit - Marisa Frank - E-Book

Der Augenblick der Wahrheit E-Book

Marisa Frank

5,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. »Ist es noch weit?« fragte Yvonne Bring. Sie fand das Autobahnfahren langweilig. Marianne Bring drehte sich zu ihr um. »Noch sehr weit, Schätzchen. Wir sind noch nicht einmal in Bayern.« »Aber wir fahren schon so lange«, maulte Yvonne. »Yvonne hat recht. Wir sollten eine Pause machen.« Kurz nahm Georg Bring seinen Blick von der Fahrbahn und lächelte seiner Frau zu. »Es ist sehr viel Verkehr. Wir kommen langsamer vorwärts als erwartet«, meinte Marianne Bring. Sie beugte sich vor und fummelte am Radio herum. »Hoffentlich gibt es nicht noch einen größeren Stau.« »Dann halten wir wirklich an. Wenn es sein muß, fahren wir von der Autobahn ab und übernachten.« Georg Bring ließ sich seine gute Laune nicht nehmen. Er freute sich auf den wohlverdienten Urlaub.

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Beliebtheit




Sophienlust (ab 351) – 412 –

Der Augenblick der Wahrheit

Für Yvonne wird sich alles ändern

Marisa Frank

»Ist es noch weit?« fragte Yvonne Bring. Sie fand das Autobahnfahren langweilig.

Marianne Bring drehte sich zu ihr um. »Noch sehr weit, Schätzchen. Wir sind noch nicht einmal in Bayern.«

»Aber wir fahren schon so lange«, maulte Yvonne.

»Yvonne hat recht. Wir sollten eine Pause machen.« Kurz nahm Georg Bring seinen Blick von der Fahrbahn und lächelte seiner Frau zu.

»Es ist sehr viel Verkehr. Wir kommen langsamer vorwärts als erwartet«, meinte Marianne Bring. Sie beugte sich vor und fummelte am Radio herum. »Hoffentlich gibt es nicht noch einen größeren Stau.«

»Dann halten wir wirklich an. Wenn es sein muß, fahren wir von der Autobahn ab und übernachten.« Georg Bring ließ sich seine gute Laune nicht nehmen. Er freute sich auf den wohlverdienten Urlaub.

»Das wäre schade«, meldete sich Yvonne wieder vom Rücksitz. »Ich freue mich doch schon auf die Tiere. Mami hat extra meine alten Hosen eingepackt. Damit darf ich in den Stall gehen. Nicht wahr?« Erwartungsvoll rutschte sie auf dem Rücksitz hin und her.

»Wenn Mami es gesagt hat…« Georg Bring schmunzelte. Er wußte, wie sehr Yvonne Tiere liebte. Daher hatten sie beschlossen, dieses Jahr Urlaub auf einem Bauernhof zu machen.

»Mami hat es versprochen«, trumpfte Yvonne auf. »Ich darf zusehen, wenn die Kühe gemolken werden. Auch werde ich zu den kleinen Ferkeln gehen. Nicht wahr, Mami, die Bäuerin hat geschrieben, daß sie kleine Ferkel haben.«

»Stimmt, mein Schatz. Es gibt auch kleine Kätzchen und zwei kleine Schäfchen.«

»Mami, ich kann es gar nicht mehr erwarten«, gestand Yvonne. Sie beugte sich weit zu den Sitzen ihrer Eltern vor.

»Yvonne, du mußt dich anschnallen«, mahnte die Mutter. »Wenn Vater plötzlich bremsen muß, schaffst du es nicht, dich festzuhalten, und tust dir weh!«

»Ach, Mami!« Plumpsend ließ sich Yvonne wieder auf den Rücksitz fallen.

»Sollen wir nicht doch anhalten?« fragte Marianne Bring ihren Mann.

»Wenn ihr wollt, dann machen wir eine Pause. Soll ich beim nächsten Rasthaus halten?«

»Nein, dann dauert es ja noch länger.« Wieder beugte sich Yvonne vor. »Papi soll schneller fahren.«

Sofort protestierte die Mutter. »Wir wollen nicht hetzen.«

»Das geht mit unserem Auto sowieso nicht. Es fährt ja nicht schneller als hundertfünfzig. Einen Sportwagen müßte man haben.« Yvonne preßte ihr Gesicht an die Scheibe neben sich, denn gerade wurden sie von einem schnittigen Coupé überholt.

»Nur keine Sorge, wir kommen schon an unser Ziel. Die nächsten Ausfahrt ist bereits Maibach.«

»Maibach… Noch nie gehört. Ich kenne nur Stuttgart, Frankfurt, Nürnberg«, sagte Yvonne.

»Maibach ist auch nur ein kleines Städtchen, aber es ist eine Kreisstadt«, erklärte Georg Bring.

»Hm«, machte Yvonne. Dafür interessierte sie sich nicht. Sie war gerade zehn Jahre alt geworden, und im Moment galt ihr Interesse allem, was da kreuchte und fleuchte.

»Papi, wann werden wir denn dort sein?« fragte sie erneut.

»Das kann ich nicht sagen, aber es wird schon später werden. Du siehst ja selbst, daß der Verkehr immer dichter wird.«

»Dann schnalle ich mich an«, meinte Yvonne. »Ich mache die Augen zu und versuche zu schlafen. Dann vergeht die Zeit auch, und ich bin munter, wenn wir auf dem Baunerhof ankommen.«

»Das ist eine gute Idee«, lobte die Mutter. »Versuche zu schlafen.«

Yvonne gähnte und lehnte den Kopf an. Sie schloß die Augen und stellte sich den Bauernhof vor. Am meisten freute sie sich auf die kleinen Kätzchen. Sie wünschte sich schon lange eins.

»Ich glaube, Yvonne ist eingeschlafen«, hörte sie die Mutter sagen.

»Fast, Mami«, sagte Yvonne. »Ich träume aber schon. Ich träume von den kleinen Kätzchen. Mami, ich träume von einem, das mir ganz allein gehört.«

»Na gut«, gab Marianne Bring nach. »Wir sprechen nach den Ferien nochmals darüber.«

»O Mami! Du bist die beste Mami der Welt!«

Es war das letzte, was Yvonne zu ihrer Mutter sagen konnte, denn in diesem Moment krachte es. Yvonne wurde durchgeschüttelt. Sie kam nicht einmal dazu zu schreien.

Ein Auto war ins Schleudern geraten und direkt in den Wagen der Brings hineingefahren. Der Unfall war schrecklich. Georg Bring konnte nur noch tot hinter dem Lenkrad hervorgezogen werden. Marianne Bring war schwer verletzt. Man ließ Yvonne, die aus einer Kopfwunde stark blutete, sonst aber offensichtlicht nur leicht verletzt war, nicht zu ihrer Mutter. Die Zehnjährige war auch zu benommen, um sich dagegen wehren zu können. Leise vor sich hin schluchzend, saß sie am Straßenrand. Sie nahm nicht einmal wahr, daß ihre Mutter auf die Bahre gelegt und in einen Krankenwagen geschoben wurde.

Auf der Fahrt zum Krankenhaus kam Marianne Bring noch einmal zu sich. Sie hatte große Schmerzen, und das Sprechen fiel ihr schwer, aber trotzdem versuchte sie es.

»Mein Mann… das Auto…« Sie versuchte im Gesicht des Arztes, der sich um sie bemühte, zu lesen.

»Tot?« fragte sie. Sie mußte husten, wobei Blut aus dem Mund lief.

Der Arzt bemühte sich um sie. Es dauerte einige Minuten, bis sie wieder sprechen konnte.

»Yvonne, was ist mit Yvonne?«

Der Arzt wischte ihr das Blut von den Lippen. Mehr konnte er für sie nicht tun.

»Bitte!« Marianne Bring versuchte sich aufzurichten. »Was ist mit ­Yvonne?«

»Ihre Tochter ist kaum verletzt, aber Sie müssen ruhig liegenbleiben«, sagte der Arzt. Wie zur Bestätigung seiner Worte schoß ein neuer Blutstrom aus dem Mund der Verletzten.

Kaum daß Frau Bring wieder sprechen konnte, faßte sie nach der Hand des Arztes. »Hören Sie zu«, flüsterte sie. »Ich habe nicht mehr viel Zeit. Yvonne ist nicht meine Tochter. Hören Sie, man muß nach ihrer richtigen Mutter suchen, sonst ist das Kind ganz allein.«

Marianne Bring rang nach diesen Worten heftig nach Atem. Ihre Augen wurden ganz groß. Sie kämpfte mit dem Tod. Aber nochmals riß sie sich zusammen. Die Sorge um Yvonne war stärker als alles andere.

»Wir haben Yvonne adoptiert, als sie noch ein Baby war. Ihre richtige Mutter ist…« Die Stimme drohte ihr zu versagen. Der Arzt beugte sich deshalb noch tiefer über sie. »Julia Stein! Man muß Julia Stein suchen. Yvonne ist ein lediges Kind von ihr. Haben Sie verstanden?«

Jetzt hatte Marianne Bring keine Kraft mehr, die Hand des Arztes zu drücken, aber sie sah, daß er nickte.

Gleich darauf richtete sich der Arzt auf. Er konnte für diese Frau nichts mehr tun.

Yvonne wurde ebenfalls ins Krankenhaus gebracht. Erst als man sie auf die Liege im Untersuchungsraum legte, sträubte sie sich. Sie schlug nach den Händen der Krankenschwester, die sie festhielten.

»Mami, ich will zu meiner Mami! Mein Papi und meine Mami dürfen nicht ohne mich zu dem Bauernhof fahren.«

Frau Dr. Krimes sprach beruhigend auf das Kind ein, aber Yvonne hörte ihr gar nicht zu.

»Ich muß weg! Mami und Papi warten auf mich. Wir wollen zum Bauernhof.« Yvonne richtete sich auf, ließ sich aber sofort wieder mit einem Aufstöhnen zurücksinken. »Mein Kopf. Es tut so weh…«

»Ich weiß. Deshalb mußt du auch ganz still liegenbleiben. Ich untersuche dich jetzt, und dann bekommst du einen dicken, weißen Verband.« Die Ärztin strich dem Kind beruhigend über sie Stirn.

»Ich muß doch zu Mami und Papi«, schluchzte Yvonne. »Auf mich warten doch die Kätzchen.« Immer heftiger fing sie an zu weinen.

Die Ärztin wandte sich an die Krankenschwester. »Wir müssen dem Kind eine Beruhigungsspritze geben.« Sie nannte das Mittel, und die Schwester ging, um die Spritze aufzuziehen.

Eine Stunde später saß Frau Dr. Krimes dem Chefarzt gegenüber.

»Das Kind hat eine schwere Gehirnerschütterung und eine offene Kopfverletzung. Sonst konnte ich nichts feststellen.«

»Die Eltern des Mädchens sind tot«, entgegnete der Chefarzt und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Das Schicksal hatte an diesem herrlichen Sommertag wieder einmal zugeschlagen.

»Mein Gott«, entfuhr es der Ärztin. »Wie heißt die Kleine eigentlich?«

»Yvonne, Yvonne Bring.« Nervös begann Dr. Schifko mit dem Kugelschreiber zu spielen. »Da gibt es noch ein Problem. Yvonne wurde von Herrn und Frau Bring adoptiert. Bevor Frau Bring starb, galt ihre einzige Sorge Yvonne. Offensichtlich gibt es jetzt niemanden, der sich um das Kind kümmert.« Dr. Schifko machte eine kurze Pause. »Die Verstorbene nannte den Namen von Yvonnes richtiger Mutter.« Er sah die Ärztin an. »Frau Kollegin, was sollen wir jetzt tun? Müssen wir uns ans Jugendamt wenden?«

»Vierzehn Tage bis drei Wochen muß Yvonne auf alle Fälle bei uns bleiben«, meinte die Ärztin. Sie überlegte. »Können wir nicht Frau von Schoenecker verständigen?«

Dr. Schifko hob erfreut den Kopf. »Warum habe ich nicht gleich daran gedacht? Frau von Schoenecker hat uns schon oft geholfen. Ich werde sie gleich um ihren Besuch bitten. Sie versteht es ausgezeichnet, mit Kindern umzugehen. Immer findet sie die richtigen Worte. Das habe ich schon öfter erlebt. Yvonne wird nach ihren Eltern fragen, und man kann ihr deren Tod nicht verschweigen.«

Bekümmert nickte die Ärztin. »Soviel ich aus ihrem Gestammel mitbekommen habe, waren die drei auf der Fahrt in den Urlaub. Ich hatte Mühe, das Kind ruhig zu halten. Jetzt schläft Yvonne, aber die Beruhigungsspritze war nicht sehr stark. Das Kind wird bald wieder aufwachen.«

»Gut, ich setze mich sofort mit Frau von Schoenecker in Verbindung.« Dr. Schifko war erleichtert. Er schätzte Denise von Schoenecker sehr. Oft war er auch Gast auf Gut Schoeneich, dem Familienbesitz. Dieses Gut wurde von Denise von Schoeneckers Mann, Alexander von Schoenecker, verwaltet. Denise von Schoenecker selbst verwaltete ein Kinderheim, das Kinderheim Sophienlust.

Daher fügte der Chefarzt nun noch hinzu: «Wenn man bis zu Yvonnes Entlassung aus dem Krankenhaus die richtige Mutter nicht gefunden hat, wird Frau von Schoenecker das Kind sicher nach Sophienlust nehmen.«

Jetzt griff der Arzt nach dem Telefonhörer, um in dem Kinderheim Sophienlust anzurufen.

*

»Mutti!« Henrik, ein neunjähriger Junge, raste die Freitreppe des Kinderheims herab und mitten in die Auffahrt hinein. Zum Glück hatte Denise von Schoenecker ihn kommen sehen und ihren Wagen rechtzeitig abgebremst.

»Was fällt dir ein!« Unwillige Falten erschienen auf Denises jugendlichem Gesicht. »Ich habe es eilig.«

»Aber ich muß dir etwas sagen.« Ungeniert steckte Henrik seinen Kopf ins Autofenster. »Du mußt mit Nick schimpfen. Er hat mich schon wieder einmal weggeschickt. So klein bin ich doch gar nicht mehr.« Unwillkürlich stellte er sich auf die Zehenspitzen.

»Etwas anderes hast du mir nicht zu sagen?«

»Aber das ist wichtig. Ich möchte auch mitmachen.«

»Henrik, bitte, ich habe keine Zeit.«

Aber der Junge war so wütend auf seinen älteren Bruder Nick, daß er den strengen Ton in der Stimme seiner Mutter überhörte. »Wenn Nick dir etwas sagt, dann hast du immer Zeit«, beklagte er sich. »Er darf tun und lassen, was er will. Um mich kümmert sich keiner.«

Henrik machte ein so beleidigtes Gesicht, daß Denise ihm über den braunen Haarschopf strich. Danach meinte sie ernst: »Ich bin auf dem Weg zu einem zehnjährigen Mädchen, das sich nirgends mehr beklagen kann.«

»Wie meinst du das, Mutter?« Jetzt sah Henrik seiner Mutter doch etwas unsicher ins Gesicht.

»Das Mädchen, zu dem ich fahre, hat heute Vater und Mutter verloren. Es liegt im Krankenhaus.«

»Oh! Das wußte ich nicht.« Henrik war bestürzt. Er machte sich gern wichtig, aber er war auch sehr hilfsbereit.

»Mutti, du mußt sie trösten. Sag ihr…« Henrik überlegte. »Erzähle ihr von uns. Nein, am besten ist, du

fährst ganz schnell zu ihr. Tschüs, Mutti!« Er sprang vom Auto zurück.

»Vertrage dich wieder mit Nick«, rief Denise ihm noch zu, dann gab sie Gas.

»Jetzt habe ich ganz vergessen, nach dem Namen des Mädchens zu fragen«, murmelte Henrik. Mit gesenktem Kopf stieg er die Freitreppe wieder hinauf. Das Schicksal des unbekannten Mädchens beschäftigte ihn.

Auch seine Mutter dachte an Yvonne. Sie hatte keine Sekunde gezögert, der Bitte des Chefarztes Folge zu leisten. Sie hatte ihm auch bereits zugesichert, sich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen. Sollte man die Anschrift dieser Julia Stein finden, mußte auf alle Fälle erst geprüft werden, ob sie gewillt war, sich nun um ihr Kind zu kümmern. Aber das war im Moment alles Nebensache. Vor Denise lag eine weit wichtigere Aufgabe. Wahrscheinlich würde Yvonne sofort nach den beiden Menschen fragen, die sie für ihre Eltern hielt. Denise hatte noch nie etwas davon gehalten, ein Kind zu belügen. Sie, die nie etwas unversucht ließ, wenn es darum ging, einem Kind zu helfen, fuhr zügig. Bald hatte sie die Kreisstadt erreicht und parkte vor dem Krankenhaus.

Der Chefarzt kam ihr auf dem Gang entgegen.

»Ich danke Ihnen, daß Sie so schnell gekommen sind.« Dr. Schifko drückte Denises Hand. »Kommen Sie.« Er ging voraus, führte Denise an dem Operationssaal vorbei in die Wachstation.

»Sie schläft noch«, sagte eine Krankenschwester, als sie den Chefarzt bemerkte. »Ich habe soeben nach ihr gesehen.«

»Gut, dann haben wir noch etwas Zeit. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« Dr. Schifko sah Denise von Schoenecker an.

Diese schüttelte den Kopf. »Danke, jetzt nicht. Ich würde Yvonne gern sehen.«

»Natürlich.« Der Chefarzt öffnete eine Tür.

Leise betrat Denise den Raum. Sie sah auf das blasse Mädchengesicht, dessen hellblondes Haar jetzt fast von einem dicken Verband verdeckt wurde. Mitleid erfüllte ihr Herz. Wie würde die Zukunft dieser Kleinen aussehen?

Plötzlich kam Leben in das Kind. Es warf sich von einer Seite auf die andere und schrie dann.

Mit wenigen Schritten war der Chefarzt am Bett. Denise war ihm aber zuvorgekommen. Sie hielt Yvonne, die hochgefahren war, bereits in ihren Armen.

»Ruhig, es ist alles gut.« Liebevoll strich Denise bei diesen Worten dem Mädchen über den Rücken.

Diese beschwörenden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Yvonne lehnte sich an Denise und ließ sich streicheln, doch dann kam ihr die Erinnerung.

»Mami! Wo ist Mami?« Sie stemmte sich gegen Denise.

»Du mußt dich wieder hinlegen«, meinte Denise. »Tut dir dein Kopf nicht weh?«

»Nein, ich muß aufstehen.« Yvonne schlug die Bettdecke zurück.

Diese Bewegung war nun doch viel zu hastig gewesen. Yvonne stöhnte auf. »Das Bett wackelt, alles schwankt…« Sie klammerte sich an Denise.

Vorsichtig legte diese das Mädchen wieder ins Bett zurück.

»Du hast dir deinen Kopf ganz kräftig angestoßen. Deshalb wird dir schwindlig, wenn du dich aufsetzt«, erklärte sie. »Das beste ist, du bleibst ruhig liegen. Ich leiste dir dabei Gesellschaft.« Dann sah sie aber, daß der Chefarzt sein Stethoskop zur Hand nahm. Sie trat etwas zur Seite und meinte: »Zuerst wird dich jedoch der Herr Doktor abhören.«

»Kannst du das nicht… können Sie das nicht?« Flehend streckte Yvonne ihre Hand nach Denise aus.

Denise freute sich darüber. Offensichtlich hatte das Kind zu ihr Vertrauen gefaßt. Dies würde das spätere Gespräch erleichtern. Rasch nahm sie die kleine Hand in die ihre.

»Nein, das kann ich nicht. Ich bin kein Arzt, aber du kannst du zu mir sagen.«

»Das geht doch nicht. Du bist erwachsen.« Yvonne drehte den Kopf, um Denise genau zu betrachten. Dabei spürte sie wieder den stechenden Schmerz. »Es tut so weh. Bitte, bitte, hilf mir!«

»Du darfst dich nicht bewegen«, meinte nun Dr. Schifko. »Wenn du ganz still liegst, dann tut es nicht weh, oder?«

»Nicht gar so arg«, gab Yvonne zu. Sie schloß die Augen, riß sie aber gleich wieder auf. »Schnell, untersuchen Sie mich! Wir müssen doch ganz schnell weiterfahren, sonst kommen wir nicht zu dem Bauernhof.« Gleich darauf jammerte sie jedoch: »Mir ist so schlecht.«

Erschrocken sah Denise den Chefarzt an. Diese beruhigte sie. »Bei Gehirnerschütterungen ist Brechreiz oder Erbrechen etwas völlig Natürliches.«

»Bin ich sehr krank, Herr Doktor?« fragte Yvonne. Sie lag jetzt völlig bewegungslos im Bett.

»In drei Wochen kannst du wieder herumspringen«, antwortete Dr. Schifko. Dann beugte er sich über sie und begann sie abzuhören. Zufrieden richtete er sich wieder auf. Die Atmung war nicht mehr flach, und der Puls ging auch bereits wieder regelmäßig.

»Aber dann ist unser Urlaub ja vorbei.« Unter Yvonnes geschlossenen Augen rannen Tränen hervor.

»Die Ferien haben doch erst begonnen«, sagte der Chefarzt etwas hilflos und trat zur Seite. Alles Weitere wollte er Frau von Schoenecker überlassen.

Yvonne streckte auch sogleich die Hand nach Denise aus. »Drei Wochen sind sehr, sehr lange.« Sie fing an zu schluchzen.

»Du mußt viel schlafen. Da geht die Zeit rasch vorbei.«

Yvonne öffnete die Augen. Sie versuchte nachzudenken, aber so recht wollte ihr das nicht gelingen.

»Bist du eine Tante?« fragte sie.

»Ich bin eine Tante von vielen Kindern.« Denise lächelte das Mädchen liebevoll an.

»Aber ich kenne dich nicht. Du bist nicht meine Tante!«

»Ich möchte aber deine Tante werden.« Denise setzte sich an den Bettrand.

Wieder schien Yvonne zu überlegen. Der Chefarzt, der am unteren Rand des Bettes stand, wunderte sich. Eigentlich hatte er erwartet, daß ­Yvonne sofort nach ihren Eltern fragen würde. Nach einiger Zeit fragte das Mädchen statt dessen: »Wo bin ich eigentlich?«

Diesmal zögerte Denise mit der Antwort. Dann sagte sie jedoch: »Im Krankenhaus. Du hast einen Kopfverband bekommen.« Sie nahm Yvonnes Hand und führte sie sachte zum Kopf.

»Oh!« Vorsichtig betastete Yvonne ihren Kopf. »Kann ich einen Spiegel haben?« fragte sie dann.

»Aber natürlich.« Während Denise noch in ihrer Handtasche danach kramte, ging mit Yvonne eine Veränderung vor. Ihr Blick wurde ganz starr. Abwehrend streckte sie beide Hände aus.

»Das Auto… Wir sind gefahren und dann… Mami… wo ist meine Mami?« Die letzten Worte hatte Yvonne geschrien. Die Erinnerung hatte sie überwältigt.

»Ruhig, Yvonne, ruhig.« Denise beugte sich über das Kind.

Doch Yvonne bäumte sich auf. Mit großen, weit aufgerissenen Augen sah sie über Denise hinweg.

»Die Kätzchen… wir sprachen von den Kätzchen… dann kam das Auto…« Yvonne atmete heftig. Sie wäre hochgefahren, hätte Denise sie nicht an den Schultern festgehalten. »Es fuhr in Papi hinein.« Yvonnes Stimme war jetzt nur noch ein Wimmern.