Gefährliches Schweigen - Anne Alexander - E-Book

Gefährliches Schweigen E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Wetten, daß du mich nicht fängst?« Angela Steffan rannte um das ockerfarbene Schulgebäude, blieb stehen und blickte sich nach ihrer Freundin um. Aber das hätte sie besser nicht getan, denn in diesem Moment griff Ilana Wagner nach ihr. »Pech gehabt, Angi«, meinte das hübsche elfjährige Mädchen. Seine blauen Augen leuchteten unternehmungslustig. Wegen der Kälte trug es eine grün-weiße Strickmütze mit einer weißen Quaste. Um seinen Hals war ein großer, karierter Schal geschlungen. »Ich hab' dich sicherlich genauso schnell«, meinte Angela schulterzuckend. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Zehn Minuten haben wir noch, bevor es läutet.« Ilana ließ ihre Freundin los und rannte auf eine große Buche zu, aber mitten im Lauf stoppte sie plötzlich und griff sich an die Stirn. »Ich denke, wir spielen Fangen!« Angela kam neben ihrer Freundin zum Stehen. »Los, lauf schon weg!« Sie gab Ilana einen leichten Stoß. »Sag mal, was hast du denn?« fragte sie besorgt, als sie den seltsamen Ausdruck in Ilanas Gesicht bemerkte. »Ich habe in meinem Zimmer das Licht brennen lassen«

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Sophienlust Bestseller – 30 –

Gefährliches Schweigen

Illi flüchtet sich in Träume

Anne Alexander

»Wetten, daß du mich nicht fängst?« Angela Steffan rannte um das ockerfarbene Schulgebäude, blieb stehen und blickte sich nach ihrer Freundin um. Aber das hätte sie besser nicht getan, denn in diesem Moment griff Ilana Wagner nach ihr.

»Pech gehabt, Angi«, meinte das hübsche elfjährige Mädchen. Seine blauen Augen leuchteten unternehmungslustig. Wegen der Kälte trug es eine grün-weiße Strickmütze mit einer weißen Quaste. Um seinen Hals war ein großer, karierter Schal geschlungen.

»Ich hab’ dich sicherlich genauso schnell«, meinte Angela schulterzuckend. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Zehn Minuten haben wir noch, bevor es läutet.«

Ilana ließ ihre Freundin los und rannte auf eine große Buche zu, aber mitten im Lauf stoppte sie plötzlich und griff sich an die Stirn.

»Ich denke, wir spielen Fangen!« Angela kam neben ihrer Freundin zum Stehen. »Los, lauf schon weg!« Sie gab Ilana einen leichten Stoß. »Sag mal, was hast du denn?« fragte sie besorgt, als sie den seltsamen Ausdruck in Ilanas Gesicht bemerkte.

»Ich habe in meinem Zimmer das Licht brennen lassen«, erwiderte Ilana tonlos.

Angela lachte auf. »Wenn das alles ist«, meinte sie unbekümmert. »Ich lasse es fast jeden Morgen brennen. Meine Mutter schaltet es dann aus. Wenn ich nach Hause komme, sagt sie immer, irgendwann würde sie mir die Stromkosten vom Taschengeld abziehen, aber sie tut’s nie! Du siehst also, es ist kein Weltuntergang.«

»Für dich nicht«, erwiderte Ilana. »Aber du kennst meine Mutter nicht.« Sie ließ die Schultern hängen. »Ich habe keine Lust, weiterzuspielen. Ich geh in die Halle.« Ohne sich weiter um ihre Freundin zu kümmern, drehte sie sich um und wandte sich dem Schulgebäude zu. Das vergnügte Lachen ihrer Klassenkameraden nahm sie überhaupt nicht wahr.

»Ich glaube, ich spinne!« Angela rannte der Freundin nach. »Und das Ganze nur wegen dem Licht in deinem Zimmer? Gib zu, du hast noch was anderes angestellt.«

Ilana blieb stehen. »Nein, hab’ ich nicht, Angi.« Sie schluckte. »Was meinst du, was meine Mutter wieder für ein Theater machen wird. Für sie ist so etwas ein Schwerverbrechen. Wegen einem Schuh, den ich im Flur liegengelassen hatte, hat sie mal zwei Tage nicht mit mir gesprochen.«

»Spinnt die?« Angela konnte so etwas nicht fassen. »Mann, dann dürfte meine Mutter überhaupt nie wieder mit mir sprechen! Ich laß andauernd was liegen. Meine Mutter meint, ich hätte einen richtigen Schlamperladen.«

»Bei meiner Mutter muß immer alles weggeräumt sein«, sagte Ilana bedrückt. Sie seufzte auf. »Ich hab’ wirklich keine Lust mehr zum Spielen. Am liebsten würde ich nach Hause rennen und das Licht ausschalten. Vielleicht hat sie es noch nicht gemerkt. Montags kauft sie immer erst ein, bevor sie die Wohnung in Ordnung bringt.«

»Dann lauf doch!« schlug Angela vor. »Ich kann ja sagen, dir sei schlecht geworden.«

»Wenn sie aber schon zu Hause ist, dann mach ich alles nur noch schlimmer, weil sie dann meint, ich wollte die Schule schwänzen. Schließlich schreiben wir gleich eine Englischarbeit.«

Angela schüttelte den Kopf. »Und ich dachte immer, meine Mutter würde gleich aus jeder Mücke einen Elefanten machen. Aber deine Mutter scheint ja darin ein wahrer Meister zu sein. Was ist mit deinem Vater? Sagt er nichts, wenn sie tagelang nicht mit dir spricht?«

Ilana schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er hat Angst vor ihr«, erwiderte sie. »Und er sagt immer, wir müßten alle Rücksicht auf sie nehmen. Ihre Nerven seien halt nicht so gut. Und dabei kann meine Mutter manchmal so lieb sein, richtig lieb! Ich glaube, daß sie mich mag, auch wenn sie andauernd schimpft.«

»Bestimmt nicht«, widersprach Angela. »Sonst würde sie nicht immer so ’n Theater machen.« Als die Schulglocke anschlug, hakte sie die Freundin unter. »Komm, auf in den Kampf! Statt rumzulaufen, hätte ich lieber einen Blick in mein Vokabelheft werfen sollen.«

Schweigend stieg Ilana mit Angela die Treppe zum ersten Stock hinauf. Von dem Lärm um sich herum nahm sie kaum etwas wahr. In ihrer Angst vor der Mutter begann sie, wie schon so oft, zu träumen. Sie befand sich in einem anderen Land, in einem, in dem alle Menschen freundlich zu ihr waren, und in dem die Mütter ihre Kinder nicht mit Schweigen und endlosen Vorwürfen bestraften. Jedesmal, wenn sie sich dieses Land vorstellte, wurde es schöner und vollständiger. Sie hatte diesem Fleckchen Erde auch einen Namen gegeben, es hieß Savar.

Still setzte sich Ilana an ihren Platz. Sie war so in Gedanken versunken, daß sie alles um sich herum nur wie durch einen Schleier wahrnahm. Ganz automatisch tat sie, was man von ihr verlangte.

»Ilana, träumst du?« fragte Angela und stieß sie an.

Ilana schreckte auf. »Was ist?«

»Schon gut, aber an deiner Stelle würde ich mich jetzt auf die Arbeit konzentrieren. Ich...«

»Ruhe!« befahl die Lehrerin vom Pult her. »Ich möchte während der Arbeit keinen Ton hören!« Sie begann die Blätter mit der Aufgabe zu verteilen.

Zwei Stunden später war die Schule aus. Ilana und Angela verließen gemeinsam das Schulgebäude. Beide wußten, daß sie keine besonders gute Arbeit geschrieben hatten. Angela, weil sie zu wenig gelernt hatte, und Ilana, weil sie auch während der Arbeit immer wieder in ihrem Traumland gewesen war.

»Auf die Noten bin ich gespannt.« Angela seufzte auf. »Was soll’s, man wird mir schon nicht gleich den Kopf abreißen.«

»Wegen einer schlechten Note bin ich auch noch nie bestraft worden«, sagte Ilana. »Meiner Mutter ist es lieber, wenn ich eine Sechs nach Hause bringe, als daß ich meinen Pullover liegenlasse.«

»Weißt du, zu was ich jetzt Lust hätte?« fragte Angela unternehmungslustig.

Ilana schüttelte den Kopf. Sie dachte wieder an das Licht in ihrem Zimmer. Die Angst schnürte ihr fast die Kehle zusammen.

»Zum Hafen hinunterzugehen und meinem Vater ein bißchen bei der Arbeit zuzusehen«, sagte Angela. »Er würde sich sicher freuen, wenn wir kommen. Er meinte erst neulich, daß er dich noch überhaupt nicht kennen würde. Er ist froh, daß ich schon drei Wochen, nachdem wir hierhergezogen sind, eine Freundin gefunden habe.«

»Ich würde jetzt auch lieber zum Hafen gehen als nach Hause, aber dann wäre erst recht der Teufel los. Wenn meine Mutter eins nicht leiden kann, ist es Unpünktlichkeit.«

»Ich nehme an, es gibt noch vieles, was sie nicht leiden kann«, erklärte Angela. »Wußtest du, daß der Duisburger Hafen der größte Deutschlands ist?«

Ilana mußte lachen. »Was glaubst du, schließlich lebe ich hier seit meiner Geburt!«

»Jetzt lachst du wenigstens«, stellte Angela zufrieden fest. Sie hatten den Friedrich-Wilhelm-Platz erreicht. »Also, ich geh zum Hafen. Oder soll ich mit dir nach Hause kommen?«

Ilana schüttelte den Kopf »Das würde das Donnerwetter nur hinauszögern. Tschüs, bis morgen!« Sie hob die Hand zum Gruß und bog in die nächste Straße ein.

Jetzt, da sie allein war, begann sie wieder zu träumen. Sie spann regelrecht eine Fortsetzung des Traumes, den sie in der Schule gehabt hatte. Wie schön war es doch, in Savar zu leben! Ohne viel von dem wahrzunehmen, was um sie herum geschah, überquerte sie automatisch die Straßen.

Die Wagners lebten in einem Reihenhaus in der Nähe des Immanuel-Kant-Parks. Ilana hatte ihr Elternhaus fast erreicht. Sie mußte nur noch eine Straße überqueren. Sie war so in ihrem Traum gefangen, daß sie beim Zebrastreifen nicht auf die Ampel achtete. Ohne nach rechts und links zu sehen, betrat sie die Fahrbahn.

Das Mädchen hatte schon fast den gegenüberliegenden Bürgersteig erreicht, als es passierte. Ein Personenwagen, der von rechts kam, konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Sie spürte einen heftigen Schlag gegen die Hüfte, wurde dann hochgehoben und schlug gleich darauf hart auf der Bordsteinkante auf.

Jetzt wird sich Mutti nicht mehr über mich ärgern können, dachte das Mädchen, bevor es das Bewußtsein verlor.

*

»Kannst du nicht schneller fahren?« Helene Wagner sah ihren Mann an. »Überhaupt könnten wir schon längst im Krankenhaus sein, aber du mußt ja immer trödeln!« Ihr hübsches Gesicht war von Ärger und Sorgen gezeichnet. »Wenn ich mich nicht um alles kümmern würde, ginge es bei uns drunter und drüber.«

»Lenchen, bitte, reg dich nicht auf«, bat Werner Wagner. Er war vierzig Jahre alt, fünf Jahre älter als seine Frau. Seine braunen Haare wiesen an einigen Stellen bereits weiße Fäden auf, woran Helene mit ihrer ewigen Unzufriedenheit nicht ganz schuldlos war.

»Nicht aufregen!« brauste seine Frau auf. »Ilana liegt im Krankenhaus, und ich soll mich nicht aufregen! Aber natürlich, dir kann es ja egal sein. Es...«

»Helene, jetzt reicht’s!« Einen Augenblick sah es aus, als würde Werner Wagner die Geduld verlieren, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. »Du weißt ganz genau, was mir Illi bedeutet.«

»Natürlich«, gab Helene zu. »Aber bitte versteh doch meine Angst! Ilana ist mein ein und alles! Ich begreife einfach nicht, wie das Kind bei Rot über die Straße laufen konnte. Von klein auf hat man ihr beigebracht, daß sie bei Rot stehenbleiben muß. Ich kann sie doch nicht zur Schule bringen und auch noch abholen. Schließlich ist sie schon elf!«

»Bitte, mach ihr keine Vorwürfe, Lenchen«, sagte Werner. »Vergiß nicht, sie ist krank! Wer weiß, warum sie bei Rot über die Kreuzung gelaufen ist. Wahrscheinlich war sie wieder einmal völlig in Gedanken.«

»Diese ewige Träumerei ist auch etwas, das sie sich schleunigst abgewöhnen sollte. Von mir hat sie das jedenfalls nicht.« Helene fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Wenn sie nur mit dem Leben davonkommt, dann will ich schon zufrieden sein.«

»Aber, Lenchen, so schlimm steht es doch gar nicht um sie«, versuchte Werner seine Frau zu beruhigen. »Doktor Roser hat am Telefon gesagt, daß Illi noch mal Glück gehabt hat.«

»Ärzte sagen viel, wenn sie einen beschwichtigen wollen«, meinte Helene düster.

Werner Wagner gab seiner Frau keine Antwort, weil sie in diesem Moment das Krankenhaus erreicht hatten. Er bog in den Parkplatz ein und hielt zwischen zwei Eichen. Als er den Zündschlüssel abzog, fielen schwere Regentropfen gegen die Windschutzscheibe. »Ein Wetter ist das wieder«, murmelte er.

»Dieser ständige Regen macht mich auch noch fertig«, sagte Helene erbittert. Sie stieg aus. »Im Februar sollte es normalerweise schneien und nicht ständig regnen. Ich möchte wissen, für was wir Ilana zu Weihnachten diese teure Skiausrüstung geschenkt haben. Bis jetzt hat sie die Ausrüstung kaum gebrauchen können. War auch so ’ne Schnapsidee von dir!«

»Lenchen, Lenchen!« Werner schlug die Wagentür zu und schloß ab. »Bitte, mach Illi keine Vorwürfe. Wir wollen froh sein, daß nicht mehr passiert ist. Es hätte auch anders ausgehen können.«

»Was denkst du denn von mir?« Helene Wagner spannte den Regenschirm auf und wandte sich der Treppe zu, die zur Eingangshalle hinaufführte.

Werner Wagner folgte schweigend seiner Frau. Während Helene aufgeregt zu den Aufzügen eilte, erkundigte er sich beim Portier, in welchem Stock seine Tochter lag. Seine Frau hatte vergessen, am Telefon danach zu fragen.

»Erst will ich mal mit dem Arzt sprechen«, verkündete Helene, während sie in den dritten Stock hinauffuhren. »Und ich lasse mich nicht mit schönen Worten abspeisen. Ich will klipp und klar wissen, was los ist.«

»Niemand wird dich mit schönen Worten abspeisen wollen, Lenchen.«

»Da kennst du die Herren Ärzte aber schlecht.« Helene stieß mit ihrem zusammengeklappten Schirm die Tür auf und trat in den dahinterliegenden Gang. »Wenn sie einen belügen wollen, dann tun sie es auch.«

Werner verzichtete auf eine Antwort. Wenn Helene sich in so einer Stimmung befand, war es nicht ratsam, ihr zu widersprechen. Stumm ging er an ihr vorbei und öffnete für sie die Schwungtür, die zu der Abteilung führte, in der Ilana lag.

Doktor Roser empfing sie im Bereitschaftszimmer. Werner bewunderte die Geduld, mit der der Arzt Helenes aufgeregte Fragen beantwortete. Ein ums andere Mal versicherte er ihr, daß für Ilana keine Lebensgefahr bestand.

»Ihre Tochter hat großes Glück gehabt«, meinte er. »Sie ist sozusagen mit einem blauen Auge davongekommen. Außer einem großen Bluterguß an der rechten Hüfte und einer Sehnenzerrung am rechten Bein ist ihr nicht viel passiert. Natürlich hatte sie einen gewaltigen Schock und auch Kopfschmerzen, aber es geht ihr schon wieder besser.«

»Kopfschmerzen deuten auf eine Gehirnerschütterung«, warf Helene gereizt ein. »Vielleicht sogar ein Schädelbruch! Ist sie geröntgt worden?«

»Ja, Frau Wagner, Sie können wirklich ganz beruhigt sein. Natürlich muß Ilana vorerst noch bei uns bleiben, aber in zweieinhalb bis drei Wochen kann sie wieder nach Hause.«

»Können wir jetzt zu ihr, Doktor Roser?« erkundigte sich Ilanas Vater. »Wir haben ihr etwas Obst und Süßigkeiten mitgebracht. Dagegen ist doch sicher nichts einzuwenden?«

»Nein, selbstverständlich nicht, Herr Wagner«, erwiderte der Arzt freundlich.

»So, jetzt haben wir Sie lange genug aufgehalten.« Werner Wagner nahm den Arm seiner Frau. »Herzlichen Dank, daß Sie uns Ihre kostbare Zeit geopfert haben.«

Er schenkte Dr. Roser ein kurzes Lächeln, dann führte er Helene in den Gang hinaus.

»Ich versteh dich nicht, Werner«, sagte Helene. »Was heißt da, Zeit geopfert? Dafür wird er ja schließlich bezahlt. Außerdem gibt es noch vieles, was ich gern gewußt hätte. Dieser Bluterguß und die Sehnenzerrung beunruhigen mich. Wenn nun etwas zurückbleibt? Vielleicht sollte man Ilana von einem Spezialisten behandeln lassen. Wir...«

»Ich bin überzeugt, daß hier alles für Illi getan wird, was nötig ist«, fiel ihr Werner ins Wort. Er wies auf eine Tür. »Da ist schon Zimmer dreihundertdrei. Und bitte, keine Vorwürfe, Lenchen!«

»Du scheinst mich für eine Rabenmutter zu halten«, meinte Helene. Sie befreite sich vom Griff ihres Mannes und öffnete die Tür.

Ilana lag in einem Bett am Fenster. Sie hatte auf den Besuch ihrer Eltern gehofft, aber gleichzeitig Angst davor gehabt. Jetzt lastete nicht nur das brennengelassene Licht auf ihrem Gewissen, sondern auch noch der Unfall. Trotz ihrer Kopfschmerzen hatte sie sich deshalb wieder in einen Tagtraum geflüchtet.

Darum merkte sie zuerst gar nicht, daß die Zimmertür geöffnet wurde und ihre Eltern ins Zimmer kamen.

»Hallo, Kleines!« Werner Wagner hatte seine Frau überholt. Er beugte sich über Ilana und berührte zaghaft ihr Gesicht. »Einen mächtigen Schrecken hast du uns eingejagt. Schön, daß es dir schon wieder bessergeht.«

Ilana streckte die Arme nach ihm aus. »Ich bin so froh, daß du da bist, Vati«, sagte sie. Dann fiel ihr Blick auf die Mutter. »Und auch, daß du da bist, Mutti«, fügte sie hinzu.

»Ich dachte schon, du würdest mich übersehen«, bemerkte Helene. Sie beugte sich über ihre Tochter und küßte sie auf beide Wangen. »Uns solche Sorgen zu machen! Dir hätte weiß Gott was passieren können.«

»Sie hatte einen Schutzengel, unser Kleines«, sagte Werner. »Hast du noch Schmerzen?«

»Ein bißchen.«

»Wir haben dir etwas mitgebracht.« Helene begann ihre Tasche auszupacken. Sie häufte Obst und Süßigkeiten auf Ilanas Nachttisch, dann öffnete sie den Kleiderspind und tat Wäsche, Waschzeug und Handtücher hinein.

Ein dunkelhaariges Mädchen, das im Nebenbett lag, beobachtete interessiert, mit welcher Hektik Ilanas Mutter das alles tat. Marianne Wendt war genauso alt wie Ilana. Vor einer Woche hatte man sie am Blinddarm operiert. Inzwischen hatte das Krankenhaus seine Schrecken für sie verloren. Sie fühlte sich bereits wieder wohl.

»Wie lange muß ich denn hierbleiben?« fragte Ilana.

»Etwa vierzehn Tage«, erwiderte der Vater. »Aber mach dir darüber keine Gedanken. Mutti und ich werden dich jeden Tag besuchen. Ich werde mir meine Arbeit eben so einteilen, daß ich Zeit für dich habe.«

Ilana drückte seine Hand. »Komm immer mit Mutti, bitte, Vati!«

Werner Wagner spürte die Angst, die in Ilanas Worten mitschwang. Das tat ihm in der Seele weh. Wie oft hatte er sich schon vorgenommen gehabt, mit Helene ein offenes Wort zu sprechen, doch immer wieder hatte er gezögert. Er wollte seine Frau nicht verletzen, und er wußte, sie würde tief gekränkt sein, wenn er ihre Erziehungsmethoden anzweifelte. Helene war felsenfest davon überzeugt, immer alles richtig zu machen.

Helene kehrte zum Bett ihrer Tochter zurück, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Dann nahm sie Ilanas Hand. »Wir werden die Gelegenheit nutzen und dein Zimmer neu tapezieren«, versprach sie. »Was hättest du denn gern, Ilana? Wenn man krank ist, darf man schon mal einen Wunsch äußern.«

»Ein paar neue Bücher«, erwiderte das Mädchen. »Mir wird es bestimmt langweilig, wenn ich nichts zu lesen habe. Und sag bitte Angela, sie soll mich besuchen kommen. Angela ist meine neue Freundin.«

»Kenne ich sie?«

»Nein, Mutti, sie wohnt noch nicht lange hier.« Ilana nannte Angelas Telefonnummer. Ihr Vater schrieb sie gewissenhaft auf. Plötzlich verspürte sie keine Angst mehr. Ihre Mutter schien das angelassene Licht vergessen zu haben und machte ihr auch keine Vorwürfe wegen des Unfalls. Sie fühlte sich glücklich und geborgen und wünschte sich, daß es immer so bleiben würde.

Während der nächsten halben Stunde waren sie nichts als eine harmonische Familie. Dann stand Helene auf. Auch Werner, der sich auf das Bett der Elfjährigen gesetzt hatte, erhob sich. »Wir müssen jetzt leider gehen«, sagte er. »Mach’s gut, mein Spatz!«

»Übrigens hast du heute morgen das Licht brennen lassen«, erinnerte sich Helene. »Also, ich begreife nicht, wie man so unachtsam sein kann. Du bist doch alt genug, um an so etwas zu denken, Ilana!«

Für das Mädchen war es, als hätte es eine heftige Ohrfeige bekommen. »Es tut mir leid, Mutti«, murmelte es.

Werner warf seiner Frau einen wütenden Blick zu, dann küßte er das Mädchen. »Werd erst mal gesund, Illi, und mach dir über das Licht keine Sorgen. Noch kann ich die Stromrechnung bezahlen.«

»Es geht nicht um die Rechnung, Werner, sondern um Ilanas Unachtsamkeit«, bemerkte Helene erregt. »Wenn sie so weitermacht, wird sie nie vorwärtskommen! Was man Kindern von Anfang an beibringen sollte, ist Ordnung und nichts als Ordnung!«

»Es tut mir leid, Mutti«, sagte Ilana erneut. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite. Tränen kullerten über ihre Wangen.

»Mutti meint es nicht so«, sagte Werner, während er sich über Ilana beugte. Dabei entdeckte er, daß sie weinte. »Aber, Kleines, nimm es dir doch nicht so zu Herzen. Wir haben dich doch lieb!«

Ilana schluckte. »Ich dich auch, Vati«, flüsterte sie, dann vergrub sie ihr Gesicht im Kissen.

»Wiedersehen, Ilana!« Helene berührte die Wange ihrer Tochter. »Du bist müde, das ist verständlich. Also schlaf dich ruhig gesund.« Sie marschierte aus dem Zimmer.

»Bis morgen, Liebes!« Noch einmal küßte Werner das Mädchen, dann folgte er seiner Frau. Er hätte ihr zu gerne einiges gesagt, wußte aber, er würde wieder nicht dazu in der Lage sein. Helene war nun einmal nervlich nicht ganz gesund, da mußte man schon Rücksicht nehmen.

*