Sophienlust - Die nächste Generation 40 – Familienroman - Simone Aigner - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 40 – Familienroman E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

Der kleine Marc ist der Lebensinhalt von David Lambert. Der alleinerziehende Vater tut alles, damit der Fünfjährige seine Mutter nicht allzu sehr vermisst. Melanie verließ die Familie vor einigen Jahren, um als Schauspielerin Karriere zu machen, und hat seitdem nie wieder etwas von sich hören lassen. Doch nun scheint eine Pechsträhne David zu verfolgen: Sein Vater Bernd hat einen Unfall und kann sich tagsüber nicht mehr wie gewohnt um seinen Enkel Marc kümmern. Und dann steht plötzlich auch noch Melanie vor der Tür und fordert herrisch, ihren Sohn zu sich zu nehmen … David Lambert sah abwartend seinem fünfjährigen Sohn Marc zu, der auf der untersten Treppenstufe im Hausflur saß und sorgfältig den Klettverschluss seiner Sandalen verschloss. "Fertig!", verkündete Marc und sah erwartungsvoll zu seinem Vater hoch. David schmunzelte. Ein Riegel saß schief, aber das war nicht schlimm. "Prima", lobte er seinen Sohn. "Hast du alles eingepackt?", fragte er und zeigte auf den bunten Kinderrucksack, der neben dem Kleinen am Boden stand. Eifrig nickte Marc. "Mein Malbuch, die neuen Buntstifte, das Memory und die Flugzeuge", versicherte er. "Schön. Dann können wir jetzt gehen. Opa wartet bestimmt schon auf dich." David warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es wurde höchste Zeit. Er musste spätestens um halb neun Uhr in der Steuerkanzlei 'Feilner & Großmann' sein, in der er als Unternehmensberater arbeitete. Um neun Uhr hatte er den ersten Termin, und Feilner senior legte größten Wert auf Pünktlichkeit. Marc stand auf, nahm seinen Rucksack und schob seine Hand in die des Vaters.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 40 –

Eine Mama für Marc

Geht sein großer Wunsch in Erfüllung?

Simone Aigner

David Lambert sah abwartend seinem fünfjährigen Sohn Marc zu, der auf der untersten Treppenstufe im Hausflur saß und sorgfältig den Klettverschluss seiner Sandalen verschloss.

»Fertig!«, verkündete Marc und sah erwartungsvoll zu seinem Vater hoch. David schmunzelte. Ein Riegel saß schief, aber das war nicht schlimm.

»Prima«, lobte er seinen Sohn. »Hast du alles eingepackt?«, fragte er und zeigte auf den bunten Kinderrucksack, der neben dem Kleinen am Boden stand.

Eifrig nickte Marc. »Mein Malbuch, die neuen Buntstifte, das Memory und die Flugzeuge«, versicherte er.

»Schön. Dann können wir jetzt gehen. Opa wartet bestimmt schon auf dich.« David warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es wurde höchste Zeit. Er musste spätestens um halb neun Uhr in der Steuerkanzlei 'Feilner & Großmann' sein, in der er als Unternehmensberater arbeitete. Um neun Uhr hatte er den ersten Termin, und Feilner senior legte größten Wert auf Pünktlichkeit.

Marc stand auf, nahm seinen Rucksack und schob seine Hand in die des Vaters. »Opa geht heute mit mir Erdbeeren pflücken«, erzählte er. »Ich bekomme ganz viele, mit Sahne drauf.«

»Lecker«, versicherte David und dachte wieder einmal, wie dankbar er seinem Vater war, der seinen Enkel liebevoll umsorgte, wenn er selbst arbeiten oder Überstunden machen musste.

Melanie, Marcs Mutter, hatte die Familie vor drei Jahren von einem Tag auf den anderen verlassen, nur ein paar dürre Zeilen hinterlassen und sich seither nie wieder gemeldet.

Zwar hatte David mittlerweile den Trennungsschmerz überwunden. Die Enttäuschung und Erschütterung jedoch, als ihm klar wurde, dass sie tatsächlich nicht zurückkommen würde, spürte er bis heute. Zudem tat ihm Marc unendlich leid.

Anfangs hatte der Kleine viel nach seiner Mutter gefragt. Nie hatte er gewusst, was er seinem Sohn sagen sollte. Wie konnte eine Mutter ihr Kind verlassen? Er selbst wusste ja, was sie getrieben hatte: Ihr Traum, Karriere als Schauspielerin zu machen und dafür unbeschwert durch die Welt zu reisen, war Melanies Ziel gewesen. In Film und Fernsehen wollte sie Hauptrollen bekommen, auf den Titelseiten der Boulevard-Presse erscheinen.

Irgendwann hatte Marc aufgehört, von ihr zu reden. Die Vermutung, dass sein Sohn eines Tages wieder auf das Thema zurückkommen und Fragen stellen würde, belastete David schwer.

Er verdrängte den Gedanken. Es galt jetzt, Marc zum Großvater zu bringen und sich auf den Termin in der Kanzlei zu konzentrieren.

Wenige Minuten später parkte er seinen Wagen vor dem Anwesen seines Vaters. Das kleine Einfamilienhaus, in dem David groß geworden war, lag friedlich im Licht der Morgensonne. Der Rasen war sorgfältig gemäht, weißer und lilafarbener Flieder blühte und duftete und die Vögel zwitscherten.

»So mein Junge«, sprach er seinen Sohn an, der auf der Rückbank im Kindersitz saß und mit einem kleinen Spielzeug-Flieger spielte, den er mit erhobenem Arm durch die Luft kreisen ließ. »Da sind wir.«

»Hm«, machte der Junge, ohne ihn anzusehen, und ließ seinen Flieger steil nach unten stürzen, um ihn gleich darauf wieder hochzureißen. David schmunzelte, stieg aus, umrundete das Fahrzeug und öffnete die hintere Wagentür, um Marc beim Abschnallen behilflich zu sein.

Der Junge hopste aus dem Auto.

»Ich geh klingeln«, teilte er seinem Vater mit und eilte voran, ohne eine Antwort abzuwarten. David folgte ihm. Marc war vor der Haustür stehengeblieben und reckte sich, um an den Knopf der Glocke zu kommen. Fest drückte er darauf, und von innen hörte man es läuten. Erwartungsvoll strahlte der Junge seinen Vater an.

»Nur einmal läuten, stimmt‘s, Papa?«, sagte er stolz. David lächelte.

»Genau. Nicht ganz oft hintereinander.« Er wuschelte seinem Sohn durch die dichten braunen Haare. Einige Male hatte Marc sich einen Spaß daraus gemacht, mehrfach und sehr schnell nacheinander auf die Glocke zu drücken, sodass sie schließlich hängen geblieben war und in Dauerschleife geläutet hatte. Der Großvater hatte mithilfe eines Schraubenziehers den festhängenden Knopf wieder lösen müssen.

»Sonst geht die Glocke kaputt«, bekräftigte der Junge.

»Ja, vielleicht.« David sah erneut auf die Uhr. Er musste in die Kanzlei. Warum öffnete sein Vater nicht?

»Wo bleibt Opa?«, fragte Marc und sah zu seinem Vater hoch.

»Ich weiß es nicht.« Nun drückte David selbst noch einmal auf die Klingel. Doch auch auf das zweite Läuten wurde nicht geöffnet. Beunruhigt trat er einen Schritt nach hinten und sah zu den einzelnen Fenstern des Hauses. Kein Vorhang bewegte sich, kein Fenster war geöffnet. Vielleicht war der Vater hinten im Garten?

»Komm«, sagte er und nahm seinen Sohn an die Hand. »Bestimmt ist der Opa im Garten.« Ungewöhnlich war das schon. Meistens erwartete Bernd Lambert sie bereits, wenn sie vor der Tür standen.

Marc entzog David seine Hand. »Ich guck nach«, rief er und eilte ums Haus. David folgte ihm.

»Papa! Komm schnell!«, hörte er den Jungen wenige Sekunden später rufen, und der Schreck fuhr ihm in den Magen. »Der Opa ist hingefallen!«

David rannte los.

Hinter dem Haus gab es etliche Obstbäume. Unter dem Kirschbaum saß sein Vater, an den Stamm gelehnt und mit schmerzverzerrte Miene. Auf dem Rasen lag eine Leiter.

»David, Marc! Gut, dass ihr da seid«, stöhnte Bernd Lambert.

»Paps! Was ist passiert?«, erschrocken beugte sich David über ihn. Lambert zeigte nach oben.

»Ich wollte einen morschen Ast abschneiden und bin abgerutscht. Ich sitze seit einer gefühlten Ewigkeit hier. Ich glaube, ich habe mir das Bein gebrochen. Ich kann mich kaum bewegen und mein Handy liegt natürlich im Haus«, informierte er seinen Sohn.

»Opa? Tut es sehr weh?« Marc hockte sich neben seinen Großvater und streichelte dessen Arm.

»Ein bisschen schon mein Junge«, gab der alte Herr zu.

»Es wird bestimmt bald wieder gut«, tröstete der Kleine und fuhr fort, ihn zu streicheln.

»Liebe Güte«, murmelte David. »Ich rufe einen Krankenwagen.«

*

»Ihr Vater hat sich vermutlich den Oberschenkel gebrochen«, informierte der Arzt David und schloss seinen Koffer, der auf dem Rasen stand. Zwei Sanitäter halfen Bernd Lambert auf eine Krankentrage.

»Ich habe ihm etwas gegen die Schmerzen gegeben und zum Stabilisieren des Kreislaufs. Er muss geröntgt werden und wahrscheinlich auch operiert.«

»Das ist ja furchtbar«, sagte David betroffen. Der Arzt erhob sich aus seiner gebückten Haltung und verzog den Mund zu einem kurzen Lächeln.

»Nun ja. Schön ist es sicherlich nicht. Trotzdem hat er Glück im Unglück gehabt. So ein Sturz von der Leiter kann durchaus noch schlimmer ausgehen.«

»Da haben Sie natürlich recht«, gab David zu. Sein Vater tat ihm furchtbar leid. Gleichzeitig lastete ein weiteres Problem auf ihm, welches auszusprechen ihm geradezu schäbig erschien, in Anbetracht des Unfalles seines Vaters: Wer kümmerte sich jetzt um Marc? Im Kindergarten waren Ferien, und selbst wenn er offen gehabt hätte, hätten die Betreuungszeiten nicht ausgereicht. Üblicherweise schloss die Einrichtung um 16 Uhr, sein Arbeitstag endete selten vor 18 Uhr, und oft genug wurde es noch später.

»Nun schauen Sie nicht so verzweifelt«, versuchte der Arzt ihn aufzumuntern. »Sie werden sehen, in zwei bis drei Monaten ist Ihr Vater wieder wohlauf.«

»Zwei bis drei Monate?«, entfuhr es David.

Der Arzt zuckte mit den Schultern.

»So ein Heilungsprozess dauert eben. Ich muss zum nächsten Patienten. Alles Gute für Sie und Ihren Vater«, verabschiedete er sich.

David griff sich mit einer Hand in den Nacken und unterdrückte ein Stöhnen. Er brauchte eine Lösung für Marc, und zwar umgehend. Er wusste nur keine. Zudem saß ihm gewaltig die Zeit im Nacken. Noch vor dem Eintreffen des Krankenwagens hatte er seine Sekretärin, Anne Meissner, angerufen und sie informiert, was passiert war. Sein wichtiger Neun-Uhr-Termin war natürlich nicht einzuhalten gewesen. Dass Feilner ihm das übel anlasten würde, war klar. Private Belange seiner Angestellten interessierten seinen Vorgesetzten nicht.

Urlaub konnte er so rasch natürlich auch nicht nehmen. Er wusste weder ein noch aus.

»Papa? Was machen wir jetzt?«, hörte er seinen Jungen fragen.

»Wenn ich das wüsste, Marc. Ich glaube, ich nehme dich jetzt erst einmal mit auf die Arbeit.«

Marc krauste das Näschen. »Aber dort ist es bestimmt langweilig«, protestierte er.

Mit Sicherheit, dachte David.

»Du hast doch dein Malbuch dabei und die neuen Buntstifte«, bemühte er sich, ihn aufzumuntern. Lange würde Marc damit nicht beschäftigt sein. Doch darüber würde er später nachdenken.

»Und was ist mit den Erdbeeren?«, erkundigte sich Marc.

»Ich fürchte, mit denen wird es heute nichts. Ich kaufe dir am Wochenende welche«, versuchte David, seinen Sohn zu vertrösten.

»Opa hat es mir aber versprochen«, jammerte der Kleine.

»Tut mir leid, mein Junge. Ich bin sicher, Opa würde total gerne mit dir Erdbeeren pflücken gehen.«

»Hm«, machte Marc und bohrte die Spitze seiner Sandale in den Rasen.

»Was passiert jetzt mit Opa?«, fragte er. »Können wir hier auf ihn warten, bis er wiederkommt?«

»Nein, leider nicht. Er muss ins Krankenhaus und ein paar Wochen dort bleiben.« Oder länger, ergänzte er in Gedanken.

Marc sah zu Boden.

»Armer Opa«, murmelte er.

»Ja, da hast du recht. Komm Marc. Ich muss zur Arbeit«, sagte David.

*

David saß hinter seinem Schreibtisch im Büro der Steuerkanzlei. Er hatte bereits ein Telefonat mit dem behandelnden Arzt seines Vaters geführt. Bernd Lambert war schon operiert worden. Es war alles den Umständen entsprechend gut verlaufen. Noch schlief er, doch David konnte gegen Abend noch einmal anrufen und mit ihm selbst sprechen. Ab morgen durfte er ihn dann auch besuchen.

Nun telefonierte er mit einem Geschäftspartner und versuchte, sich sowohl auf das Gespräch zu konzentrieren als auch auf Marc. Marc saß am Besuchertisch, baumelte gelangweilt mit den Beinen und fuhr lustlos mit einem roten Buntstift über ein Blatt Papier. Auf dem Tisch verteilten sich seine Spielsachen, die er mit zu seinem Großvater hatte nehmen wollen.

Ein kurzes, energisches Klopfen an der Tür lenkte David von dem Telefonat ebenso ab wie von seinem Sohn. Ehe er etwas sagen konnte, wurde die Tür geöffnet. August Feilner, der Inhaber der Kanzlei, betrat den Raum. Sein helles Hemd spannte über seinem Bauch, die hellblaue Krawatte hing schief und seine Miene verhieß nichts Gutes. Er sah mit einem finsteren Blick zu Marc und positionierte sich vor Davids Schreibtisch.

David entschuldigte sich beim seinem Geschäftspartner, versprach einen zeitnahen Rückruf und beendete das Gespräch.

»Herr Feilner«, begann er, doch sein Vorgesetzter unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung.

»Frau Meissner hat mich unterrichtet. Vorneweg: Es tut mir natürlich leid, dass Ihr Vater einen Unfall hatte. Auch, dass der Termin heute Vormittag geplatzt ist: Schwamm drüber. Ich konnte die Angelegenheit selbst übernehmen. Es ist erfreulicherweise alles unter Dach und Fach. Dennoch, Sie können nicht einfach den Jungen mitbringen. Wie stellen Sie sich das vor? Hier ist doch kein Kinderspielplatz!«

David sah an Feilner vorbei und bemerkte den erschrockenen Blick seines Kindes.

»Es tut mir wirklich leid, Herr Feilner. Es soll natürlich keine Dauerlösung sein, bis mein Vater wieder wohlauf ist. Nur für heute wusste ich auf die Schnelle keinen Rat.«

August Feilner zerrte an seiner Krawatte.

»Dann ist es ja gut. Ich hatte ernsthaft befürchtet, Sie wollen nun täglich den Jungen mitbringen.«

»Selbstverständlich nicht.«

In David schossen die Gefühle kreuz und quer. Der winzige Funken Hoffnung, zumindest für einige Tage Marc mitbringen zu können, war schon in dem Augenblick zersprungen, als Feilner zur Tür hereingestürmt war. Zudem tat ihm sein Junge leid, der, sonst meist aufgeweckt und fröhlich, nun ängstlich auf seinem Platz kauerte.

»Gut. Ich habe noch einen Termin außer Haus. Wir sehen uns dann morgen. Um zehn Uhr ist Teambesprechung. Ich zähle auf Sie. Und denken Sie an die Pläne für Schuster. Ach, und noch was. Um 15 Uhr morgen kommt Direktor Humpert. Ich hoffe, Sie haben die Unterlagen beisammen? Oder fehlt noch etwas?«

David straffte die Schultern. Die Besprechung hatte er in der Tat vergessen. Die Pläne für Schuster hatte hoffentlich Frau Meissner. Ob die Unterlagen für den Direktor schon komplett waren, entzog sich im Moment seiner Kenntnis.

»Papa? Ich muss mal«, vernahm er die piepsige Stimme seines Sohnes.

»Ja. Natürlich.« David stand von seinem Stuhl auf. Die Worte waren an seinen Jungen gerichtet, doch Feilner interpretierte sie offenbar als Zustimmung zu seinen Fragen. Er nickte und seine empörte Miene entspannte sich ein wenig.

»Nun denn. Bis morgen.« Kurzatmig verließ er den Raum.

»Komm, Marc«, wandte sich David an sein Kind. Der Junge rutschte vom

Stuhl.

»Ist der Mann böse auf mich?«, fragte er.

»Aber nein. Du kannst doch nichts dafür. Er macht sich nur Sorgen um… nun, um die Arbeit«, wich David aus. Wenn Feilner böse auf jemanden war, dann auf ihn, wegen seiner eigenmächtigen Entscheidung, Marc mitzubringen.

»Ich hab Hunger«, verkündete Marc.

»Du bekommst alles, was du brauchst«, versprach David und schob seinen Sohn vor sich aus dem Büro in den Flur.

Wie er seine Terminliste abarbeiten sollte, war ihm schleierhaft. Nur gut, dass Feilner den Rest des Tages außer Haus war.

Vielleicht sollte er unbezahlten Urlaub nehmen, bis sein Vater wieder fit war? Andererseits kannte er seinen Arbeitgeber gut genug. Er würde ihm eher die Kündigung nahelegen, als dass er dem zustimmte.

Die einzige Lösung, die David noch einfiel, war ein Kindermädchen. Doch wie er das von heute auf morgen bewerkstelligen sollte, wusste er auch nicht. Zudem wollte er Marc in besten Händen wissen. Dazu hätte er die betreffende Frau erst einmal kennenlernen müssen.

Vielleicht konnte er die Leiterin des Kindergartens um Rat fragen. Luise Winter war Mitte fünfzig, kompetent und zuverlässig. Dunkel meinte er sich zu erinnern, dass am Schwarzen Brett im Kindergarten gelegentlich Praktikantinnen ihre Unterstützung in der Kinderbetreuung anboten. Er beschloss, sie umgehend zu kontaktieren. Zwar hatte er keine private Telefonnummer von Luise Winter, aber immerhin eine Mailadresse. Vielleicht hatte er Glück und sie las ihre Nachrichten, auch während der Kindergarten geschlossen hatte.

Eine halbe Stunde später hatte er die Mail verfasst, die Dringlichkeit seiner Lage betont und die Nachricht abgeschickt. Er konnte nur hoffen, dass Frau Winter sich zeitnah meldete und ihm helfen konnte.

Marc saß auf seinem Stuhl, kaute lustlos auf einem Käsebrötchen, das er ihm in der Kantine gekauft hatte, und hatte schon zweimal nachgefragt, ob er mit ihm Memory spielen würde. Er hatte ihn auf abends vertröstet.

Wieder klopfte es an die Tür.

»Ja bitte«, rief er.

Anne Meissner betrat den Raum. In der Hand hielt sie eine Akte.

»Hier sind die Unterlagen in der Sache Humpert«, sagte sie.

»Danke, Frau Meissner.«

Die Sekretärin sah zu Marc. »Ich habe gleich Feierabend. Wenn Sie möchten, kann ich mich eine Stunde um Ihren Sohn kümmern. Ein wenig Zeit habe ich noch. Dann können Sie wenigstens kurz in Ruhe arbeiten.«

»Wirklich? Das wäre wunderbar«, stimmte David zu.

»Sehr gerne.« Anne Meissner wandte sich dem Jungen zu.

»Hallo Marc. Ich bin Anne. Magst du mit in mein Zimmer kommen? Wir können dort was spielen.«

»Echt?« Marcs kleines Gesicht hellte sich auf.

»Klar. Kennst du das Spiel 'Ich sehe was, was du nicht siehst'?«, fragte sie.

»Freilich. Das spielen der Papa und ich auch oft«, versicherte er eifrig.

»Prima. Dann lass uns gleich anfangen.«

Anne Meissner lächelte David zu. Schwach erleichtert erwiderte er das Lächeln und sah seiner Sekretärin nach, wie sie mit seinem Sohn das Zimmer verließ.

Eine Stunde später klopfte Frau Meissner erneut an seine Tür. Ohne Marc betrat sie sein Büro wieder.

»Marc malt gerade ein Bild. Er möchte mir zeigen, wie sein Opa unter dem Kirschbaum saß, mit dem kaputten Bein«, berichtete sie.

David verzog den Mund zu einem gequälten Grinsen.

»Ich danke Ihnen, dass Sie sich um ihn gekümmert haben. Ich weiß im Moment absolut nicht, wie ich seine Betreuung und meine Arbeit für die nächsten Wochen vereinbaren soll.«

»Darf ich?«, fragte die Sekretärin und zeigte auf den Besucherstuhl, Davids Schreibtisch gegenüber.

»Sicher«, stimmte er zu.

»Ich will mich natürlich nicht einmischen, aber ich würde Ihnen gerne einen Tipp geben«, sagte sie.

»Einen Tipp?« David lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Was genau meinen Sie?«

»Nun, wenn ich kurz zusammenfassen darf: Sie kümmern sich mithilfe Ihres Vaters seit Jahren alleine um den Jungen, und jetzt, wo Ihr Vater vorrübergehend ausfällt, haben Sie niemanden für Marc. Ist das so richtig?«

»Absolut«, bestätigte David.

»Vielleicht habe ich eine Lösung für Sie. Kennen Sie das Kinderheim Sophienlust?« Erwartungsvoll sah Anne Meissner ihn an.

»Sophienlust? Nicht, dass ich wüsste. Nein, das sagt mir nichts.« Ein Kinderheim? Die Idee gefiel ihm überhaupt nicht. Doch er wollte Frau Meissner nicht vor den Kopf stoßen. Um sie nicht zu kränken, würde er sich zumindest anhören, was sie ihm offensichtlich nahebringen wollte.

»Sophienlust ist ein großes, wunderschönes ehemaliges Gutshaus. Es hat Sophie von Wellentin gehört, einer reichen alten Dame, die das Anwesen ihrem Großenkel Dominik vermacht hat. In ihrem Testament hat sie verfügt, dass das Haus zu einem Heim für notleidende Kinder umgestaltet werden soll. Nick, also Dominik, war noch zu klein, als dass er sein Erbe hätte antreten können. Deswegen hat seine Mutter, Denise von Schoenecker, die Verwaltung bis zu seiner Volljährigkeit übernommen. Mittlerweile ist Nick erwachsen und leitet das Heim mustergültig, soweit ich weiß.«

David lächelte höflich. Wenn er ehrlich war, interessierte ihn das alles nicht.

»Ich kenne das Heim persönlich«, fuhr Anne Meissner fort. »Eine Freundin von mir hat ihre Tochter für einige Wochen dort untergebracht, als sie beruflich auf eine Fortbildung musste. Ich habe die Kleine damals ab und an besucht. Wie gesagt, es ist wirklich sehr schön dort. Das Personal ist sehr nett und kümmert sich rührend um die Kinder. Es sind alle Altersklassen vertreten, von Vorschulkindern bis zu Abiturienten. Die Kinder unterstützen sich auch gegenseitig. Zum Haus gehören zwei Hunde, es gibt Pferde und Spielplätze. Ich kann mir vorstellen, dass Marc sich dort wohlfühlen würde.«

David lächelte angestrengt.

»Das klingt ja alles sehr schön. Dennoch, ich möchte Marc nicht in ein Heim geben.«

»Das verstehe ich. Aber vielleicht wollen Sie es sich trotzdem einmal ansehen? Es ist in Wildmoos. Das ist nicht allzu weit von hier. Mit dem Auto höchstens eine halbe Stunde. Sie könnten Marc oft besuchen.«

»Ich weiß nicht.« Er warf einen Blick auf den Bildschirm seines Computers. Von Frau Winter war noch keine Antwort gekommen.