Blick in die Zukunft - Elisabeth Swoboda - E-Book

Blick in die Zukunft E-Book

Elisabeth Swoboda

5,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Die Bewohner von Sophienlust saßen im Speisesaal beim Abendessen. Vor allem die Kinder legten einen erstaunlichen Appetit an den Tag. Sie waren am Nachmittag mehrere Stunden lang an der frischen Luft gewesen und nun entsprechend hungrig. Außerdem hatte die Köchin Magda ihre Kochkünste wieder einmal unter Beweis gestellt. Als Hauptgericht gab es gefüllte Kalbsbrust mit Gemüsereis und verschiedenen Salaten. »Ach, Pünktchen, reichst du mir bitte die Schüssel mit dem Kartoffelsalat herüber?«, bat Irmela Groote, ein großes schlankes Mädchen, zurzeit eines der ältesten Kinder von Sophienlust. »Tut mir leid. Die Schüssel ist leer«, erwiderte Pünktchen, die diesen Spitznamen den lustigen Sommersprossen verdankte, die auf ihrem Stupsnäschen tanzten. Mit vollem Namen hieß sie Angelina Dommin, aber kaum jemand redete sie so an. »Möchtest du von dem Gurkensalat, Irmela?« »Nein, danke. Eigentlich habe ich ohnehin schon genug gegessen. Bloß vom Kartoffelsalat hätte ich gern noch eine zweite Portion gehabt. Er schmeckt einfach köstlich.« »Möchtest du meinen Salat?«, fragte da die Huber-Mutter. »Ich habe noch nichts davon gegessen, er ist noch unberührt«, fügte sie hinzu und schob ihren Salatteller zu Irmela hinüber.

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Leseprobe: Sophienlust 296

»Mutti, hier ist eine Eisdiele.« Henrik wollte über die Straße stürmen, doch Denise von Schoeneckers Hand hielt ihn gerade noch rechtzeitig fest. »Moment, mein Sohn. Wir sind doch in die Stadt hereingefahren, um Einkäufe zu machen. Wir wollten vor allem Geschenke kaufen. Zwei unserer Kinder haben nächste Woche Geburtstag.« Henrik seufzte laut und deutlich. »Du hast recht«, gestand er dann. Kurz fixierte er seine Schuhspitzen, dann hob er wieder entschlossen den Kopf und fragte: »Ich war doch brav, nicht wahr? Kein Wort habe ich gesprochen, als du deinen Besuch gemacht hast.« Seine grauen Augen forschten erwartungsvoll im Gesicht der Mutter. Denise von Schoenecker, die Verwalterin des Kinderheims Sophienlust, strich ihrem Jüngsten über den widerspenstigen Haarschopf. Sie lächelte. »Ich kann nicht sagen, daß du kein Wort gesprochen hast, aber du hast ausnahmsweise einmal nicht zuviel gesprochen.« Zuerst sah es so aus, als wollte sich das Gesicht des Neunjährigen beleidigt verziehen, doch dann besann sich der Junge eines Besseren. Er frohlockte: »Also, gib schon zu, daß ich brav war.« Denise nickte. »Und weißt du, was du mir versprochen hast, wenn ich mich gesittet benehme?« trumpfte Henrik auf.

Sophienlust (ab 351) – 418 –

Blick in die Zukunft

Können die Kinder aus Sophienlusts ein Unglück verhindern?

Elisabeth Swoboda

Die Bewohner von Sophienlust saßen im Speisesaal beim Abendessen. Vor allem die Kinder legten einen erstaunlichen Appetit an den Tag. Sie waren am Nachmittag mehrere Stunden lang an der frischen Luft gewesen und nun entsprechend hungrig. Außerdem hatte die Köchin Magda ihre Kochkünste wieder einmal unter Beweis gestellt. Als Hauptgericht gab es gefüllte Kalbsbrust mit Gemüsereis und verschiedenen Salaten.

»Ach, Pünktchen, reichst du mir bitte die Schüssel mit dem Kartoffelsalat herüber?«, bat Irmela Groote, ein großes schlankes Mädchen, zurzeit eines der ältesten Kinder von Sophienlust.

»Tut mir leid. Die Schüssel ist leer«, erwiderte Pünktchen, die diesen Spitznamen den lustigen Sommersprossen verdankte, die auf ihrem Stupsnäschen tanzten. Mit vollem Namen hieß sie Angelina Dommin, aber kaum jemand redete sie so an. »Möchtest du von dem Gurkensalat, Irmela?«

»Nein, danke. Eigentlich habe ich ohnehin schon genug gegessen. Bloß vom Kartoffelsalat hätte ich gern noch eine zweite Portion gehabt. Er schmeckt einfach köstlich.«

»Möchtest du meinen Salat?«, fragte da die Huber-Mutter. »Ich habe noch nichts davon gegessen, er ist noch unberührt«, fügte sie hinzu und schob ihren Salatteller zu Irmela hinüber.

»Aber Huber-Mutter, isst du ihn denn nicht selbst? Schmeckt dir heute das Essen nicht? Du hast ja auch noch das ganze Fleisch auf deinem Teller liegen. Dabei magst du gefüllte Kalbsbrust doch so gerne. Ist dir nicht gut? Bist du krank?«, erkundigte sich Irmela besorgt.

»Ich bin völlig gesund. Macht euch um mich keine Sorgen«, wehrte die Greisin ab. Doch mittlerweile war auch Regine Nielsen, die Kinderschwester, aufmerksam geworden.

»Huber-Mutter, mit dir stimmt etwas nicht«, stellte sie mit gespielter Strenge, die ihre Besorgnis überdecken sollte, fest. Immerhin war die Huber-Mutter eine betagte Frau – in ihrem Alter mussten auch kleinere Unpässlichkeiten ernst genommen werden. »Ich fürchte, du hast dir heute mit deiner Fahrt nach Maibach zu viel zugemutet«, fuhr sie fort. »Ich hätte dich doch lieber mit dem Wagen hinbringen sollen.«

»Aber nein«, beteuerte die Greisin. Das Aufhebens, das man um sie machte, war ihr höchst unangenehm. Sie war dankbar, dass sie ihren Lebensabend in Sophienlust verbringen durfte, aber sie wollte niemandem zur Last fallen.

»Oder du hättest uns deinen Kräutersaft einfach morgen mitgeben können«, sagte Pünktchen. »Wir hätten ihn dann nach der Schule zu Herrn Direktor Stockinger gebracht. Bis morgen hätte er schon noch darauf warten können.«

»Er hätte ihn sich auch selber holen können«, warf Fabian ein.

»Sehr richtig«, pflichtete Angelika Langenbach dem Jungen bei. »Aber anstatt sich selbst herzubemühen, bestellt er unsere arme alte Huber-Mutter in die Stadt!«

»Aber, Kinder, ihr seht das ganz falsch«, sagte die Greisin. »Der Ausflug nach Maibach hat mir Spaß gemacht – zuerst wenigstens. Ich freute mich über die Abwechslung. Und warum sollte ich dem Direktor Stockinger seinen Saft nicht in sein Büro liefern? Er ist ein viel beschäftigter Mann, während ich eine Menge Zeit habe. Zum Glück bin ich noch rüstig und somit nicht zur Untätigkeit verurteilt.«

Die Kinder nickten zustimmend. Sie wussten, dass die Huber-Mutter in der warmen Jahreszeit allerlei Kräuter sammelte, sie teilweise gleich zu Säften verarbeitete, teilweise sorgfältig trocknete und für späteren Gebrauch aufhob. Ihr Kundenkreis war vielfältig. Nicht nur in Wildmoos, auch in der nahegelegenen Kreisstadt Maibach gab es Leute, die auf die Heilkraft der von ihr gesammelten Kräuter schworen.

»Aber warum bist du heute so niedergeschlagen, Huber-Mutter?«, fragte Pünktchen und kam somit wieder auf den Ausgangspunkt des Gespräches zurück. »War der Direktor Stockinger mit dem Saft, den du ihm gebracht hast, nicht zufrieden?«

»O doch, er versicherte mir, dass er äußerst zufrieden ist, und dass ihm nur mein Hustensaft gegen seinen lästigen Reizhusten hilft. Allerdings fürchte ich, dass auch mein Absud aus Primelwurzeln und verschiedenen anderen Pflanzen auf die Dauer bei Herrn Direktor Stockinger wirkungslos bleiben wird«, erwiderte die alte Frau düster.

»Ah, sagt dir das deine seherische Gabe?«, fragte Fabian interessiert. Die Tatsache, dass die Huber-Mutter schon öfter Ereignisse vorausgesehen hatte, die dann wirklich eingetroffen waren, erfüllte die Kinder einerseits mit einer gewissen Scheu, andererseits jedoch mit einer stets wachen Neugier.

»Nein, dazu brauche ich keine seherische Gabe«, erwiderte die alte Frau auf Fabians Frage. »Herr Direktor Stockinger raucht nämlich wie ein Schlot. Es liegt auf der Hand, dass mein Primelextrakt gegen seinen Raucherhusten keine Chance hat. Er müsste erst einmal seinen Zigarettenkonsum einschränken. Das habe ich ihm auch klipp und klar ins Gesicht gesagt.« Sie verstummte und blickte nachdenklich vor sich hin. Die beiden Hausmädchen Lena und Ulla waren unterdessen damit beschäftigt, die leeren Teller abzuräumen und den Nachtisch auszuteilen: Gebratene Äpfel in Vanillesoße. Die Huber-Mutter reichte Ulla geistesabwesend ihren Teller mit dem kalt gewordenen Stück Kalbsbrust, nahm dafür das Dessert entgegen und stocherte mit dem Löffel gedankenverloren in der Vanillesoße herum.

Regine Nielsen und die Kinder wechselten bestürzte Blicke. Irgendetwas Unangenehmes war der Huber-Mutter in Maibach zugestoßen, so viel war klar. Aber was mochte passiert sein?

»Ich habe mich blamiert«, murmelte die alte Frau endlich.

»Blamiert?«, wiederholte Pünktchen und lachte etwas unsicher. »Weil du dem Direktor nahegelegt hast, dass er weniger rauchen soll?«

»Nein, das meine ich nicht. Zu diesem Zeitpunkt war noch alles in Ordnung. Ihr wisst ja, Herr Stockinger ist Direktor einer Versicherungsgesellschaft. Ich saß bei ihm in seinem noblen Büro in einem weich gepolsterten Ledersessel. Wir plauderten gemütlich. Ich freute mich, weil er mir erstens versprach, wirklich weniger zu rauchen, und zweitens, dass er meine Kräuterextrakte an seine Bekannten weiterempfehlen werde. – Na ja, nach einer Weile habe ich mich dann verabschiedet und bin gegangen. Das Wetter war heute so schön, deshalb wollte ich nicht gleich zurück nach Wildmoos fahren. Ich machte einen kleinen Schaufensterbummel und schaute mir die neue Frühjahrsmode in den Auslagen an. – Nicht, dass zartgrüne Hosenröcke oder gar türkisfarbene Schuhe für mich in Betracht kämen«, schränkte die alte Frau ein, lächelte ein bisschen, wurde jedoch rasch wieder ernst. »Ich war weder müde, noch schlecht aufgelegt oder bedrückt«, erzählte sie weiter. »Im Gegenteil, ich fühlte mich heiter und zufrieden. Ich malte mir aus, wie hübsch unsere Mädchen – Pünktchen, Irmela und die anderen – in den hellen Pullis und Kleidern, die heuer modern sind, aussehen würden. Da begegnete mir plötzlich dieser Mann.« Sie machte eine Handbewegung, als ob sie etwas Unangenehmes fortwischen wollte, runzelte die Stirn und schloss für eine Sekunde die Augen.

»War es ein böser Mann?«, piepste. Heidi Holsten mit ihrem hellen Stimmchen. Sie zählte zu den jüngsten Kindern von Sophienlust und zögerte nicht, unverblümt auszusprechen, was ihr gerade durch den Sinn ging.

»Bist du von diesem Mann bedroht worden?«, fragte nun auch die Kinderschwester. Sie entsann sich, erst unlängst in der Zeitung von einem jugendlichen Rowdy gelesen zu haben, der älteren Frauen die Handtaschen wegriss und auch nicht davor zurückschreckte, seine Opfer niederzuschlagen, wenn sie sich wehrten. »Huber-Mutter, so antworte doch«, bat Schwester Regine. »Bist du überfallen worden? Hat dir dieser Mann deine Tasche geraubt?«

»Äh – nein – was sagst du da, Schwester Regine?« Es schien der alten Frau Schwierigkeiten zu bereiten, sich von ihren Gedanken zu lösen und in die Gegenwart zurückzufinden.

Regine Nielsen wiederholte ihre ängstlichen Fragen, worauf die Huber-Mutter heftig den Kopf schüttelte. »Ihr habt mich missverstanden«, erklärte sie. »Der fremde Mann hat mir nichts getan. Es war ein völlig harmloser Passant, ein …, ein typischer Durchschnittsbürger. Jung, das heißt, euch würde er wohl nicht jung vorkommen. Aber mir erschien er jung. Wenn man einmal die siebzig hinter sich hat, erscheinen einem alle Leute unter fünfzig wie junges Gemüse«, meinte sie mit einem schwachen Lächeln.

Den Kindern war die Schilderung der alten Frau viel zu weitschweifig. Sie rutschten vor lauter Ungeduld auf ihren Stühlen herum. Es war mucksmäuschenstill in dem großen Speisesaal, alle spitzten die Ohren.

»Bitte, Huber-Mutter, sag schon … Was ist denn nun wirklich passiert? Was war los mit dem fremden jungen Mann? Wie alt war er nun tatsächlich?«, drängte Pünktchen.

»Das weiß ich nicht. Ich habe ihn natürlich nicht nach seinem Alter gefragt. Alles geschah so blitzschnell. Wie gesagt, an dem Mann war nichts Bemerkenswertes. Ich kann mich nicht einmal genau daran erinnern, wie er ausgesehen hat – durchschnittlich eben. Korrekt gekleidet, Anzug. Krawatte, kurze Haare, Brille, glatt rasiert – also bestimmt kein Hippie oder Rocker – oder wie man diese Typen heutzutage nennt.«

»Warum betonst du es so, dass es sich um keinen ausgeflippten Typen handelte?«, warf Irmela ein, als die Huber-Mutter neuerlich eine Pause einlegte.

»Ich – hm – weil das, was dann passierte, so wenig zu dem Mann passte«, erwiderte die alte Frau zögernd. »Ich stand an einer Kreuzung und wartete, dass die Ampel grün würde, da kam dieser Mann näher. Er ging weder schnell noch langsam – äh – alles war ganz normal. Aber wie er so auf mich zukam, hatte ich plötzlich die Vision sonniger Badestrände, ich sah das weite blaue Meer, ein großes Schiff und fröhliche, ausgelassene Menschen. Dieses Bild war so deutlich und bezog sich so sehr auf den näher kommenden Mann, dass ich …, dass ich mich dazu hinreißen ließ, ihm laut eine gute Reise zu wünschen.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und schwieg dann erschöpft.

»Und das ist alles?«, fragte Pünktchen verblüfft. »Darüber regst du dich so auf, Huber-Mutter?«

»Nein, das ist nicht alles«, erwiderte die alte Frau leise. »Ich hatte offenbar etwas ganz Dummes gesagt, denn der Mann starrte mich für den Bruchteil einer Sekunde verwundert an, schnitt dann eine Grimasse und schüttelte den Kopf. Er hob die Hand und war nahe daran, sich auf die Stirn zu tippen, aber diese Geste unterließ er dann doch. Stattdessen eilte er rasch weiter – er wollte offensichtlich schnell von mir fortkommen, da er mich gewiss für eine Verrückte hielt. Es …, es war mir schrecklich peinlich, denn auch die Umstehenden, die bei der Ampel warteten, sahen mich an, blickten schnell wieder fort und grinsten.«

»Ach, Huber-Mutter, du nimmst einen harmlosen Zwischenfall viel zu tragisch«, sagte Regine Nielsen.

»Schwester Regine hat recht. Vergiss das Ganze, Huber-Mutter!«, riet Irmela.

»Nein, ich kann es nicht vergessen«, meinte die Greisin seufzend.

»Aber es ist doch ganz egal, was dieser fremde Mann über dich denkt!«, ereiferte sich Fabian. »Er kannte dich halt nicht und wusste deshalb nicht, dass du manchmal in die Zukunft sehen kannst. Du hast wahrscheinlich seine Urlaubsreise im Sommer vorausgesehen. Vielleicht hat er noch nicht gebucht und sich deshalb über deinen Glückwunsch gewundert. Und natürlich auch darüber, dass du als Fremde über seine Ferienpläne Bescheid wusstest.«

»Nein, das glaube ich nicht. Wir sahen uns nur ganz kurz in die Augen, in seinem Blick lag äußerstes Befremden. Aber darüber rege ich mich nicht so sehr auf. Ihr habt ja recht, es kann mir egal sein, was dieser Mann und die Leute auf der Straße über mich gedacht haben. Das …, das wahrhaft Grausige geschah kurz danach. Die Ampel hatte endlich auf Grün geschaltet, und ich beeilte mich, über die Straße zu kommen. Natürlich war ich in meinen Gedanken noch bei dem Mann und meinem unsinnigen Glückwunsch. Ich ärgerte mich, dass ich nicht den Mund gehalten hatte, und ein wenig auch über meine – hm – meine Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die anderen Menschen verborgen sind. Es ist …, es ist im Grunde genommen keine angenehme Fähigkeit.« Ihre Stimme war immer leiser geworden, sodass die weiter von ihr entfernt sitzenden Kinder sie nicht verstanden hatten.

»Was hast du gesagt, Huber-Mutter?«, krähte Heidi.

»Pst, Heidi. Sei still«, warnte die Kinderschwester das kleine Mädchen. Sie spürte, dass die Greisin sich erst jetzt dem bedeutsamen Punkt ihrer Erzählung näherte.

»Nein, es ist keine angenehme Fähigkeit«, wiederholte die Huber-Mutter langsam.

»Wieso denn nicht?«, fragte Vicky Langenbach, Angelikas jüngere Schwester. »Ich stelle mir das herrlich vor. Ich wäre froh, wenn ich deine Gabe besitzen würde, Huber-Mutter. Dann wüsste ich schon im Vorhinein, ob ich für eine Schularbeit etwas lernen muss, oder ob es mir gelingen wird zu schwindeln und von meiner Nachbarin abzuschreiben.«

»Tja, so einfach funktioniert das auch bei mir nicht, Vicky, leider oder vielmehr: Gott sei Dank. Ich möchte gar nicht wissen, was mir in Zukunft alles zustoßen wird. Ich glaube, wenn man alles vorher wüsste, dann wäre das Leben unerträglich. Mich hat jedenfalls die kurze Vision, die ich heute hatte, zutiefst beunruhigt.«

»Aber weswegen?«, warf Pünktchen ein. »Sonnige Strände sind doch etwas Schönes!«

»Ja, gewiss. Aber was danach kam, war weit weniger schön. Anstelle der sonnigen Strände und des Meeres sah ich plötzlich ein lichterloh brennendes Haus vor mir. Flammen schlugen aus dem Dachstuhl, die Fensterscheiben zerbarsten klirrend. Ich spürte sogar die Hitze, die von dem Feuer ausging. Ich musste husten, der Qualm reizte meine Luftröhre.«

Die Kinder und Regine Nielsen verharrten in einem bestürzten Schweigen, lediglich Heidi rief: »War denn keine Feuerwehr da, die das brennende Haus gelöscht hat?«

»Nein. Ach, Heidi, ich fürchte, du hast mich falsch verstanden«, sagte die Huber-Mutter. »Das Feuer war in Wirklichkeit gar nicht da. Ich bildete es mir bloß ein. Aber einen Augenblick lang war diese Einbildung so stark, dass es für mich Wirklichkeit war. Erst als ich husten musste und nach Atem rang, verschwand das grauenvolle Bild wieder. Alles war genauso wie zuvor. Ich befand mich auf der Hauptstraße von Maibach, Autos brausten vorüber. Menschen hasteten an mir vorbei. Eine junge Frau blieb sogar stehen und fragte mich, ob sie mir helfen könne. Zum Glück ging mein Hustenanfall jedoch rasch vorbei. Ich konnte wieder frei atmen.«

»Aber das Haus? Ist es niedergebrannt?«, fragte Heidi.

»Hast du denn überhaupt nichts begriffen, Heidi? Das brennende Haus existiert nicht, das war bloß von der Huber-Mutter eine …, eine …« Pünktchen suchte nach einem für das kleine Mädchen leicht fasslichen Ausdruck, fand jedoch keinen.

»Aber die Huber-Mutter hat doch gesagt, dass sie ein lichterloh brennendes Haus gesehen hat«, beharrte Heidi.

»Die Huber-Mutter hat …, sie hat sich geirrt«, meinte Fabian in dem Bestreben, Heidis Fragerei ein Ende zu setzen.

»Ja, ich habe mich geirrt«, bekräftigte die alte Frau. Leise, nur für die neben ihr Sitzenden hörbar, fügte sie hinzu: »Hoffentlich habe ich mich geirrt.«

»Du meinst also, dass tatsächlich irgendwo ein Haus gebrannt hat, Huber-Mutter?«, mutmaßte Pünktchen.

»Nein, ich fürchte eher, dass es sich um ein Ereignis handelt, das erst in Zukunft stattfinden wird«, erwiderte die alte Frau.

»Dann kann man es vielleicht verhindern!«, rief Pünktchen.

»Aber wie? Ich habe keine Ahnung, wo dieses Haus steht. Es braucht nicht einmal in Maibach zu sein. Seinem Aussehen nach, könnte es sich so ziemlich in jeder Gegend Mitteleuropas befinden. Das Einzige, worüber ich mir sicher bin, ist, dass es mit dem Mann, dem ich eine gute Reise wünschte, in Zusammenhang steht«, führte die Huber-Mutter aus.

»Darüber bist du dir sicher?«, zweifelte Irmela.

»Ja. Meine Gedanken kreisten doch noch immer um diesen Mann. Etwas nicht Greifbares und nicht Erklärbares ging von ihm aus und übertrug sich auf mich. Er hatte vor, in den Süden, ans Meer zu reisen. Und außerdem besteht ein Zusammenhang zwischen ihm und einem Haus, das in Flammen aufgeht«, behauptete die Huber-Mutter.

»Hältst du ihn für einen Brandstifter?«, erkundigte sich Pünktchen aufgeregt.

»Nein, das gerade nicht. Dafür wirkte er viel zu solide. Ach, wenn ich nur dieses grässliche Bild abschütteln könnte. Der Eindruck dieses brennenden Gebäudes war so überwältigend, dass ich nicht davon loskomme«, murmelte die alte Frau verzagt.

Ihre Zuhörerschar schwieg beeindruckt. Für die Kinder bedeuteten die hellseherischen Fähigkeiten der Huber-Mutter ein nicht erklärbares Phänomen. Schwester Regine, eine vernünftige junge Frau, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit stand, hatte in der Vergangenheit des Öfteren an ihnen gezweifelt, war aber stets eines Besseren belehrt worden. Es gab eben Dinge, die mit dem bloßen Verstand nicht zu fassen waren, und es gab Menschen, die über geheimnisvolle Kräfte verfügten. Die Huber-Mutter war ein gutes Beispiel dafür. Aber sie war gleichzeitig eine alte Frau, die sich schonen und möglichst nicht aufregen sollte. Deshalb war es wichtig, sie auf andere Gedanken zu bringen. Sie sollte nicht länger grübeln, ob und wann und wo die hässliche Vision, die sie gehabt hatte, stattfinden würde.

»Übrigens war ich heute Nachmittag unten im Dorf, Huber-Mutter«, erzählte die Kinderschwester, in dem gut gemeinten Bestreben, das Thema zu wechseln. »Heidi und ein paar weitere Kinder waren mit. Auf dem Kirchenplatz trafen wir die Lechner-Bäuerin. Sie kam mit ihrem Jüngsten gerade von Frau Dr. Frey. Der arme Junge leidet unter einem lästigen Ausschlag, der sich allerdings nicht immer bemerkbar macht. Die Kinderärztin stellte fest, dass es sich um nervöse Störungen handle, und dass sie leider nichts dagegen tun könne. Weißt du ein Mittel dagegen, Huber-Mutter? Der kleine Max klagt, dass diese roten Flecken fürchterlich jucken, wenn sie auftreten.«

»Hm, gegen den Juckreiz gibt es kaum etwas, das wirklich hilft«, antwortete die Greisin.

»Frau Dr. Frey hatte ihm schon früher eine Salbe verschrieben, aber die nützte nichts«, räumte die Kinderschwester ein.

»Man müsste das Übel an der Wurzel packen«, sinnierte die Huber-Mutter. »Merkwürdig … Die Lechners leben seit Generationen hier in Wildmoos. Sie sind eine sehr robuste Familie, bei ihnen ist kaum jemand je krank. Über nervöse Störungen hat sich noch keiner von ihnen beklagt.«

»Maxi hatte Schwierigkeiten in der Schule«, erklärte Regine Nielsen. »Er ist ein ehrgeiziger kleiner Bursche, auch sehr aufgeweckt, aber es fällt ihm schwer, den Bleistift so zu halten, dass aufrechte, hübsch abgezirkelte Buchstaben entstehen. Seine Lehrerin tadelt ihn, und die Mitschüler hänseln ihn.«

»Der arme Kleine!«, rief Irmela mitfühlend aus. »Frau Lechner sollte einmal mit der Lehrerin sprechen und sie ersuchen, nachsichtiger zu sein.«

»Ja, das Gleiche habe ich der Lechner-Bäuerin geraten. Und auch, dass sie selbst Max recht oft loben soll. Aber darüber hinaus …« Schwester Regine hielt inne und sah die Huber-Mutter fragend an.