Sophienlust - Die nächste Generation 53 – Familienroman - Simone Aigner - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 53 – Familienroman E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

Irene lebt seit ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stuttgarter Wohnung. Mit ihrem Spielzeuggeschäft versucht sie ihre Familie über Wasser zu halten. Dann geschieht es: Irene wird von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Ein fremder Mann ist sofort zur Stelle, der sich als Dr. Klaus Meier vorstellt und ihr seine Hilfe anbietet. Er sorgt auch dafür, dass Luina und Lukas in Sophienlust untergebracht werden, solange Irene im Krankenhaus liegt. Warum aber fühlt sich Klaus eigentlich so stark verpflichtet? Ausweg Sophienlust! Stefanie saß, mit dem Rücken zur Tür und im Schneidersitz, auf ihrem zerwühlten Bett. Sie hatte sich den großen Kopfhörer über die Ohren gestülpt und hörte in voller Lautstärke Musik. Vor dem Fenster ihres Zimmers im ersten Stock des Einfamilienhauses in Kirchberg bewegten sich die Blätter der Birke, durch ihre Zweige schien das Licht der Morgensonne. Auf einem dicken Ast hockte der schwarze, übergewichtige Kater Mickey der Nachbarin Hilde Birkner und beobachtete sie aus zusammengekniffenen Augen. Stefanie starrte finster zurück und versuchte, ihn durch Blickkontakt zum Wegsehen zu bringen. Mickey hob behutsam seine rechte Vorderpfote und leckte darüber, behielt Stefanie dabei jedoch unverwandt im Blick. Unbegreiflich, dass der dicke Kater dabei das Gleichgewicht hielt. Stefanie spürte eine Berührung an ihrer Schulter und fuhr herum. Hinter ihr stand ihre Mutter. Aufgebracht riss Stefanie sich die Kopfhörer von den Ohren. »Herrschaft, Mama! Hast du mich erschreckt!«, regte sie sich auf. »Entschuldige, das wollte ich nicht. Du hörst aber auch viel zu laut Musik. Das ist nicht gut für deine Ohren. Ich habe geklopft, aber du…« »Ja, ja, ja. Was ist?«

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Sophienlust - Die nächste Generation – 53 –

Ausweg Sophienlust!

Stefanie hat ein Problem…

Simone Aigner

Stefanie saß, mit dem Rücken zur Tür und im Schneidersitz, auf ihrem zerwühlten Bett. Sie hatte sich den großen Kopfhörer über die Ohren gestülpt und hörte in voller Lautstärke Musik. Vor dem Fenster ihres Zimmers im ersten Stock des Einfamilienhauses in Kirchberg bewegten sich die Blätter der Birke, durch ihre Zweige schien das Licht der Morgensonne.

Auf einem dicken Ast hockte der schwarze, übergewichtige Kater Mickey der Nachbarin Hilde Birkner und beobachtete sie aus zusammengekniffenen Augen. Stefanie starrte finster zurück und versuchte, ihn durch Blickkontakt zum Wegsehen zu bringen. Mickey hob behutsam seine rechte Vorderpfote und leckte darüber, behielt Stefanie dabei jedoch unverwandt im Blick. Unbegreiflich, dass der dicke Kater dabei das Gleichgewicht hielt.

Stefanie spürte eine Berührung an ihrer Schulter und fuhr herum. Hinter ihr stand ihre Mutter. Aufgebracht riss Stefanie sich die Kopfhörer von den Ohren.

»Herrschaft, Mama! Hast du mich erschreckt!«, regte sie sich auf.

»Entschuldige, das wollte ich nicht. Du hörst aber auch viel zu laut Musik. Das ist nicht gut für deine Ohren. Ich habe geklopft, aber du…«

»Ja, ja, ja. Was ist?«, fuhr Stefanie ihre Mutter an. Aus den Kopfhörern, die sie nun in der Hand hielt, drang noch immer die Musik. Sie war wirklich laut, aber genau das war der Sinn der Sache. Sie wollte sich, im wahrsten Sinn des Wortes, zudröhnen lassen, einhüllen, betäuben und weg aus der Wirklichkeit.

»Wir fahren morgen früh um neun Uhr. Kommst du mit Packen alleine klar?«, fragte Katja Schmelzer, offenbar die Ruhe selbst. Auch darüber ärgerte sich Stefanie furchtbar. Die Mutter war meist so gelassen.

»Ich fahr nicht mit.« Stefanie setzte ihre Kopfhörer wieder auf und drehte der Mutter den Rücken zu. Ihr Herz klopfte ein bisschen zu schnell. Mit Gewalt würde die Mutter sie nicht ins Auto zerren, dennoch fürchtete Stefanie im Stillen, irgendein Druckmittel würde sie finden, um sie zum Mitfahren zu bewegen. Sekunden später verstummte die Musik, mit der sie versucht hatte, sich jeder Diskussion zu entziehen. Heißer, ohnmächtiger Zorn durchlief sie, und erneut fuhr sie herum. Die Mutter hatte den Stecker der Musikanlage gezogen, mit der die Kopfhörer über Funk verbunden waren.

»Mach den Stecker wieder rein!«, verlangte Stefanie aufgebracht.

»Wenn du dich weiter so aufführst, nehme ich dir die Kopfhörer ab. Oder gleich die ganze Musikanlage«, sagte ihre Mutter ruhig. »Du packst jetzt deine Reisetasche und fährst morgen mit uns ans Steinhuder Meer.«

»Nein!« Vor Wut und Hilflosigkeit war Stefanie den Tränen nahe. »Ich will nicht mit diesem Kerl wegfahren. Ich bleibe hier! Ich bin alt genug.« In ihrer Brust saß ein verzweifeltes Schluchzen, gegen das sie mühsam ankämpfte.

»Steffi.« Die Mutter warf einen Blick auf die Bettkante, doch Stefanie hätte zur Seite rutschen müssen, damit sie sich zu ihr setzen konnte. Sie bewegte sich keinen Zentimeter. Katja Schmelzer setzte sich auf den Schreibtischstuhl, der nur wenige Schritte vom Bett entfernt stand.

»Du kannst unmöglich zwei Wochen alleine hierbleiben. Du bist 15 Jahre! Das geht einfach nicht. Außerdem wird es bestimmt sehr schön. Florian freut sich total. Adrian will mit ihm ein kleines Mühlrad aus Holz bauen. Es gibt einen Radweg dort, auch mehrere und tolle Bademöglichkeiten. Es wird dir gefallen«, bemühte sich die Mutter, sie zu überzeugen.

»Du hast keine Ahnung, was mir gefällt«, hielt Stefanie dagegen. »Und Flo freut sich nur, weil er auch keine Ahnung hat. Papa ist schon viel zu lange weg. Alles nur, weil du diesen Typen angeschleppt hast. Wenn der denkt, er kann so tun, als ob er mein Vater wäre, kann er sich…«

»Stefanie! Es reicht jetzt. Du packst deine Tasche und kommst morgen mit.« Sie kannte die Entschlossenheit im Tonfall der Mutter. Sie würde jetzt gleich den Raum verlassen und erwarten, dass sie tat, was sie von ihr verlangte.

»Niemals! Es reicht schon, dass der Typ jeden Tag hier herumlungert. Ich hab kein Zuhause mehr, seit der hier ist! Mir reicht es. Und ehe ich mit dem in Urlaub fahre, gehe ich ins Heim.«

Die Mutter stand auf. Stefanie sah Schmerz und Enttäuschung in ihrem Gesicht und ihr Herz pochte schnell und hart gegen die Rippen. Sie schämte sich für ihre zornigen Worte und fand doch kein Zurück.

»Du weißt nicht, was du redest«, sagte die Mutter. »Pack deine Tasche. Morgen um neun Uhr ist Abfahrt.«

Es drängte Stefanie, ihren Kopfhörer an die Wand zu werfen, um ein wenig inneren Druck abzubauen und vor allem, um die Mutter zu erschrecken. Doch er war ihr zu wertvoll, und er war zu teuer gewesen.

Die Mutter verließ das Zimmer und schloss sacht die Tür hinter sich. Stefanie warf sich rücklings auf ihr Bett und schlug mit den Händen in hilfloser Wut auf die Matratze. Es half nicht. Es half auch nicht, zornig mit den Beinen zu strampeln. Es gab überhaupt nichts, was half.

*

Katja Schmelzer stand sekundenlang im Flur und versuchte, sich zu beruhigen. So gelassen sie sich gegenüber ihrer Tochter auch gab, innerlich war sie völlig aufgewühlt. Seit Adrian vor drei Jahren bei ihnen eingezogen war, rebellierte Stefanie gegen ihn. Sie hatte so sehr gehofft, es würde sich mit der Zeit geben. Doch offenbar war diese Hoffnung vergeblich. Stefanie ging mehr denn je auf Konfrontation. Vielleicht spielte auch die Pubertät eine Rolle bei ihrem Verhalten. Dabei war Adrian nichts vorzuwerfen. Er hatte sich von Anfang an sehr um die Kinder bemüht. Bei Florian war es ihm rasch gelungen, das Herz des kleinen Jungen zu gewinnen. Flo hing an ihm, er freute sich, wenn Adrian abends von der Arbeit kam, und suchte viel seine Nähe. Doch Stefanie gab ihm keine Chance. In ihren Augen verhinderte seine Existenz die Rückkehr ihres Vaters. Dass Martin sich seit Jahren nicht gemeldet hatte, ignorierte Stefanie ebenso wie die Tatsache, dass er auch zuvor kaum Interesse an seinen Kindern gehabt hatte.

In ein Heim wollte sie lieber, als mit in den Urlaub fahren! Katja schüttelte stumm den Kopf. Unglaublich, was im Kopf eines Teenagers vor sich gehen konnte.

Als sie Adrian kennengelernt hatte, war Flo ein knappes Jahr gewesen und Stefanie gerade elf Jahre alt geworden. Obwohl sie sich sofort in den sympathischen, attraktiven Redaktionsleiter des örtlichen Radiosenders verliebt hatte, hatte sie zunächst seine Einladungen mit ihm auszugehen, abgelehnt. Zu tief saßen die Enttäuschung und der Schmerz über das Verhalten ihres Ex-Mannes, zu groß war die Furcht gewesen, erneut verletzt zu werden. Doch still und einfühlsam hatte Adrian um sie geworben, bis sie ihre Zurückhaltung aufgegeben hatte. Mittlerweile waren sie seit Jahren ein Paar, und sie hätten glücklich sein können, wäre nicht Stefanies heftiger Widerstand gegen ihn gewesen.

Katja hoffte, dass ihre Tochter zumindest insoweit zur Einsicht kam, dass sie nun doch ihre Reisetasche packte und sich morgen ohne weitere Proteste ins Auto setzte. Mehr konnte sie derzeit wohl nicht von ihr erwarten. Sie würde sich nun um ihr eigenes Gepäck kümmern und das von Florian.

*

Stefanie warf ihren Kopfhörer aufs Bett und stand auf. Sie hatte keine Lust mehr, Musik zu hören, zum Teil auch, weil sie zuerst wieder den Stecker der Anlage hätte anstecken müssen. Das widerstrebte ihr, obgleich sie wusste, letzten Endes würde sie es selbst tun müssen. Ihre Mutter würde es sicher nicht machen. In ihr brodelte der Zorn, und dieser Zorn musste irgendwo raus. Auf ihrem Schreibtisch lag ihr Handy. Sie musste unbedingt und sofort Emilie eine Nachricht schreiben. Hoffentlich war sie noch zu Hause. Sie brauchte ihre Hilfe!

Hastig rief Stefanie den WhatsApp-Account ihrer besten Freundin auf.

›Hey, wo bist du?‘, schrieb sie.

Sekunden darauf ging Emilie online und tippte: ›Kurz vor dem Brenner, warum?‘

Mist, Mist, Mist.

›Was ist los?‘, schrieb Emilie.

›Ich dachte, ihr fahrt erst morgen nach Italien‘, antwortete Stefanie.

›Nee, heute.‘

›Hab hier voll den Stress‘, tippte Stefanie. ›Hätte die Zeitung gebraucht, die neulich bei euch auf der Terrasse lag, mit dem Artikel über das Kinderheim.‘

›Wozu?‘, fragte Emilie.

›Ich fahr nicht mit in Urlaub. Ich geh ins Heim. Beschlossene Sache. Aber ich brauche die Adresse oder wenigstens den Namen von dem Heim.‘

›Ich weiß weder noch. Sag bloß, die stecken dich ins Heim? Krass.‘

Stefanie zog die Augenbrauen in die Höhe. Emilie verstand offenbar nicht, was sie ihr sagen wollte.

›Nein! Ich geh freiwillig da rein. Ist mir lieber wie Urlaub mit dem Typ. Wo bekomme ich denn jetzt die Zeitung her?‘ Ihr schöner Plan zerrann ihr förmlich unter den Händen.

›Die liegt bei uns im Altpapier. Die Tonne ist fast voll. Kommst du problemlos ran.‘

Die Erleichterung überschwemmte sie beinahe. Sie schickte der Freundin drei Kuss-Smileys.

›Ich halte dich auf dem Laufenden‘, schrieb sie, schloss den Account und eilte aus ihrem Zimmer. Im Flur lauschte sie. Die Mutter besprach mit Florian, welche Spielsachen er mitnehmen wollte. Sehr gut. Leise huschte sie aus dem Haus.

Emilie wohnte mit ihren Eltern nur eine Straße weiter. Tatsächlich lag die ersehnte Zeitschrift ganz oben im Altpapier. Stefanie rollte sie zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und eilte zurück.

Als sie wieder zu Hause war, schloss sie sich in ihrem Zimmer ein, setzte sich mit überkreuzten Beinen aufs Bett und suchte den Artikel, in dem es um ein Kinderheim ging, das nicht weit von ihrem Wohnort Kirchberg sein sollte. So hatte sie den Bericht zumindest in Erinnerung.

*

Adrian räumte den Geschirrspüler ein, Katja stellte die Reste des Abendessens in den Kühlschrank. Florian saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Er durfte, ehe er ins Bett musste, noch eine Folge seiner Lieblingsserie ›Biene Maja‘ sehen. Stefanie hatte sich in ihr Zimmer verzogen. Sie hatte während des Essens kein Wort gesprochen und ihn auch keines Blickes gewürdigt. Durch Florians ständiges aufgeregtes Geplapper wegen des bevorstehenden Urlaubs war ihr verletzendes Verhalten jedoch ein wenig untergegangen.

Adrian schloss die Klappe des Geschirrspülers und wandte sich Katja zu, die den Esstisch abwischte. Sie sah bedrückt aus und er wusste, warum. Behutsam nahm er sie in den Arm und streichelte ihren Rücken. Er liebte sie und er liebte ihren Sohn, als wäre er sein eigenes Kind. Nur Steffi machte ihm das Leben schwer. Er hatte ihr ein väterlicher Freund sein wollen, doch sie hatte sich von Anfang an ihm gegenüber wechselweise ablehnend oder rebellisch gezeigt.

Zunächst war er überzeugt gewesen, sie würde nur Zeit brauchen, um sich an ihn zu gewöhnen, und über kurz oder lang würden sie zumindest miteinander auskommen. Inzwischen war ihm klar, dass er sich getäuscht hatte. Das heranwachsende Mädchen sah ihn als denjenigen an, der verhinderte, dass ihr Vater zurückkam. Dabei hatte sich der Mann seit Jahren nicht gemeldet, weder bei Katja noch bei seinen Kindern, und auch zuvor war er weder ein guter Ehemann noch ein treu sorgender Vater gewesen, das hatte ihm Katja zumindest so erzählt.

Katjas Kopf lag an seiner Schulter.

»Hattet ihr Streit?«, fragte er leise.

»Eine kleine Auseinandersetzung, ja«, gab Katja zu.

»Sie will nach wie vor nicht mitfahren, richtig?«, fragte er. Es belastete ihn, umso mehr, weil er sah, wie Katja unter der Situation litt.

»Immerhin hat sie inzwischen ihre Tasche gepackt«, wich seine Lebensgefährtin einer klaren Antwort aus. Adrian drückte Katja kurz an sich, ehe er sie losließ.

»Ich gehe nach draußen und sehe noch mal nach dem Wagen. Getankt habe ich vorhin, der Reifendruck passt auch, und jetzt prüfe ich noch den Öl- und Wasserstand. Dann steht der Abfahrt morgen nichts mehr im Weg.« Er küsste Katja und verließ die Küche.

Auf dem Weg nach draußen dachte er, dass es so nicht weitergehen konnte. Alle litten unter der Situation, und er fühlte sich, wenn schon nicht daran schuld, so doch in der Verantwortung. Sogar der Kleine war ab und an schon hin und her gerissen. Erst letztes Wochenende war das der Fall gewesen, als er den Kindern den Besuch eines Freizeitparks vorgeschlagen hatte. Stefanie hatte sofort abgelehnt und behauptet, lieber mit ihrer Freundin Emilie ins Freibad zu wollen. Florian war sehr enttäuscht gewesen, dass sie nicht mitwollte. Letzten Endes waren sie, auf Katjas Einwirken hin, dann doch zu viert gegangen. Stefanie hatte sich jedoch beständig im Hintergrund gehalten und weder die Fahrt im Riesenrad noch das Kettenkarussell mitmachen wollen und auch sonst nichts. Das wiederum hatte Florian bedrückt. Adrian hatte mitbekommen, wie er Stefanie wegen des ausgefallenen Freibadbesuches hatte trösten wollen, indem er ihr versicherte, es würde bestimmt bald klappen, und im Freizeitpark wäre es doch auch sehr schön. Stefanie hatte ihren kleinen Bruder in den Arm genommen, jedoch nichts zu seinen Worten gesagt. Dass der Kleine seine Schwester aufmuntern wollte, hatte Adrian sehr berührt.

Längst hatte der Junge die Spannungen zwischen Stefanie und ihm mitbekommen. Adrian liebte Katja und Florian, und trotz aller Auflehnung gegen ihn mochte er auch das Mädchen. Irgendwie konnte er sie sogar verstehen. In ihrer Erinnerung verherrlichte sie ihren Vater, träumte davon, dass er wiederkam, und blendete aus, dass er sich nie für sie und ihren Bruder interessiert hatte. Dadurch, dass Martin nie etwas von sich hören oder gar sehen ließ, konnte sie an ihrem Bild vom liebevollen Vater, dem er, Adrian, den Weg versperrte, festhalten. In seiner Ratlosigkeit, was er tun konnte, um doch noch Zugang zu Stefanie zu finden, wünschte er sich manchmal beinahe, Martin möge wiederauftauchen und dem Mädchen sein wahres Gesicht zeigen. Dann wieder schämte er sich für diesen Wunsch, doch er wusste einfach nicht mehr weiter.

Adrian zog das Garagentor auf und öffnete mit der Fernbedienung des Zündschlüssels den Wagen. Er mochte den Gedanken, der ihn tief im Inneren schon eine Weile beschäftigte, nicht groß werden lassen, und konnte doch nicht verhindern, dass er sich immer wieder meldete: War es langfristig gesehen besser, wenn er die Konsequenzen zog? Wenn das Mädchen sich mit ihm als Partner seiner Mutter nicht abfinden konnte, würden sie nie in Harmonie und Einigkeit miteinander leben können. Die Vorstellung zu gehen, zerriss ihn förmlich. Katja war die Frau, mit der er zusammenbleiben wollte.

Adrian versuchte, die belastenden Überlegungen beiseitezuschieben. Morgen fuhren sie zusammen in den Urlaub. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, alleine und in Ruhe mit Stefanie zu reden. Vielleicht gelang es ihm doch noch, irgendwie Zugang zu ihr zu finden.

*

Stefanie lag angezogen im Bett und lauschte. Es war kurz nach sechs Uhr am Morgen. Der Bus nach Wildmoos, wo sich das Kinderheim Sophienlust befand, fuhr um sechs Uhr dreißig. Bis zur Bushaltestelle brauchte sie keine fünf Minuten. Ihre Reisetasche und ihr Rucksack standen gepackt bereit. Im Haus war es noch ganz ruhig. Behutsam schob sie die Beine über die Bettkante und stand auf. Sie schulterte den Rucksack, nahm ihre Tasche und schlich aus ihrem Zimmer. Die dritte Stufe der Treppe knarrte, wie üblich. Ihr Versuch, auf eine Stelle zu treten, an der das Geräusch nicht auftrat, misslang. Sekundenlang hielt sie den Atem an, doch weder aus dem Schlafzimmer der Mutter, in dem natürlich auch Adrian schlief, noch aus Florians Zimmer war etwas zu hören.

Endlich stand sie im Erdgeschoss. Rasch schlüpfte sie in ihre Schuhe und verließ, so leise es ging, das Haus.

Der Morgen war noch kühl, doch die Sonne schickte schon die ersten wärmenden Strahlen vom Himmel. Stefanie lief, so schnell sie konnte. Erst wenn sie um die Straßenecke herum war, konnte sie sich ein wenig mehr Zeit lassen, denn von da aus konnte man sie vom Haus aus nicht mehr sehen.

Mit wild pochendem Herzen erreichte sie die Bushaltestelle. Die Fahrt nach Wildmoos dauerte etwa eine viertel Stunde, hatte sie im Internet gelesen, und angeblich hielt der Bus unweit des Kinderheims. Doch was, wenn sie dort nicht bleiben durfte? Was, wenn sie sie zurückschickten? Es schnürte ihr die Kehle zu. Sie setzte sich auf die Bank im Bushäuschen und stellte ihre Reisetasche neben sich. Niemand außer ihr wartete an diesem Samstagmorgen und um diese frühe Stunde auf den Bus.

Sie konnten sie nicht zurückschicken. Sie würde niemandem sagen, wo sie wohnte. Und am besten auch keinen Nachnamen nennen. In der Zeitschrift hatte gestanden, Sophienlust war ein Haus für Kinder in Not, und jedes Kind wäre herzlich willkommen. Sie war durchaus in Not. Als Kind sah sie sich zwar nicht mehr, aber das war hoffentlich nicht so genau zu nehmen.

Stefanie hörte den Bus kommen und stand auf. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

*

Nick von Wellentin-Schoenecker betrat das Kinderheim Sophienlust, dessen Eigentümer er war, und durchquerte die Eingangshalle. Es war noch früh am Morgen, gerade sieben Uhr, und es war noch recht ruhig im Haus. Nur aus der Küche hörte man das Klappern von Geschirr, und der verlockende Duft frisch gebrühten Kaffees zog durch den Flur. Er wandte sich zur Küche, klopfte an die Tür und trat ein. Magda, die Köchin des Kinderheims, stand am Herd und buk unzählige kleine Pfannkuchen. Ein Stapel davon lag bereits auf einem großen Teller. In der Kaffeemaschine blubberte der Kaffee, und Magdas Wangen waren gerötet, wie meist, wenn sie bei der Arbeit war.

»Guten Morgen, Magda«, grüßte Nick und lächelte.

»Guten Morgen, Nick«, erwiderte die Köchin und strahlte ihn an. Ihr weißer Kittel spannte etwas um ihre füllige Figur, und aus dem Haarknoten, den sie im Nacken trug, hatten sich ein paar Strähnen gelöst. »Möchtest du einen Kaffee?«, fragte sie.

»Klar.« Er schmunzelte. »Deswegen bin ich hier.«

»Nimm dir gern auch von den Pfannkuchen«, fuhr Magda fort und wendete die Kuchen, die in der Pfanne lagen. »Ich kann dich leider nicht bedienen, sonst brennt mir hier was an.«

»Musst du auch nicht. Ich nehme mir gern was«, versicherte Nick. Er füllte einen Becher mit Kaffee, gab Milch und Zucker dazu und legte drei der warmen kleinen Köstlichkeiten auf einen Teller. Er stäubte reichlich Puderzucker auf das süße Gebäck und wandte sich zum Gehen.

»Bis später, Magda, und danke«, verabschiedete er sich.

»Immer gerne. Bis später.« Magda hantierte weiter am Herd und wandte ihm den Rücken zu.

Nick ging über den Flur zu seinem Büro, öffnete die Tür mit dem Ellbogen und stellte sein Frühstück auf den Schreibtisch. Um diese frühe Stunde arbeitete er am liebsten. Er ging zum Fenster, um die Morgenluft des Sommertages hereinzulassen, und öffnete es. Von hier aus konnte er die Zufahrt zum Kinderheim sehen.

Verwundert sah er ein Mädchen durch das zweiflügelige schmiedeeiserne Tor kommen, das immer offenstand. Es trug eine Reisetasche bei sich und hatte einen Rucksack auf dem Rücken. Das Mädchen blieb stehen und ließ den Blick über die Fassade des Hauses gleiten. Er war nicht sicher, ob sie ihn bemerkt hatte, doch nun ging sie Richtung Freitreppe und entschwand seinem Blickfeld. Nick trat vom Fenster zurück. Es war kein neues Gastkind angekündigt, und zudem kamen die Kinder meist in Begleitung eines Erwachsenen. Er beschloss, der Besucherin entgegenzugehen, und verließ sein Büro.

Als er in die Halle kam, wurde die Eingangstür gerade aufgedrückt und das Mädchen betrat das Haus.

»Entschuldigung«, sagte sie beinahe erschrocken, als sie ihn sah. »Ich wollte nicht klingeln, es ist noch so früh.«

»Kein Problem. Ich bin Nick von Wellentin-Schoenecker. Wie kann ich dir helfen?«, fragte er und lächelte. Sie war nervös und hatte Angst, das sah er ihr an.

»Ich bin Steffi. Kann ich hierbleiben?«, stieß sie hervor.

»Theoretisch ja. Bist du alleine gekommen?«, vergewisserte er sich. Steffi nickte.

»Mit dem Bus«, sagte sie.

»Was ist mit deinen Eltern? Wissen Sie, dass du hier bist?«, erkundigte er sich. Irgendetwas stimmte nicht. Das Mädchen wirkte gehetzt. Möglicherweise war sie weggelaufen. Oder sie wurde verfolgt?

»Niemand weiß, dass ich hier bin. Bitte. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass hier ist ein Haus für Kinder in Not«, fuhr sie eilig fort.

»Das ist richtig. Ich schlage vor, wir gehen in mein Büro«, sagte Nick. Er musste wissen, wer das Mädchen war und warum sie hierhergekommen war. Sie war eindeutig noch minderjährig. Möglicherweise gab es Angehörige, die sie über kurz oder lang vermissten. Steffi sah gepflegt aus und gut gekleidet, die Reisetasche und ihr Rucksack waren in gutem Zustand. Auf der Straße lebte sie sicher nicht.

»Setz dich doch«, sagte er und schloss die Bürotür hinter sich. Steffi setzte sich auf die Kante des Besucherstuhls und stellte ihre Reisetasche neben sich auf den Boden. Den Rucksack behielt sie auf dem Rücken.

»Du bist also in Not«, griff Nick den entscheidenden Punkt des Gespräches wieder auf und nahm selbst hinter seinem Schreibtisch Platz. Steffi nickte.

»Erzähl mir bitte, was passiert ist«, bat er. Heftig schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Das kann ich nicht. Aber ich weiß nicht, wo ich hinkann.« Sie wich seinem Blick nicht aus.

»Wie alt bist du Steffi?«, fragte er und betrachtete sie. Je länger er sie ansah, umso überzeugter war er, dass sie von zu Hause ausgerissen war. Wohl nicht allzu überstürzt, dagegen sprach ihr Gepäck, das vergleichsweise umfangreich war.

»Fünfzehn«, erwiderte sie.

»Gut. Schau, Steffi, du kannst natürlich hierbleiben. Trotzdem muss ich ein bisschen mehr von dir wissen, und ich muss deine Eltern oder Erziehungsberechtigten verständigen. Sie machen sich bestimmt Sorgen um dich«, sagte er.

»Nein, bitte nicht. Es geht nicht. Wirklich nicht.« Sie verkrampfte die Hände ineinander. Er brauchte sie nicht nach ihrem Nachnamen oder ihrer Adresse zu fragen. Sie würde ohnehin nicht antworten. Natürlich würde er sie nicht wegschicken, das konnte er gar nicht verantworten. Doch er musste die Behörden verständigen. Zuvor aber wollte er versuchen, doch noch ein wenig mehr zu erfahren.

»Wie bist du denn auf die Idee gekommen, hierher zu uns zu kommen?«, fragte er.

»Das war wegen dem Zeitungsartikel. Den hab ich gelesen«, sagte sie.

»Ach ja. Du meinst die Serie über die besten Kinderheime in Deutschland.« Der Artikel war vor etwa zwei Wochen in einer großen Zeitschrift erschienen.

»Ja«, bestätigte Steffi.

»Warst du lange mit dem Bus unterwegs?«, erkundigte er sich.