Sophienlust - Die nächste Generation 55 – Familienroman - Simone Aigner - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 55 – Familienroman E-Book

Simone Aigner

0,0

Beschreibung

Irene lebt seit ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stuttgarter Wohnung. Mit ihrem Spielzeuggeschäft versucht sie ihre Familie über Wasser zu halten. Dann geschieht es: Irene wird von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Ein fremder Mann ist sofort zur Stelle, der sich als Dr. Klaus Meier vorstellt und ihr seine Hilfe anbietet. Er sorgt auch dafür, dass Luina und Lukas in Sophienlust untergebracht werden, solange Irene im Krankenhaus liegt. Warum aber fühlt sich Klaus eigentlich so stark verpflichtet? Luca tappte, barfuß und im Schlafanzug, durch den Flur zum Wohnzimmer. Die Tür stand offen, und im Licht der Morgensonne sah er seinen Opa im Lehnstuhl sitzen. Seine schmale Brille hatte er ganz weit vorne auf die Nase gezogen, und seine weißen Haare standen wie ein dichter Kranz aus Watte um den Kopf. Die Tageszeitung, die er in der Hand hielt, zitterte ein bisschen. Aber vielleicht waren es auch Opas Hände, die zitterten. Sie zitterten öfters, das war Luca schon aufgefallen. Zum Beispiel, wenn der Opa ihm etwas zu essen machte. "Opa? ", sprach er ihn an. Der alte Mann reagierte nicht, nur sein Kopf bewegte sich bedächtig von einer Seite zur anderen. Bestimmt las er sich leise was aus der Zeitung vor. "Opa? ", versuchte Luca noch einmal, seinen Großvater auf sich aufmerksam zu machen. "Hm? ", machte der alte Herr, sah hoch und lächelte ihn an. Er ließ die Zeitung sinken und schob seine Brille dicht vor die Augen. "Guten Morgen junger Mann", begrüßte er ihn. "Ausgeschlafen? Zähne geputzt? Luca nickte und kam ins Wohnzimmer.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 181

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust - Die nächste Generation – 55 –

Rückkehr in die Heimat

Wie Luca eine richtige Familie bekam …

Simone Aigner

Rückkehr in die Heimat

Wie Luca eine richtige Familie bekam …

Roman von Simone Aigner

Luca tappte, barfuß und im Schlafanzug, durch den Flur zum Wohnzimmer. Die Tür stand offen, und im Licht der Morgensonne sah er seinen Opa im Lehnstuhl sitzen. Seine schmale Brille hatte er ganz weit vorne auf die Nase gezogen, und seine weißen Haare standen wie ein dichter Kranz aus Watte um den Kopf. Die Tageszeitung, die er in der Hand hielt, zitterte ein bisschen. Aber vielleicht waren es auch Opas Hände, die zitterten. Sie zitterten öfters, das war Luca schon aufgefallen. Zum Beispiel, wenn der Opa ihm etwas zu essen machte.

„Opa?“, sprach er ihn an. Der alte Mann reagierte nicht, nur sein Kopf bewegte sich bedächtig von einer Seite zur anderen. Bestimmt las er sich leise was aus der Zeitung vor.

„Opa?“, versuchte Luca noch einmal, seinen Großvater auf sich aufmerksam zu machen.

„Hm?“, machte der alte Herr, sah hoch und lächelte ihn an. Er ließ die Zeitung sinken und schob seine Brille dicht vor die Augen. „Guten Morgen junger Mann“, begrüßte er ihn. „Ausgeschlafen? Zähne geputzt?“

Luca nickte und kam ins Wohnzimmer. „Darf ich raus, spielen?“, fragte er.

„Nach dem Frühstück“, antwortete sein Großvater. Er faltete die Zeitung zusammen und versuchte, aufzustehen. Das ging nicht so fix wie bei Luca. Opa stemmte sich meist mühsam hoch und stöhnte dabei ein bisschen, so auch jetzt. Mit wackeligen Schritten ging er auf ihn zu.

„Was magst du essen, Luca? Ein Marmeladenbrot und einen Kakao dazu? Oder lieber ein Müsli mit Bananenstückchen?“

„Ich mag das Müsli, mit ganz viel Banane und den Kakao dazu“, bat Luca.

„Bekommst du“, versicherte sein Großvater. Gemeinsam gingen sie in die Küche.

„Darf ich die Banane schneiden?“, fragte Luca. „Klar. Du bist doch schon ein großer Junge und kommst bald in die Schule“, antwortete der Opa. Luca gab keine Antwort. Er war sich gar nicht sicher, ob er in die Schule wollte. Im Kindergarten gefiel es ihm gut, und Lisa, die in seiner Kindergartengruppe war, hatte ihm erzählt, dass ihr großer Bruder, der schon in die zweite Klasse ging, gar nicht mehr viel Zeit zum Spielen hatte, weil er immer Hausaufgaben machen musste. Lisa fand Hausaufgaben doof. Luca war ziemlich sicher, dass er Hausaufgaben auch doof finden würde. Er spielte nämlich sehr gerne, nur leider oft alleine.

Opa legte ihm ein Schneidbrettchen auf den Küchentisch und ein Frühstücksmesser dazu. Luca hätte gerne ein richtig scharfes Messer genommen. So eins, wie der Opa zum Äpfelschneiden nahm. Aber das bekam er nicht.

„Möchtest du die Banane selber schälen?“, fragte Opa.

„Ja. Aber du musst sie erst oben aufmachen“, erinnerte ihn Luca. Opa brummelte etwas, was Luca nicht verstand, und hielt ihm dann die Banane hin, die nun ein Stückchen offen war. Konzentriert machte sich Luca ans Werk.

„Schneide nur die Hälfte, alles schaffst du nicht“, wies Opa ihn an und holte das Müsli aus dem Küchenschrank und das Kakaopulver.

Wenige Minuten später setzte sich der Großvater mit einem Tee, den er sich nebenher gekocht hatte, zu ihm an den Tisch. Luca löffelte sein Müsli. Es schmeckte richtig gut, die Banane war schön süß und der Kakao auch.

„Opa, ich hab dir ganz viel geholfen beim Frühstückmachen, ja?“, fragte er mit vollem Mund.

„Hast du, mein Junge, hast du“, bestätigte der alte Mann und lächelte ihm zu. „Trotzdem spricht man nicht mit vollem Mund.“

Luca nickte, kaute ein bisschen schneller, weil er noch mehr sagen wollte, und schluckte.

„Weil, ich hab ja die Banane geschnitten“, ergänzte er.

„Stimmt. Und das hast du prima gemacht“, lobte Opa ihn. Luca schob ein großes Stück Banane mit Milch auf seinen Löffel, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er sollte ja nicht mit vollem Mund reden, aber er musste den Opa unbedingt was fragen. Deswegen musste die Banane warten.

„Opa, die Lisa fährt heute mit ihren Eltern zu einem Bauernhof, auf dem gibt es ein Pony. Sie darf vielleicht drauf reiten. Darf ich auch hin?“

„Aber Luca, wie stellst du dir das vor? Ich weiß ja nicht einmal, welcher Bauernhof das ist und wo“, wehrte sein Großvater ab.

„Du kannst doch die Lisa anrufen oder ihre Mama“, schlug Luca vor und rührte in seinem Müsli. Er ahnte jetzt schon, dass es nichts wurde, mit dem Ponyreiten und so. Dabei wäre er so gerne mit dorthin gegangen.

„Jungchen, ich kenne doch Lisas Mama fast gar nicht. Bestimmt sind die Leute, denen der Bauernhof gehört, Verwandte oder Freunde von Lisas Familie. Da können wir uns nicht einfach anschließen.“

Luca hatte keinen Appetit mehr auf sein Müsli. Er hatte so gehofft, den Opa überzeugen zu können. Er schob seine Schüssel von sich.

„Du kennst sie wohl. Du hast schon mit ihr geredet, wenn du mich vom Kindergarten abgeholt hast“, maulte er. „Und Hühner gibt es dort auch und Schafe und Kühe. Die mag ich alle sehen.“

„Ich habe vielleicht ein oder zwei Worte oder Sätze mit ihr gewechselt. Erinnern kann ich mich jetzt nicht. Vielleicht können wir in den Ferien in den Zoo gehen. Dort gibt es auch viele Tiere.“

„Ich will aber mit Lisa auf den Bauernhof und auf dem Pony reiten“, beharrte Luca.

„Also, das kommt nicht infrage. Jetzt iss dein Müsli und trink deinen Kakao. Dann kannst du in den Garten und spielen“, beendete sein Großvater entschieden die Diskussion.

„Aber alleine spielen ist doof!“ Trotzig gab Luca seiner Kakaotasse einen Schubs, und die braune Flüssigkeit schwappte über.

„Luca! Was soll denn das?“ Aufgebracht sah ihn sein Opa an. Luca verschränkte die Arme vor der Brust. Er hätte gerne geweint, aber erfahrungsgemäß half das nicht bei der Durchsetzung seiner Wünsche. Der Großvater stand auf und holte einen Wischlappen, der über dem Wasserhahn beim Spülbecken hing.

„Hier.“ Er reichte ihm das Tuch. „Mach sauber. Wenn du wirklich nichts mehr essen willst, dann trink wenigstens den Kakao.“

Trotzig fuhr Luca mit dem Tuch über die braune Pfütze. Heute war ein ganz doofer Tag.

*

Luca saß im Garten im Sandkasten, der unter einem Kirschbaum stand, und ließ lustlos den Sand durch die Finger rieseln. Heute war kein Kindergarten und morgen auch nicht, und der Opa wollte auch nichts mit ihm unternehmen. Jedenfalls nichts, was Spaß machte. Manchmal nahm er ihn mit zum Einkaufen oder auf einen Spaziergang, und das war beides nicht so toll. Lustlos griff er nach der kleinen Plastikschaufel und grub ein Loch. Er war traurig und ihm war schrecklich langweilig. Luca ließ die Schaufel fallen. Er war doch kein Baby mehr, das im Sand spielte! Vielleicht konnte er mit seinem Roller ein bisschen durch das Dorf fahren. Das machten große Jungen, die bald in die Schule kamen. Im Dorf kannte er jede Straße und jeden Baum, und es gab auch nicht viele Häuser. Und er blieb immer auf dem Gehweg. Vorsichtig sah er zum Wohnzimmerfenster. Eigentlich musste er erst den Opa fragen, ob er wegdurfte. Schon deshalb, weil er ihm dann immer eine Uhr mitgab, damit er wusste, wann er wieder daheim sein musste. Die Uhr konnte Luca zwar noch nicht lesen, aber der Opa zeigte ihm immer, wo welcher Zeiger stehen musste, damit er pünktlich zurück war. Das klappte ganz gut. Allerdings war Luca im Moment ein bisschen böse auf seinen Opa, wegen des Bauernhofs. Der Opa wiederum war auch recht ärgerlich, weil er den Kakao verschüttet hatte und weil er nicht aufgegessen hatte und überhaupt. Möglicherweise erlaubte er ihm gar nicht, mit dem Roller wegzufahren. Das war dumm, denn der Roller stand im Schuppen, und der war zugeschlossen. Luca bohrte die nackten Füße in den Sand. Nein, das mit dem Roller wurde wohl nichts. Aber er konnte ein bisschen in den Wald. Dort gab es einen Bach mit ganz klarem Wasser. Bis dorthin war es nicht weit. Er kannte den Weg sehr gut, er war schon einige Male mit seinem Opa dort gewesen. Der Bach war nicht breit und das Wasser auch nicht tief. Nur so tief, dass, wenn er mit der Hand Steine rausholen wollte, es über sein Handgelenk sprudelte. Er fasste auch immer nur ganz kurz rein, das Wasser war nämlich sehr kalt. Er konnte einen Staudamm bauen. Der Opa hatte ihm vor einiger Zeit gezeigt, wie das ging. Aber eigentlich durfte er auch nicht alleine in den Wald. Luca sah wieder zum Wohnzimmerfenster. Bestimmt las der Opa noch immer in seiner Zeitung, das machte er oft und ganz lange. Er schüttelte sich den Sand von den Füßen und zog seine Sandalen wieder an. Er würde nur ein bisschen in den Wald gehen und auch nicht lange. Er drückte den Rücken durch und stakste zur Gartenpforte. Ihm war ein bisschen kribbelig im Bauch. Vor Aufregung, weil er was Tolles vorhatte, vor Stolz, weil er so mutig war, sich alleine auf den Weg zu machen, aber auch vor Sorge, der Opa würde etwas merken. Bemerkte er jetzt, dass er wegwollte, würde er ihn nicht lassen. Merkte er hinterher, dass er weg gewesen war, gab es ganz sicher Ärger. Umzudrehen traute er sich jetzt nicht mehr. Er musste sich beeilen.

*

Der Waldweg war schmal und die Sonne schien durch die Bäume. Er musste ein Stückchen geradeaus gehen, bis zu der Bank aus Holz, in deren Rückenlehne jemand ein Herz geschnitzt hatte. Bei der Bank ging es dann nach links, da war kein Weg mehr, aber ein großer Stein, ganz mit Moos bewachsen. Und kurz nach dem Moosstein hörte man dann schon den Bach plätschern.

Luca hopste den Weg entlang, nicht, weil er jetzt gute Laune hatte, sondern um sich zu versichern, dass sein Vorhaben ganz prima war. Eigentlich war ihm ein bisschen gruselig, so ganz alleine im Wald. Die Bäume waren so hoch, und an manchen Stellen gab es dichte Büsche. Ob sich in denen Monster versteckten? Oder böse Menschen, die kleine Kinder fraßen? Davon hatte die Lisa mal erzählt. Ein Mann mit einem Gehstock kam ihm entgegen und sah ihn ganz komisch an. Luca lief schnell an ihm vorbei. Endlich sah er die Bank und ihm wurde leichter. Jetzt nach links. Links und rechts konnte er sehr gut unterscheiden, weil links die Hand war, mit der er malte. Die meisten anderen Kinder malten mit der rechten Hand. Er konnte es mit der Linken besser. Der große Moosstein tauchte auf, und kurz dahinter entdeckte er schon den Bach. Lucas Herz machte einen freudigen Hüpfer. Es sah so schön aus, wie die Sonne auf dem Wasser glitzerte. An manchen Stellen sprang es förmlich über die Steine und spritzte ein bisschen in die Höhe. Er vergaß, dass er gerade noch Angst gehabt hatte, und eilte zu dem Bach. Als Erstes hielt er eine Hand ins Wasser. Es war wirklich ganz doll kalt, aber das machte nichts. Luca kniete sich auf den Waldboden. Eifrig holte er Steine aus dem Wasser und reihte sie an einer besonders schmalen Stelle des Bachlaufs auf. In die winzigen Lücken zwischen den Steinen steckte er kleine Äste, um jeden Durchlass zu verschließen. Wenn ihm gelang, was er vorhatte, würde sich hinter dem Damm ein kleiner See bilden. Auf dem konnte er dann Blätter schwimmen lassen. Das waren Boote. Hochkonzentriert arbeitete er vor sich hin. Leider wollte sich das Wasser nicht stauen, sondern sprang hartnäckig über die Steine. Das mochte auch daran liegen, dass ihm immer wieder Steine wegrutschten. Aufgeben wollte er dennoch nicht. Vielleicht brauchte er größere Steine. Luca sah sich um. Auf der anderen Seite des Baches gab es ein paar, die ihm geeignet schienen. Rasch zog er seine Sandalen aus und tauchte den ersten Fuß ins Wasser. Brr. Am Fuß war es noch viel kälter als an der Hand. Das Auftreten tat auch ein bisschen weh, wegen der vielen Steine unter seiner Fußsohle. Manche waren ganz pieksig. Luca biss die Zähne zusammen. Er musste nur ein paar Schritte schaffen, dann war er auf der anderen Seite. Behutsam setzte er den zweiten Fuß auf. Etwas glitschte über seine Zehen. Er zuckte zusammen, rutschte weg und fiel hin. Sein Knöchel schlug gegen einen der Steine, und das tat richtig weh. Luca unterdrückte ein Schluchzen. Er krabbelte aus dem Wasser und setzte sich an den Rand. Sein Knöchel war rot und blutete ein bisschen. Seine kurze Hose und sein T-Shirt waren an einer Körperhälfte nass, und er hatte nun gar keine Lust mehr, den doofen Damm zu bauen. Er würde jetzt seine Schuhe wieder anziehen und nach Hause gehen. Wie er dem Opa den wehen Knöchel und die nassen Sachen erklären sollte, wusste er nicht. Aber er wusste, das würde richtig Ärger geben. Luca schluchzte auf.

*

Laura Sterling blieb auf dem Waldweg stehen, die Hundeleine in der Hand, und wartete geduldig, bis ihre Mischlingshündin Polly damit fertig war, etliche hochgewachsene Gräser am Wegrand zu beschnuppern. Sie hatte keine Eile. Es war Samstag und vor ihr lag das Wochenende. Der Morgen war herrlich, die Sonne schien durch die Bäume und zauberte Lichtreflexe auf den Weg. Es waren noch nicht viele Spaziergänger unterwegs, lediglich ein Jogger war ihr vor wenigen Minuten entgegengekommen. Um sie herum zwitscherten die Vögel, und in einiger Entfernung glaubte sie, den Lohebach plätschern zu hören. Zu ihm wollte sie, um Polly ein wenig im Wasser plantschen zu lassen. Das liebte die Hündin. Polly streckte sich lang, erledigte was sein musste, und sah dabei ihre Besitzerin an.

„Braves Mädchen“, lobte Laura das Tier. Polly schüttelte sich, kam zu ihr und stupste sie am Bein. Laura streichelte ihr über den Rücken. Ein paar Tage noch, so schätzte sie, dann war es soweit und Polly bekam Junge. Geplant war das nicht gewesen, und doch war sie selbst schuld. Während eines Spaziergangs hatte sie die Nachbarin, Frau Hubschmied, getroffen und sich mit ihr über dieses und jenes unterhalten. Dass Frau Hubschmieds Cockerspanielrüde in der Zeit gut mit Polly beschäftigt gewesen war, hatten sie beide erst bemerkt, als es zu spät war. Nun war Polly trächtig. Nach dem ersten Schrecken freute sich Laura nun auf die Kleinen, auch wenn klar war, dass sie für jedes von ihnen ein liebevolles Zuhause suchen musste. Laura richtete sich auf.

„Komm Polly, wir gehen zum Bach. Da kannst du trinken und mit den Pfoten ins Wasser“, sagte sie und stutzte. Was war das? Eben hatte sie gemeint, ein Kind weinen zu hören. Sie lauschte, doch jetzt waren nur noch die Geräusche des Waldes zu vernehmen. Laura setzte ihren Weg fort. Polly blieb stehen und spitzte die Ohren. „Was ist?“, fragte Laura. „Stimmt was nicht?“

Die Hündin setzte sich in Bewegung, ein wenig schwerfällig ob ihrer Leibesfülle, und zog dennoch voran.

„Nicht so schnell, ich komm ja schon“, sagte Laura, auch wenn von ‚schnell‘ nicht wirklich die Rede sein konnte. Zielstrebig wandte sich Polly zu dem Pfad, abseits des Hauptweges, der zum Lohebach führte.

„Ja, ich weiß, du möchtest ans Wasser“, sprach Laura weiter mit ihrem Hund. „Wir sind ja auch gleich da. Aber loslassen kann ich dich nicht. Hier gibt es Rehe und Hasen. Wer weiß, was dir einfällt, wenn du denen begegnest.“ Sie brach ab und sah hinter sich. Hoffentlich hatte sie niemand gehört. Manch einer hielt Tierbesitzer, die sich etwas ausführlicher mit ihren Lieblingen unterhielten, für nicht ganz normal. Zudem war noch die Frage, was Polly von ihrem Vortrag verstand. Wahrscheinlich nur, dass sie nicht von der Leine durfte. Hinter ihnen war niemand, und Polly zerrte nachdrücklich vorwärts.

Laura sah den kleinen Jungen schluchzend am Rand des Baches kauern, da war sie noch ein gutes Stück entfernt. Die Bäume standen hier recht weit auseinander. Es war niemand in der Nähe des Kindes. War der Kleine etwa alleine im Wald?

Rasch näherte sie sich ihm. Polly hörte erst auf, an der Leine zu ziehen, als sie den Jungen erreicht hatten. Hechelnd hockte sie sich hin und überließ es Laura, sich nun zu kümmern.

„Hallo, kleiner Mann, wer bist du denn? Warum weinst du?“, sprach Laura das Kind an. Der Junge hob den Kopf. Sein kleines Gesicht war tränenverschmiert. Laura bemerkte seinen geröteten Knöchel, die Haut war ein wenig aufgeschürft, und beim genauen Hinsehen erkannte sie auch eine leichte Schwellung.

„Ach, ich seh schon. Du hast dir wehgetan. Wo sind denn deine Eltern? Oder mit wem bist du hier?“, fuhr sie fort.

„Ich bin weggerutscht im Wasser“, sagte der Kleine. Seine Stimme klang kläglich.

„Tut es sehr weh?“, fragte Laura. Sie fühlte sich unsicher und unbeholfen. Mit Kindern hatte sie keine Erfahrung.

„Ja. Der Opa sucht mich bestimmt schon“, jammerte er.

„Bist du mit deinem Opa hier? Wo ist er denn?“, fuhr sie fort.

„Der Opa ist zu Hause“, antwortete der Kleine und sah jetzt zu Boden. „Mit wem bist du denn hier?“, forschte Laura. Das Kind gab keine Antwort. So kam sie nicht weiter.

„Wie heißt du?“, fragte sie und bekam unvermittelt das Gefühl, dem Kind gegenüber in der Pflicht zu sein. Wenn er alleine hier war, musste sie sich seiner annehmen. Sie konnte ihn ja schlecht hier sitzen lassen.

„Luca“, murmelte der Kleine. „Luca, okay. Ich bin Laura. Kannst du aufstehen?“

„Nö.“ Er schlang die Arme um die Knie.

„Hör zu, Luca. Du kannst hier nicht sitzen bleiben. Deine Eltern suchen dich bestimmt schon. Ich kann sie anrufen, damit sie dich abholen, und solange bleibe ich bei dir. Du musst mir aber noch deinen Nachnamen sagen.“

Hoffentlich wusste er seinen Nachnamen. Er war noch so klein. Sie schätzte ihn auf etwa fünf Jahre. Vermutlich war er ausgebüxt.

„Meister“, murmelte er. „Die Telefonnummer von deinen Eltern weißt du nicht zufällig?“, fuhr sie fort, holte ihr Mobiltelefon aus der Tasche und dachte gleichzeitig, dass sie sich diese Frage eigentlich sparen konnte. Die Wahrscheinlichkeit ging gegen null.

„Ich wohn beim Opa“, antwortete Luca.

„Okay“, antwortete Laura. Wenn der Junge von zu Hause weggelaufen war, mochte er nicht weit weg wohnen. Die nächste Ortschaft war Waldlohe und lag nur wenige Minuten von hier entfernt. Sie gab unter der Suchfunktion des Telefonverzeichnisses den Namen ein, den Luca genannt hatte, und die Ortschaft ‚Waldlohe‘. Sekunden später stellte sie fest, dass sie im Wald keinen Internetempfang hatte. Verdrossen steckte sie ihr Handy wieder ein.

„Sag, Luca, weißt du den Weg nach Hause?“ Es sah ganz so aus, als müsste sie den Jungen tragen. Er war klein und zart, doch über eine längere Strecke mochte es beschwerlich werden. Bis zu ihrem Auto war der Weg zu weit. Sie war mit Polly schon eine halbe Stunde unterwegs gewesen, ehe sie Luca entdeckt hatte. „Ja, aber ich kann doch nicht laufen“, erklärte der Kleine. „Ich weiß schon. Aber hier sitzen bleiben kannst du auch nicht. Außerdem wartet doch dein Opa auf dich“, erinnerte sie ihn. Luca hob den Kopf. Er hatte dunkelblaue Augen, in denen plötzlich ein bisschen Hoffnung schimmerte.

„Der Opa hat eine Schubkarre. In der darf ich manchmal sitzen. Kannst du die holen und mich nach Hause schieben?“

Unerwartet bekam Laura einen Lachreiz. Sie ging in die Knie, um halbwegs auf Augenhöhe mit dem Kind zu sein, und betrachtete den Jungen. Polly schnaufte, als hätte sie das Gespräch verfolgt, und legte sich auf den Waldboden.

„Ist das dein Hund?“, fragte Luca weiter.

„Ja, das ist Polly.“

„Sie frisst zu viel. Sie ist ganz dick“, stellte Luca fest. „Wie die Ronja aus dem Kindergarten. Die …“ Erschrocken schlug er die Hand vor den Mund und sah Laura ängstlich an. Wieder unterdrückte sie ein Lachen, beschloss jedoch, auf einen erzieherischen Hinweis zu verzichten.

„Nein, sie bekommt bald Babys“, erklärte sie stattdessen.

„Echt? Richtige kleine Hundebabys?“ Staunend sah der Junge Polly an.

„Ganz echt. Aber was mache ich jetzt mit dir? Telefonieren kann ich nicht, weil mein Handy im Wald keinen Empfang hat. Also, ich meine, es funktioniert hier nicht. Und du kannst nicht laufen. Ich schaffe es wahrscheinlich nicht, dich nach Hause zu tragen. Was meinst du, kannst du ein bisschen laufen, wenn du dich auf mich stützt?“, fragte sie.

„Kannst du denn nicht die Schubkarre holen?“, bat Luca.

„Nein. Dazu müsste ich dich alleine lassen. Versuch doch bitte aufzustehen. Vielleicht geht es ja.“

„Na gut“, brummelte der Kleine. Laura hielt ihm die Hand hin und erhob sich.

„Komm, ich helfe dir.“

Schwer hängte sich das Kind an ihre Hand. Auch Polly rappelte sich wieder auf, schüttelte sich und sah Laura erwartungsvoll an. Vorsichtig setzte Luca den wehen Fuß auf. Er verzog das Gesicht.

„Tut schon noch weh“, verkündete er, ohne Lauras Hand loszulassen.

„Das glaube ich dir. Bestimmt kann dir dein Opa nachher einen Verband machen.“ Sie spürte, wie das Kind bei der Erwähnung des Großvaters ihre Hand fester umklammerte, und fragte sich unvermittelt, warum der Junge weggelaufen war. Rasch sah sie ihn genauer an. Doch er sah ordentlich aus, und auf den ersten Blick konnte sie auch keine Spuren erkennen, die auf häusliche Gewalt schließen ließen. Nein, wahrscheinlich hatte ihn Abenteuerlust zum Bach getrieben, und nun fürchtete er Konsequenzen.

„Komm, wir versuchen es mit Laufen. Zeigst du mir den Weg?“, fragte sie.

Luca nickte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und humpelte dabei ein wenig. Sie kamen voran, wenn auch langsam. Bald schon waren sie am Waldrand. Von hier aus konnte Laura schon die ersten Häuser von Waldlohe sehen. Luca blieb stehen und zeigte zu den Anwesen.

„Da wohn ich“, verkündete er.

„Wo genau?“, fragte Laura. „Da, wo die Schaukel am Kirschbaum hängt“, erklärte Luca. Laura kniff die Augen zusammen und erspähte, was der Kleine gesagt hatte.

„Das ist ja nicht mehr weit“, sagte sie, froh, bald ihre Mission beenden zu können. „Gehen wir?“

Luca rührte sich nicht vom Fleck. Laura musterte das kleine Gesicht.

„Sag mal, Luca, kann es sein, dass du von zu Hause weggelaufen bist?“, sprach sie aus, was ihr schon die ganze Zeit durch den Kopf ging.

„Ich wollte nur den Staudamm bauen“, protestierte der Junge und bekam rote Bäckchen.