Ein neues Leben für Anna - Heide Philip - E-Book

Ein neues Leben für Anna E-Book

Heide Philip

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Kann man der jungen Frau in Sophienlust helfen? Der alte schwarze Landrover fuhr die Landstraße entlang, aber die junge Frau hinter dem Steuer hatte keinen Blick für die prachtvoll blühende Landschaft, die sie durchquerte. Jenny Lerch war mit ihren Gedanken bei der langen Liste der fälligen Arbeiten, die in den nächsten Wochen überall auf sie warteten. Sie war bereits jetzt erschöpft und wusste nicht, wie sie all den unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden sollte. Die letzten Monate waren kräftezehrend und sehr traurig gewesen, für alle Beteiligten. Auf der nicht viel befahrenen Straße erschien, für Jenny unvermittelt, die Abfahrt zur Rehaklinik Sonnenberg. Sie schaute in den Rückspiegel und trat scharf auf die Bremse, schüttelte den Kopf und sagte laut: »Ich bin diese Strecke in den letzten Wochen doch so oft gefahren, und nun, beim letzten Mal, verpasse ich fast die Abfahrt. Das gibt es doch gar nicht!« Wenige Minuten später lenkte sie den Wagen auf einen der Besucherparkplätze. Dann holte sie tief Luft und richtete sich auf. »Das wird schon alles wieder werden!«, sagte sie laut und stieg dann zügig aus. Rasch ging sie auf das große, zweckmäßige Gebäude zu, und da sah sie sie schon: Ihre jüngere Schwester Anna saß im Rollstuhl neben dem Eingang und wartete auf sie. Jenny vergaß ihre Erschöpfung, und ein herzliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Das junge Mädchen mit den langen blonden Haaren und den freundlichen braunen Augen lächelte ebenfalls, als sie ihre große Schwester sah, und hob leicht beide Hände zu einem kleinen Gruß. Mit wenigen Schritten hatte Jenny ihre Schwester erreicht und strich ihr zärtlich mit der Hand über Haar und Gesicht. Dann griff sie nach dem Rollstuhl, drehte ihn in Richtung Eingang und schob ihre Schwester langsam in das graue Gebäude hinein. »Es ist gut, dass ich dich jetzt hier raushole«, sagte sie. »Das ist kein Ort, um richtig gesund zu werden.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 50 –

Ein neues Leben für Anna

Kann man der jungen Frau in Sophienlust helfen?

Heide Philip

Der alte schwarze Landrover fuhr die Landstraße entlang, aber die junge Frau hinter dem Steuer hatte keinen Blick für die prachtvoll blühende Landschaft, die sie durchquerte.

Jenny Lerch war mit ihren Gedanken bei der langen Liste der fälligen Arbeiten, die in den nächsten Wochen überall auf sie warteten. Sie war bereits jetzt erschöpft und wusste nicht, wie sie all den unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden sollte. Die letzten Monate waren kräftezehrend und sehr traurig gewesen, für alle Beteiligten.

Auf der nicht viel befahrenen Straße erschien, für Jenny unvermittelt, die Abfahrt zur Rehaklinik Sonnenberg. Sie schaute in den Rückspiegel und trat scharf auf die Bremse, schüttelte den Kopf und sagte laut: »Ich bin diese Strecke in den letzten Wochen doch so oft gefahren, und nun, beim letzten Mal, verpasse ich fast die Abfahrt. Das gibt es doch gar nicht!«

Wenige Minuten später lenkte sie den Wagen auf einen der Besucherparkplätze. Dann holte sie tief Luft und richtete sich auf. »Das wird schon alles wieder werden!«, sagte sie laut und stieg dann zügig aus.

Rasch ging sie auf das große, zweckmäßige Gebäude zu, und da sah sie sie schon: Ihre jüngere Schwester Anna saß im Rollstuhl neben dem Eingang und wartete auf sie. Jenny vergaß ihre Erschöpfung, und ein herzliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Das junge Mädchen mit den langen blonden Haaren und den freundlichen braunen Augen lächelte ebenfalls, als sie ihre große Schwester sah, und hob leicht beide Hände zu einem kleinen Gruß.

Mit wenigen Schritten hatte Jenny ihre Schwester erreicht und strich ihr zärtlich mit der Hand über Haar und Gesicht. Dann griff sie nach dem Rollstuhl, drehte ihn in Richtung Eingang und schob ihre Schwester langsam in das graue Gebäude hinein.

»Es ist gut, dass ich dich jetzt hier raushole«, sagte sie. »Das ist kein Ort, um richtig gesund zu werden. Zu grau und trist ist hier alles.« Sie legte sanft ihre rechte Hand auf die Schulter der kleinen Schwester und drückte sie leicht.

Anna nickte fast unmerklich und legte vorsichtig ihre Hand auf die Jennys. »Gut, dass ich dich habe und du mir geblieben bist. Sonst wäre ich jetzt allein. Ganz allein.«

Das junge Mädchen senkte den Kopf und ihr Oberkörper sank ein wenig zusammen. Schnell schob Jenny den Stuhl durch die kargen langen Gänge der Klinik, um zum Arztzimmer zu gelangen. Es sollte noch ein abschließendes Gespräch mit dem verantwortlichen Arzt geben, bevor sie sich auf den Weg machen konnten.

»Du hast schon alles gepackt, oder?«, fragte Jenny ihre Schwester, während sie an die Tür des Arztzimmers klopfte.

Anna nickte und lächelte: »Schwester Helga hat mir geholfen. Es steht alles bereit.«

Der zuständige Arzt öffnete die Tür und bat die beiden Frauen herein. Das Gespräch dauerte nicht lange, und nach zwanzig Minuten waren die Geschwister entlassen.

Jenny half Anna erst in das Auto zu steigen und räumte dann das Gepäck, das schon an der Rezeption gestanden hatte, und den Rollstuhl in den großen Kofferraum. Sie hatte durch die harte körperliche Arbeit auf ihrer kleinen Obstplantage in Rinkelbach am Bodensee viel Kraft und Muskeln bekommen und packte inzwischen überall, wo sie gebraucht wurde, tatkräftig mit an.

Anna hatte sich im Beifahrersitz zurechtgerückt und eine Decke über die Beine gelegt. Sie wartete auf ihre Schwester und darauf, endlich das Klinikgelände zu verlassen.

Jenny stieg ins Auto, schnallte sich an und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Bevor sie losfuhr, wandte sie sich noch mal ihrer Schwester zu und entdeckte die Wolldecke, die locker über ihren Beinen lag.

»Die Sonne scheint, und es sind fast 25 Grad draußen, wozu die Decke?«, fragte sie und strich sanft mit der rechten Hand darüber und somit auch über Annas Beine.

Die Angesprochene senkte den Kopf, seufzte leise und antwortete kaum hörbar: »Die verflixten Beine. Sie wollen nicht so richtig, und keiner kann mir sagen, warum. Wenn etwas darüber liegt, kann ich sie nicht sehen, und das ist besser so. Dann bin ich nicht so wütend auf sie.«

Jenny hörte, was Anna sagte, und sie fühlte, wie eine kalte Hand ihr Herz umfasste. Für sie war es schrecklich zu sehen, wie ihre kleine, geliebte Schwester litt. Die letzten Monate waren schlimm für sie beide gewesen, aber während sie, Jenny, das Unglück unverletzt überstanden hatte, waren bei Anna zu den körperlichen Verletzungen auch tiefe seelische Erschütterungen gekommen.

Laut den Ärzten in der Rehaklinik Sonnenberg waren die Beine gut verheilt, und es waren nur ganz kleine Narben zurückgeblieben. Die Verletzungen in der Seele des Mädchens hingegen konnten offenbar nicht so leicht geheilt werden. Diese Gesundung würde unter Umständen viele Jahre dauern, vielleicht sogar gar nicht eintreten.

Anna lächelte sanft und schaute zu ihrer Schwester auf dem Fahrersitz. »Es wird schon werden. Irgendwann wird es sicher wieder werden. Die Ärzte sagen, ich habe kein Vertrauen mehr in meine Beine. Sie haben mich beim Feuer im Stich gelassen. Ich konnte nicht allein aus dem brennenden Haus laufen. Und…«, ein ersticktes Schluchzen entrang sich ihr, »... ich konnte Oma nicht retten.« Tränen rannen plötzlich über die Wangen des jungen Mädchens.

Jenny lief unwillkürlich ein kalter Schauder über den Rücken. Hilflos strich sie ihrer Schwester über die Hand, dann startete sie das Auto und lenkte es rasch vom Parkplatz der Klinik auf die Hauptstraße.

*

»Ist alles fertig für unseren neuen Gast?«, fragte Denise von Schoenecker neugierig und schaute in das helle und freundlich hergerichtete Zimmer, das im Erdgeschoss des Hauses lag.

»Ja, gerade fertig geworden! Und es sieht doch wirklich hübsch aus! Hier würde ich mich auf alle Fälle wohlfühlen!«, antwortete die Kinderschwester Regine Nielsen fröhlich und trat zur Seite, um Denise den Eintritt in das Zimmer zu ermöglichen.

»Ach, wie wunderbar das alles aussieht«, rief Denise überrascht aus. »Ich hatte fast vergessen, was für ein schöner Raum das Nähzimmer eigentlich ist. Wir haben es aber auch in der letzten Zeit zu wenig genutzt. Man könnte sagen, es wurde fast stiefmütterlich behandelt. Es wurden immer nur die verschiedensten Dinge hier zwischengelagert und dann wohl auch teilweise vergessen. Dass wir jetzt einen Raum im Erdgeschoss brauchten, ist ein glücklicher Zufall, denn so mussten wir das schöne Zimmer auch wieder so aussehen lassen!«

Regine lachte herzlich und freute sich darüber, dass Denise ihre Arbeit, die in der Neugestaltung des Zimmers lag, sah und auch würdigte.

»Wenn es Ihnen so gut gefällt, wird Anna sich hier auch wohlfühlen. Ich freue mich auf unseren neuen Gast. Sie scheint ein freundliches Mädchen zu sein. Ihre Schwester Jenny hat so liebevoll von ihr gesprochen.«

Denise von Schoenecker hatte sich in den gemütlichen Sessel mit dem bunten Blumenmuster gesetzt und schlug die Beine übereinander.

»Ein neues Kind und eine neue Aufgabe. Wie immer wissen wir nicht, was auf uns zukommt, aber wie immer werden wir auch diesmal unser Bestes geben, und am Ende wird hoffentlich alles gut werden!«

»Auch wie immer!«, lächelte Regine und trat an das bodentiefe, weiß gestrichene Sprossenfenster. Sie schob die duftigen, hellen Gardinen zur Seite und schaute hinaus.

»Es kommt ein Wagen die Einfahrt hinaufgefahren. Ein Jeep oder so. Das müssten die Mädchen sein. Frau Lerch hat doch eine Obstplantage am Bodensee, da würde so ein Auto schon passen!«

Denise erhob sich aus dem gemütlichen Sessel und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um: »Vielen Dank für Ihre Arbeit, Regine. Das Zimmer ist herrlich, und Anna wird sicher auch zufrieden sein.«

Die beiden Frauen gingen gemeinsam zum Eingang, um den neuen Gast in Empfang zu nehmen. Auch Nick hatte den Landrover schon gesehen und war ebenfalls zum Eingangsportal gekommen. Zu dritt gingen sie die breite Freitreppe hinunter.

Jenny hatte den Wagen geparkt und war ausgestiegen. Jetzt ging sie um das Auto herum, um Anna die Beifahrertür zu öffnen. Nick wusste, dass das Mädchen zurzeit hauptsächlich einen Rollstuhl zur Fortbewegung benötigte, daher hatte er sich schon neben die Tür gestellt, um beim Aussteigen zu helfen.

»Herzlich willkommen in Sophienlust! Ich bin Nick von Wellentin-Schoenecker, und ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen.«

Denise und Regine waren ebenfalls an das Auto getreten, stellten sich vor und boten ihre Hilfe beim Ausladen an. Zusammen packten sie dann zügig mit an, und Anna saß sicher in ihrem Rollstuhl.

»Es ist sehr schön hier. Das Haus und diese wunderbare Parkanlage. Sie müssen sehr glücklich sein, hier wohnen zu dürfen!«, stellte Jenny fest, und sie merkte, wie ihr ein kleiner Stein vom Herzen fiel. Es war so schön hier, viel schöner, als sie erwartet hatte, und darüber war sie sehr froh. Denn eine grüne und freundliche Umgebung würde Annas Heilungsprozess sicher beschleunigen. Außerdem liebte ihre kleine Schwester die Natur sehr, und hier hatte sie sicher die Möglichkeit, sich oft im Park aufzuhalten.

»Aber die Treppe! Wie kommt Anna mit dem Rollstuhl die Treppe hinauf und hinunter?«, fragte Jenny und schaute unsicher zu Nick und seiner Mutter.

»Keine Sorge, Frau Lerch. Anna muss diese Treppe natürlich nicht benutzen. Sie hat ein Zimmer im Erdgeschoss, und das ist sehr gut über einen barrierefreien Nebeneingang zu erreichen. Anna wird keine Probleme haben, sich frei bewegen zu können. Im Haus und außerhalb, im Garten und den angrenzenden Gebäuden.« Nick lachte freundlich und schob den Rollstuhl an der Freitreppe vorbei zur Rückseite des Gebäudes.

Ein paar Minuten später hatten sie das Zimmer erreicht, und Nick schob den Rollstuhl mit Anna zuerst hinein, damit die neue Umgebung auf sie wirken konnte. Die anderen waren vor der Tür stehen geblieben und warteten auf ihre Reaktion.

»Oh, das ist schön. So hell und freundlich«, sagte das Mädchen leise, aber für alle hörbar. »Hier wird es mir sicher gut gehen.« Sie rollte eigenständig an das Fenster und schaute hinaus in den prachtvollen Garten. »Das ist ein wunderbarer Ausblick! Die vielen Farben der Blumen und der gepflegte Rasen.« Sie wandte sich zu den anderen, die noch immer an der Tür standen. Weil sie merkte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten, senkte sie ein wenig den Kopf, um es zu verbergen. »Danke. Danke dafür, dass ich hier sein darf.«

»Du bist hier herzlich willkommen, liebes Kind!«, sagte Denise lächelnd und trat zu dem Mädchen. Sie ging in die Hocke und legte vorsichtig ihre rechte Hand auf Annas im Schoß gefaltete Hände und drückte diese leicht. »Wir freuen uns sehr, dass du bei uns bist. Und wir werden alles dafür tun, dass du in Sophienlust genauso glücklich bist, wie wir es sind. Und du hast recht, es ist ein ganz wunderbarer Ort, an dem auch schon so einige kleine Wunder geschehen sind.«

Jenny stand ebenfalls noch im Türrahmen und beobachtete die Reaktion ihrer Schwester. Sie hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, Anna bei eigentlich für sie fremden Leuten zu lassen. Aber angesichts der Arbeitslast, die auf sie wartete, hatte sie dies als beste Möglichkeit gesehen. Anna sollte die bestmögliche Betreuung haben. Aber war es wirklich die Beste? Sie seufzte tief und hörbar auf.

Anna fühlte die Ungewissheit und Skepsis ihrer Schwester sofort. »Jenny, komm her und schau einmal aus dem Fenster. Es ist wirklich schön in Sophienlust. Es wird mir sicher gut gehen. Alle sind schon jetzt sehr fürsorglich.«

Die Angesprochene ging auf ihre kleine Schwester zu, beugte sich hinab und legte ihre Arme um das zarte Mädchen im Rollstuhl.

»Du versprichst, nein, du schwörst, dass du mich sofort anrufst, wenn du mich brauchen solltest. Tag und Nacht. Du weißt, ich bin immer für dich da. Und ich bin nicht so weit weg. Die hundert Kilometer fahre ich gerne für dich, auch wenn es nur für einen Abend wäre.«

Das zarte Mädchen lächelte sanft und strich ihrer Schwester liebevoll über die Hand.

»Du musst dir keine Sorgen machen. Und bitte, hab kein schlechtes Gewissen. Die Apfelernte ist so wichtig für dich, und in ein paar Wochen komme ich ja zu dir. Ich melde mich, wenn ich etwas brauche.« Anna atmete ein paar Mal tief ein und aus. »Tobias hat mir auch seine Unterstützung angeboten. Du musst nicht alles auf deine Schultern laden. Wir schaffen das schon. Zusammen wird es gehen.«

»Ach, ich bin so froh, dass du nicht traurig bist«, antwortete Jenny erleichtert. »Und du hast natürlich recht, zusammen schaffen wir das. Es ist schön, dass Tobias seine Hilfe angeboten hat. Obwohl er schon so viel für uns in den letzten Monaten getan hat, hilft er immer weiter. Er ist echt ein netter Kerl.«

Jenny überlegte kurz und zog dann die Stirn kraus. »Ich habe sogar mal ein bisschen für ihn geschwärmt. Damals, als wir zu Oma zogen. Also vor über zehn Jahren. Ich muss so um die dreizehn Jahre alt gewesen sein. Tobias war schon immer ein netter Junge. Er hat sein Herz am rechten Fleck!«

Denise von Schoenecker konnte sehen, dass Annas Wangen sich leicht röteten, während Jenny von Tobias sprach. Sie musste lächeln. Zum einen, weil sie sah, dass Anna nicht verbittert war, und zum anderen, weil sie wohl zärtliche Gefühle für diesen Tobias hegte. Denise war gespannt darauf, den jungen Mann kennenzulernen. Sie würde ihm auf den Zahn fühlen und schauen, ob er wirklich so gut zu den Schwestern passte.

Auch Regine hatte die leuchtenden Augen von Anna gesehen, als die Rede auf den jungen Mann kam. Das ist ein gutes Zeichen, dachte sie, das wird die therapeutische Arbeit mit Anna erleichtern. Sie hoffte sehr, dass sie hier Erfolg haben würden, dem zauberhaften jungen Mädchen zu helfen, dessen Beine aufgrund einer psychischen Blockade den Dienst versagten. In Sophienlust hatte es schließlich schon viele schöne Erfolge bei scheinbar hoffnungslosen Fällen gegeben ...

*

Einige Stunden später war Jenny Lerch wieder in Rinkelbach auf ihrem kleinen Obsthof am angekommen. Sie fuhr den Wagen in die Remise und stieg aus. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und sie war ziemlich erschöpft. Eigentlich wollte sie nur schnell noch duschen und dann ins Bett. Darauf freute sie sich sehr. Doch dann knurrte ihr Magen laut und deutlich, und die junge Frau stellte fest, dass sie nur am Morgen gefrühstückt hatte und jetzt sehr hungrig war.

»Aha, da komme ich ja im richtigen Augenblick! Und so wie es sich anhört, habe ich auch genau das Richtige für dich dabei!« Der Obstbauer Stefan Wirth stand plötzlich neben der jungen Frau und lachte sie an. In seinen Händen hielt er einen dieser schicken Picknickkörbe aus Weidengeflecht. Ein rot kariertes Küchentuch lugte unter dem Deckel hervor, und Jenny hatte fast das Gefühl, sie könne das Essen, das darin lag, schon riechen. Ihr Magen knurrte noch lauter und in ihrem Mund lief das Wasser zusammen. Das war jetzt genau das, was sie brauchte, eine Dusche, etwas zu essen und nette Gesellschaft!

»Stefan! Wie schön, dich zu sehen. Was machst du hier? Bist du zufällig vorbeigekommen?« Jenny lächelte glücklich.

»Es wäre glatt gelogen, wenn ich sagen würde, mein Besuch wäre rein zufällig! Wie sollte ich dann das gute Essen im Korb erklären? Trage ich das auch zufällig durch die Gegend?«

Jenny fühlte ein wohliges Kribbeln im Bauch. Sie mochte Stefan Wirth sehr gern. Er war nicht nur der Verpächter ihres kleinen Obsthofs. Stefan war auch ein sehr netter und freundlicher Mensch, und zu guter Letzt sah er auch noch umwerfend aus und war ein begehrter Junggeselle in der Gegend.

Er stammte aus einer angesehenen Großgrundbesitzerfamilie am Bodensee. Seit mehreren Generationen bewirtschafteten sie große Obstanbauflächen und waren sehr erfolgreich damit.

»Gut. Also nicht zufällig. Aber was machst du hier um diese Zeit? Und noch dazu mit gutem Essen?«, fragte sie neugierig und lächelte Stefan herausfordernd an.