Das Mädchen von nebenan - Anne Alexander - E-Book

Das Mädchen von nebenan E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Da sind schon die Wegweiser, genau wie man sie uns beschrieben hat«, sagte Lydia Kayser. »Sehen sie nicht lustig aus, Ingrid? Sicherlich geht es auch in diesem Kinderheim lustig zu.« Mißmutig betrachtete das sechsjährige Mädchen die bunten Figuren von Kindern und Tieren, an denen sie vorbeifuhren. »Ich will aber in kein Kinderheim«, maulte es. »Warum mußte Oma auch krank werden? Warum kann ich nicht bei dir bleiben?« Die Mutter seufzte. »Aber Kind, das habe ich dir doch schon hundertmal erklärt. Ich bin nun einmal eine alleinstehende Frau und muß für unseren Lebensunterhalt Geld verdienen. Dadurch bin ich den ganzen Tag außer Haus. Du bist noch zu klein, um allein daheim zu bleiben.« »Ich bin nicht mehr klein«, widersprach Ingrid. »Meine Freundin Sabine ist auch allein, weil ihre Mutter arbeiten geht, obwohl sie einen Vater hat. Sie sagt, sie sei ein Schlüsselkind.« »Deine Freundin Sabine ist Euch zwei Jahre älter als du und geht zur Schule«, erwiderte die Mutter.

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Sophienlust Bestseller – 41 –

Das Mädchen von nebenan

Die kleine Sonja braucht Hilfe

Anne Alexander

»Da sind schon die Wegweiser, genau wie man sie uns beschrieben hat«, sagte Lydia Kayser. »Sehen sie nicht lustig aus, Ingrid? Sicherlich geht es auch in diesem Kinderheim lustig zu.«

Mißmutig betrachtete das sechsjährige Mädchen die bunten Figuren von Kindern und Tieren, an denen sie vorbeifuhren. »Ich will aber in kein Kinderheim«, maulte es. »Warum mußte Oma auch krank werden? Warum kann ich nicht bei dir bleiben?«

Die Mutter seufzte. »Aber Kind, das habe ich dir doch schon hundertmal erklärt. Ich bin nun einmal eine alleinstehende Frau und muß für unseren Lebensunterhalt Geld verdienen. Dadurch bin ich den ganzen Tag außer Haus. Du bist noch zu klein, um allein daheim zu bleiben.«

»Ich bin nicht mehr klein«, widersprach Ingrid. »Meine Freundin Sabine ist auch allein, weil ihre Mutter arbeiten geht, obwohl sie einen Vater hat. Sie sagt, sie sei ein Schlüsselkind.«

»Deine Freundin Sabine ist Euch zwei Jahre älter als du und geht zur Schule«, erwiderte die Mutter. »Bitte, mach es mir doch nicht so schwer. Meinst du, mir fällt die Trennung von dir leicht, auch wenn es bloß für kurze Zeit ist? Oma muß an der Gallenblase operiert werden, das dauert meist nur drei Wochen.« Wenn es gutgeht, dachte die junge Frau, obgleich es keinen Anlaß gab, sich deswegen Sorgen zu machen. Sie hing sehr an ihrer Mutter und hatte ihr auch viel zu verdanken.

»Holst du mich auch bestimmt gleich wieder ab, wenn Oma nach Hause kommt, Mutti?« fragte Ingrid ängstlich.

»Aber selbstverständlich, Liebes, sogar noch einen Tag früher, damit wir die Oma vom Krankenhaus abholen können«, versprach Lydia. »Ich glaube, hier ist es schon.«

Sie steuerte den Wagen in einen Seitenweg, wo ein großes schmiedeeisernes Tor, das einladend offenstand, die dichte hohe Hecke unterbrach, die den ganzen Besitz einfriedete. Die Auffahrt führte direkt zur Freitreppe des Hauses.

Lydia Kayser stieg aus und schaute ungläubig auf das große einstöckige Gebäude, das sich vor ihnen erstreckte. Es war weiß, hatte große Fenster mit grünen Fensterläden und wirkte wie ein Herrenhaus. Das kann doch nicht das Kinderheim sein, dachte sie, während sie die Tür zum Fond des Wagens öffnete und sagte: »Bleib noch sitzen, ich muß mich erst erkundigen.«

Doch Ingrid hatte schon selbst den Gurt geöffnet und drängte beim Aussteigen die Mutter beiseite. Vor Erstaunen riß sie ihre blauen Augen weit auf. »Mensch, Mutti, das sieht aus wie ein Schloß.«

»Höchstwahrscheinlich befindet sich das Kinderheim dahinter«, meinte die Frau, denn die Wegweiser zeigten ja deutlich hierher. »Warte hier!« Sie drehte sich um und betrat die Freitreppe.

In diesem Augenblick öffnete sich oben das Portal, und eine ältere mütterlich wirkende Frau trat heraus.

»Verzeihung, wo finde ich das Kinderheim Sophienlust?« fragte Lydia.

Die Frau lächelte. »Sie stehen direkt davor«, erwiderte sie.

»Oh!« stieß die Besucherin überrascht hervor, dann stieg sie die letzten Stufen hinauf.

»Die meisten Leute sind überrascht, wenn sie zu uns kommen«, sagte die Frau. »Übrigens, ich bin die Heimleiterin, Frau Else Rennert. Und Sie sind sicherlich Lydia Kayser, nicht wahr? Wir kennen uns ja schon von Telefongesprächen her. Herzlich willkommen!« Sie reichte der Besucherin die Hand.

»Dann habe ich also mit Ihnen gesprochen«, sagte Lydia. Sie drehte sich um und rief: »Ingrid, komm bitte!«

Zögernd stieg das Mädchen die Stufen hoch. Leicht legte die Mutter den Arm um die Schultern des Kindes. »Das ist meine Ingrid«, stellte sie ihre Tochter vor.

Ingrid deutete einen Knicks an und reichte der Heimleiterin die Hand, die diese herzlich drückte.

»Du bist also Ingrid, die eine Zeitlang bei uns bleiben möchte«, sagte Else Rennert. »Ich bin sicher, es wird dir bei uns gefallen.«

Ingrid druckste, dann platzte sie heraus: »Ich will gar nicht hierbleiben. Wo sind denn überhaupt die Kinder?«

Die Heimleiterin lachte auf. »Du glaubst doch nicht etwa, daß wir sie hinter Schloß und Riegel halten?« erwiderte sie. »Bei diesem herrlichen Sonntagswetter sind sie alle zum Forsthaus gewandert und trinken beim alten Oberförster Bullinger ihren Nachtmittagskaffee. Wärst du früher gekommen, hättest du mitgehen können. Die Kinder sind gern bei ihm, weil er mit seinem langen weißen Vollbart wie der Rübezahl vom Riesengebirge aussieht. Kennst du das Märchen?«

Das Kind nickte. »Märchen höre ich gern«, erwiderte es.

»Dann wird es dir hier ganz sicher gefallen«, versicherte Frau Rennert. Sie wandte sich an Lydia. »Bitte treten Sie ein. Ich habe schon für uns den Kaffeetisch decken lassen.«

Frau Rennert trat beiseite, dabei tat sich eine große Halle vor den Besuchern auf. »Hier halten sich die Kinder sehr gern auf«, erklärte Else Rennert und deutete auf den offenen Kamin, vor dem ein Bärenfell lag.

»Wo geht die Treppe hin?« fragte Ingrid neugrierig.

»Zu den Schlafzimmern unserer Kinder«, erwiderte die Heimleiterin, »und zu den Wäscheräumen. Außerdem befinden sich im ersten Stock auch meine Wohnung und Schwester Regines Zimmer sowie drei Gästezimmer. Da es vorkommen kann, daß die Verwalterin unseres Kinderheimes und ihr Sohn Nick hier mal übernachten müssen, haben sie oben auch jeder ein Zimmer für sich.«

»Wenn Sie dort so viele Räume brauchen, müssen da nicht mehrere Kinder in einem Zimmer schlafen?« fragte Lydia.

Frau Rennert lächelte.

»Ich zeige Ihnen nach dem Kaffeetrinken, wie geräumig unser altes Herrenhaus ist, Frau Kayser«, sagte sie. »Die Kinder sind jeweils zu zweien untergebracht.« Sie strich Ingrid über das blonde Haar. »Dann zeige ich dir auch dein Zimmer. Du schläfst mit Trautchen zusammen. Sie ist ein Jahr älter als du und lebt auch nur vorübergehend hier. Du wirst sie nachher kennenlernen.«

»Ich bleib aber nicht hier«, widersprach Ingrid. »Ich schlaf mit keinem anderen Kind zusammen.«

»Aber Ingrid, du weißt doch ganz genau…«, unterbrach die Mutter, wurde aber von der Heimleiterin unterbrochen.

»Lassen Sie nur, Frau Kayser. Die meisten Kinder wollen zuerst nicht bleiben, das ist verständlich. Sie fürchten sich am Anfang, alles ist ihnen fremd, aber nachher wollen sie oft nur ungern wieder fort.« Sie öffnete eine Tür. »Bitte!« forderte sie die Gäste auf.

Überrascht blieb Lydia auf der Schwelle stehen. »Bei Ihnen fällt man von einer Überraschung in die andere«, sagte sie. »Plötzlich wird man vom zwanzigsten Jahrhundert in die Biedermeierzeit versetzt.«

»Was ist die Biedermeierzeit?« wollte Ingrid wissen.

»Vor über einem Jahrhundert waren solche Möbel modern«, erklärte die Mutter und setzte sich nach Aufforderung der Heimleiterin auf einen der zierlichen Stühle an den schon gedeckten Kaffeetisch.

Ingrid kicherte verhalten und setzte sich ebenfalls hin.

Während Else Rennert aus einer Thermoskanne den Kaffee für sich und Lydia in die hauchdünnen Porzellantassen eingoß, fragte Frau Kayser ihre Tochter, warum sie lache.

Die Sechsjährige prustete noch mehr los und gestand schließlich: »Ich habe an Onkel Gustav denken müssen. Unter dem ist doch erst neulich ein Stuhl zusammengekracht. Wenn er sich hier auf einen setzen würde…« Von neuem lachte sie los, so daß ihr Tränen über die rosigen Wangen kugelten.

»Nun ist es aber genug«, sagte die Mutter in gespielten strengem Ton.

»Wir haben zum Glück noch keine so gewichtigen Besucher hier gehabt«, meinte Else Rennert lachend und goß Ingrid aus einem Kännchen Kakao in ihre Tasse. »An und für sich ist dieses Zimmer Frau von Schoeneckers Reich. Sie empfängt hier ihre Gäste. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, Ihnen von ihr Grüße auszurichten. Sie wäre gern selbst gekommen, um Sie persönlich kennenzulernen, aber sie konnte es sich leider nicht einrichten.«

»Schade, aber ich werde in nächster Zeit öfter hier sein«, erwiderte Lydia.

»Darf ich Ihnen ein Stück Zwetschgenkuchen geben?« fragte Else Rennert und bediente die junge Frau, nachdem diese zugstimmt hatte. »Unsere Köchin Magda hat ihn gebacken. Du ißt doch sicherlich auch ein Stückchen, Ingrid?« wandte sie sich dann an das Mädchen und legte auch ihm ein großes Stück auf den Teller.

»Hm«, erwiderte Lydia strahlend. »Danke!«

»Frau Rennert, Sie erwähnten vorhin, daß auch der Sohn von Frau von Schoenecker hier hin und wieder übernachtet. Das verstehe ich nicht, denn soviel ich gehört habe, besitzen die von Schoeneckers ein großes Gut. Warum hat er dann hier ein Zimmer? Weil er in Schoeneich keine Spielgefährten hat?«

Die Heimleiterin lächelte. »Sie scheinen anzunehmen, daß Nick noch ein Kind ist. Nun, aus den Kinderschuhen ist er heraus, er ist sechszehn Jahre alt. Trotzdem ist Dominik der eigentliche Besitzer des Kinderheims. Seine Urgroßmutter Sophie von Wellentin hat ihm diesen herrlichen Besitz vererbt mit der Bedingung, daraus ein Heim für elternlose beziehungsweise schutzbedürftige Kinder zu machen. Und da Nick von Natur aus Kinder und Tiere – wir haben auch ein Tierheim in unmittelbarer Nähe – liebt, tut er sehr viel für unsere Schützlinge und hält sich oft hier auf.«

»Bitte, kann ich noch ein Stück bekommen?« fragte Ingrid.

»Aber Kind, man bettelt doch nicht«, sagte Lydia ungehalten.

»Lassen Sie nur, Frau Kayser, unsere Magda wird sich freuen, wenn sie hört, daß ihr Zwetschgenkuchen unserem Neuankömmling so gut geschmeckt hat«, meinte die Heimleiterin und legte ein extra großes Stück auf Ingrids Teller.

Eine Viertelstunde später zeigte Frau Rennert ihren beiden Besuchern die vielen Räumlichkeiten des Kinderheims. Während sich Lydia für die Schlafzimmer der Kinder und die sanitären Einrichtungen am meisten interessierte, wurde das Interesse Ingrids erst geweckt, als sie die unteren Räume besichtigten. Besonders der Bastelraum und das Eisenbahnzimmer hatten es ihr angetan.

»Dürfen auch Mädchen mit der Eisenbahn spielen, Frau Rennert«, fragte sie.

»Selbstverständlich, Ingrid«, erwiderte die Heimleiterin. »Im übrigen kannst du zu mir ruhig Tante Ma sagen, so nennen mich alle Kinder hier.«

»Fein, Tante Ma, ich finde dich richtig nett.« Ingrid sah ihre Mutter an. »Ich glaube, Mutti, hier halte ich es schon ein paar Wochen aus. Aber nur ein paar«, schränkte sie dann hastig wieder ein.

Frau Rennert lauschte nach draußen, wo Kinderstimmen zu hören waren. »Gleich wird es hier sehr lebhaft zugehen«, bemerkte sie.

Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, als auch schon das Portal aufgerissen wurde. Mehrere Kinder versuchten, sich auf einmal durch die Öffnung zu schieben.

»Schön langsam«, rief Frau Rennert lachend. »So geht das nicht. Hübsch hintereinander hereinspaziert.«

Das Knäuel entwirrte sich, und nach und nach füllte sich die Halle mit Kindern. »Oh, ’ne Neue!« riefen einige, als sie Ingrid erblickten.

»Ingrid bleibt nur ein paar Wochen hier«, sagte die Heimleiterin.

»Gehst du schon zur Schule?« fragte ein fünfjähriges Mädchen mit hellblonden Rattenschwänzen.

»Nein, erst nächstes Jahr«, erwiderte Ingrid.

»Fein, dann kannst du mit mir spielen, wenn die anderen in der Schule sind«, bestimmte das kleine Mädchen. »Ich bin die Heidi und habe zwei Kaninchen, die heißen Schneeweißchen und Rosenrot. Sie sind sehr lieb, du darfst auch mit ihnen spielen.«

»Ihr habt hier Tiere? Wo sind sie denn?« fragte Ingrid interessiert. »Auch hier im Haus?«

»Das geht leider nicht, weil viele von uns ein Tier besitzen«, mischte sich ein etwa dreizehnjähriges Mädchen ein. »Sie leben im Tierheim Waldi & Co. Wir dürfen sie aber jederzeit besuchen und mit ihnen spielen.«

»Meine Kaninchen sind doch nicht dort, sondern bei Justus, Pünktchen«, widersprach Heidi.

»Stimmt, das hatte ich vergessen«, sagte Pünktchen lachend.

»Wer ist Justus?« fragte Ingrid. »Und warum sagt Heidi zu dir Pünktchen? Heißt du wirklich so?«

»Natürlich nicht. Mein richtiger Name ist Angelina. Pünktchen ist mein Spitzname, weil ich so viele Sommersprossen habe. Ich finde ihn sehr lustig, du darfst mich ruhig auch so nennen. Justus betreut unsere Ponys.«

»Richtige Ponys, auf denen man reiten kann?« fragte Ingrid aufgeregt.

»Ja. Wenn du willst, gehe ich morgen nach der Schule mit dir zu den Koppeln und bringe dir das Reiten bei«, bot sich Pünktchen an.

»Au fein!« Ingrids Augen strahlten. Sie wandte sich zu ihrer Mutter um. »Mutti, ich bleibe hier«, verkündete sie.

Eine junge blonde Frau war jetzt in die Halle getreten.

»Hier kommt ja auch unsere Schwester Regine«, sagte Frau Rennert. »Sie wird von den Kindern heiß und innig geliebt. Schwester Regine, das hier ist Frau Kayser, die Mutter unseres neuen Schützlings Ingrid.«

Die beiden jungen Frauen reichten sich die Hände. »Das ist meine Tochter«, sagte Lydia und deutete auf das Mädchen.

Schwester Regine gab auch dem Kind die Hand und sagte herzlich: »Ich hoffe, wir werden bald gute Freundinnen sein.«

»Es wird nun höchste Zeit für mich, nach Maibach zurückzufahren«, sagte Lydia, beugte sich zu ihrer Tochter hinunter und zog sie an sich.

»Ich trenne mich ungern von meiner Tochter«, bekannte Lydia auch wenn es nur für ein paar Wochen ist. Ich habe ihr gegenüber ohnehin oft genug Schuldgefühle, weil ich mich ihr nur abends und am Wochenende widmen kann.«

»Sie brauchen sich doch nicht schuldig zu fühlen«, meinte die Heimleiterin. »So wie Ihnen geht es vielen alleinstehenden Frauen. Sie haben es sogar insofern besser, da Sie eine Mutter haben, die sich um Ihre Tochter kümmern kann.«

»Ja, ich habe ihr viel zu verdanken«, erwiderte die junge Frau. »Damals, als mich mein Verlobter wegen einer reichen Amerikanerin verließ, hatte sie kein Lamento gemacht, als ich ihr nach meiner Rückkehr gestehen mußte, daß ich schwanger sei. Sie war mir in dieser schweren Zeit mein bester Freund und Kamerad, obwohl sie selbst genug Leid zu tragen hatte, denn ein halbes Jahr zuvor war mein Vater gestorben.«

»Und der Vater Ihres Kindes? Hat er sein eigen Fleisch und Blut so ohne weiteres im Stich gelassen?«

»Ich bin nach wie vor der Meinung, daß er sich auch dann nicht um mich und das Kind gekümmert hätte, wenn er es gewußt hätte. Aber so wie er mich behandelt hatte – auf seine Bitten hin bin ich zu ihm nach Hamburg gekommen – wollte ich mit ihm nichts mehr zu tun haben. Deshalb habe ich auch gegenüber dem Jugendamt den Vater verschwiegen. Ich war damals so verzweifelt, daß es mir völlig egal war, was die Leute von mir dachten.«

»Ich bezweifle, daß das richtig war«, meinte die Heimleiterin. »Ihre Tochter ist jetzt in einem Alter, wo man nach dem Vater fragt.«

»Meine Einstellung hat sich bis heute nicht geändert«, erwiderte Lydia Kayser hart.

Sie reichte der Heimleiterin die Hand. »Es wird bald dunkel sein. Es ist höchste Zeit für mich, aufzubrechen. Bis zu nächsten Mal. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen«, sagte auch Frau Rennert.

Eilig stieg Lydia die Stufen hinunter und setzte sich hinter das Steuer ihres kleinen Gebrauchtwagens.

Gedankenvoll sah Frau Rennert dem Auto nach, bis es nicht mehr zu sehen war.

*

Beate Wolff war gerade damit beschäftigt, eine große Schokoladentorte zu verzieren, als von der Küchentür her eine zaghafte Stimme fragte: »Tante Beate, ist die für mich?«

Die Haushälterin eine etwa fünfzigjährige hagere Frau mit grauem Haar, das sie straff nach hinten gekämmt trug, wandte sich zur Tür um.

Ein kleines, blondhaariges Mädchen stand dort und schaute mit seinen brauen Augen sehnsüchtig auf die Torte. Obwohl es schon zehn Uhr vormittags war, hatte es noch immer den Schlafanzug an und war ungekämmt und ungewaschen.

»Das fehlt gerade noch«, entgegnete Beate Wolff barsch. »Ein so kleines Kind, und will eine Torte ganz für sich allein! Du willst wohl mit Bauchschmerzen in einem Krankenhaus landen?«

»Aber ich habe doch heute Geburtstag.« Die Kleine verzog weinerlich den Mund.

Überrascht sah Beate das vierjährige Mädchen an. »Du hast Geburtstag? Woher weißt du denn das?« Sie runzelte die Stirn.

Vor zwei Tagen war ihr Brotgeber, Sonjas Vater, wieder weggefahren. Mit keinem Wort hatte er Sonjas kommenden Geburtstag erwähnt, warum auch. Sie war seit zwei Jahren im Hause des Reiseschriftstellers Karsten Westholm tätig und hatte hier noch keine Geburtstagsfeier erlebt, weder seine noch Sonjas. Allerdings war Herr Westholm auch nur sehr selten zu Hause.

Als er sie nach dem Tode seiner Frau als Haushälterin eingestellt hatte, hatte er ihr kurz erklärt, daß er keine Zeit hätte, sich um seine Tochter zu kümmern. Das wäre nun ihre Aufgabe.

Hätte man mit ihm freundschaftlich reden könne, hätte sie ihm gesagt, daß es besser wäre, für seine Tochter ein ausgebildetes Kindermädchen einzustellen. Schließlich war er ein reicher Mann.

Das kleine Mädchen stand noch immer an der Tür. Große Tränen kullerten über seine Wangen.

»Das wußte ich nicht«, sagte die Haushälterin, »dann kannst du am Nachmittag ein Stück Torte bekommen, wenn das stimmt.«

Sonja schluckte und wischte sich mit ihrem schmutzigen Händchen übers Gesicht. Beate Wolff sah, daß die Kleine einen von Schokolade verschmierten Mund hatte. »Ich war im Garten«, gestand Sonja auf den fragenden Blicken hin. »Tante Renate hat mich an den Zaun gerufen und mir Schokolade geschenkt. Weil ich Geburtstag hätte, hat sie gesagt.«

»Was? In diesem Aufzug bist du in den Garten gelaufen? Was fällt dir denn ein?« schrie Beate Wolff aufgebracht. »Was sollen die Leute denken, wenn du vormittags noch im Schlafanzug herumrennst?«

»Ich hab ganz lange gewartet, aber du bist nicht gekommen«, klagte das kleine Mädchen.

»Ich habe schließlich noch anderes zu tun, als ständig hinter dir herzurennen«, schimpfte die Frau. »Habe ich dir nicht oft genug gesagt, daß du morgens in deinem Zimmer auf mich zu warten hast?«

»Ich habe doch solchen Hunger«, sagte das Kind, und wieder kullerten dicke Tränen aus seinen Augen.

»Dann hättest du zu mir in die Küche kommen können«, schimpfte Beate Wolff weiter. Dabei vergaß sie, daß sie Sonja schon mehrmals aus der Küche gejagt hatte, weil sie sie dort störte. »Und dann hast du gleich die ganze Schokolade auf einmal verschlungen, so daß die Nachbarin denken muß, du bekommst von mir nicht genug zu essen«, fuhr sie wütend fort. »Ich wollte dir eigentlich ein Stück Torte geben, aber nun bekommst du nichts. Mich so zu blamieren! Mach, daß du in dein Zimmer kommst!«

Während Sonja weinend nach oben lief, stellte Beate die Torte in den kleinen Eisschrank in ihrem Zimmer, den sie extra für sich angeschafft hatte. Dann ging sie zu Sonjas Schlafzimmer hinauf.

Im Schnellverfahren wusch sie das kleine Mädchen und zog es an. Am Anfang hatte Sonja versucht, sich bei

Beate Wolff anzukuscheln und mit ihr zu schmusen. Sie hatte ja sonst niemand dafür, denn ihren Vater bekam sie nur selten zu sehen, und wenn, hatte er nicht einmal einen Blick für sie übrig. Manchmal kam es ihr vor, als sei er ein böser großer Riese, der sie mit seinen finsteren Blicken verschlingen wollte. Aber auch bei Tante Beate fand sie kein Verständnis für ihr liebebedürftiges Herz. Deshalb hatte sie es aufgegeben, von dieser strengen Tante Zärtlichkeiten zu erbetteln.