Sophienlust - Die nächste Generation 57 – Familienroman - Simone Aigner - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 57 – Familienroman E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

Irene lebt seit ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stuttgarter Wohnung. Mit ihrem Spielzeuggeschäft versucht sie ihre Familie über Wasser zu halten. Dann geschieht es: Irene wird von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Ein fremder Mann ist sofort zur Stelle, der sich als Dr. Klaus Meier vorstellt und ihr seine Hilfe anbietet. Er sorgt auch dafür, dass Luina und Lukas in Sophienlust untergebracht werden, solange Irene im Krankenhaus liegt. Warum aber fühlt sich Klaus eigentlich so stark verpflichtet? Paul schob die nackten Füße über die Bettkante und zog vorsichtig seine Pantoffeln an. Durch sein Zimmerfenster schien die Morgensonne. Auf dem Fensterbrett stand eine große rote Uhr und an einigen Stellen auf dem Zifferblatt klebten Bilder. Zwischen der sieben und der acht, genau in der Mitte, klebte ein Brötchen-Bild. Das hieß, dass es um die Zeit Frühstück gab, wenn der kleine Zeiger darauf deutete. Leider war er schon ein ganzes Stück über die Acht gerutscht. Tante Lisa würde wieder schimpfen, weil er zu spät kam. Leise öffnete er die Tür seines Zimmers und lugte in den Flur. Schräg gegenüber war das Wohnzimmer. Tante Lisa saß am Esstisch, hielt den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, was sie oft machte und was immer ziemlich komisch aussah, und lackierte sich die Fingernägel. An seinem Platz am Tisch stand ein Becher Kakao, und auf einem Teller daneben lag ein Butterhörnchen. Er hatte Hunger, aber er musste sich erst anziehen. Nur wurde es dann noch später, und wenn der große Zeiger an der Uhr ganz oben stand und der kleine auf der Neun, räumte Tante Lisa das Frühstück weg. Paul runzelte die Stirn und beobachtete die Zeiger. Die Zahlen von eins bis zehn konnte er schon lesen, aber hatte er noch Schwierigkeiten einzuschätzen, wie lange es dauerte, bis sich die Zeiger von einer Zahl zur anderen bewegten. Vielleicht war das Frühstück schon weg, bis er sich angezogen hatte? Außerdem mochte es Tante Lisa nicht, wenn sie telefonierte und er kam ins Zimmer. Noch während er überlegte, was er tun sollte, beendete die Tante ihr Gespräch, legte den Hörer auf den Tisch und lackierte sorgfältig ihre Nägel fertig. Der Lack in dem kleinen Glasfläschchen war dunkelrot. Die Farbe mochte er gar nicht.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 57 –

Paul findet ein Zuhause

Sein großer Traum wird wie durch ein Wunder wahr …

Simone Aigner

Paul schob die nackten Füße über die Bettkante und zog vorsichtig seine Pantoffeln an. Durch sein Zimmerfenster schien die Morgensonne. Auf dem Fensterbrett stand eine große rote Uhr und an einigen Stellen auf dem Zifferblatt klebten Bilder. Zwischen der sieben und der acht, genau in der Mitte, klebte ein Brötchen-Bild. Das hieß, dass es um die Zeit Frühstück gab, wenn der kleine Zeiger darauf deutete. Leider war er schon ein ganzes Stück über die Acht gerutscht. Tante Lisa würde wieder schimpfen, weil er zu spät kam.

Leise öffnete er die Tür seines Zimmers und lugte in den Flur. Schräg gegenüber war das Wohnzimmer. Tante Lisa saß am Esstisch, hielt den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, was sie oft machte und was immer ziemlich komisch aussah, und lackierte sich die Fingernägel.

An seinem Platz am Tisch stand ein Becher Kakao, und auf einem Teller daneben lag ein Butterhörnchen. Er hatte Hunger, aber er musste sich erst anziehen. Nur wurde es dann noch später, und wenn der große Zeiger an der Uhr ganz oben stand und der kleine auf der Neun, räumte Tante Lisa das Frühstück weg. Paul runzelte die Stirn und beobachtete die Zeiger. Die Zahlen von eins bis zehn konnte er schon lesen, aber hatte er noch Schwierigkeiten einzuschätzen, wie lange es dauerte, bis sich die Zeiger von einer Zahl zur anderen bewegten. Vielleicht war das Frühstück schon weg, bis er sich angezogen hatte? Außerdem mochte es Tante Lisa nicht, wenn sie telefonierte und er kam ins Zimmer. Noch während er überlegte, was er tun sollte, beendete die Tante ihr Gespräch, legte den Hörer auf den Tisch und lackierte sorgfältig ihre Nägel fertig. Der Lack in dem kleinen Glasfläschchen war dunkelrot. Die Farbe mochte er gar nicht. Helles Rot war viel schöner. Tante Lisa schraubte die Flasche zu, wedelte mit der Hand und pustete auf ihre Nägel. Das machte sie immer, damit die Farbe schneller trocken wurde. In seiner Nase fing es an zu kribbeln und plötzlich musste er niesen. Sie wandte sich ihm zu.

»Ach, der kleine Langschläfer. Auch schon wach? Wie sagt man, Paul?«

»Guten Morgen, Tante Lisa«, sagte er artig.

»Guten Morgen. Du bekommst doch hoffentlich keinen Schnupfen?« Prüfend betrachtete sie ihn.

»Nö«, antwortete er und schniefte. Allmählich bekam er kalte Füße.

»Jetzt geh schon ins Bad«, wies sie ihn an. »Dein Kakao ist inzwischen kalt.«

Er nickte und tappte über den Flur.

Wenige Minuten später betrat er das Wohnzimmer. Tante Lisa blätterte jetzt in einer Zeitschrift und beachtete ihn nicht. Er kletterte auf seinen Stuhl und trank von seinem Kakao. Kalt war er nicht, aber auch nicht mehr richtig warm. »Ich bekomme nachher Besuch«, ließ ihn seine Tante wissen, ohne von ihrer Zeitschrift aufzusehen. »Du gehst in der Zwischenzeit spielen, hörst du?«

Er nickte. Antworten konnte er nicht, er hatte einen großen Bissen von seinem Hörnchen im Mund, und mit vollem Mund durfte man nicht sprechen. Das sagte auch die Monika vom Kindergarten. Die war viel netter als Tante Lisa und streichelte ihm sogar manchmal über den Kopf.

»Ob du gehört hast?«, wiederholte die Tante und sah von ihrer Zeitschrift auf. Wieder nickte er. »Du darfst keinen Unsinn machen und bist pünktlich zum Mittagessen wieder hier. Ich gebe dir die Uhr mit.«

Wieder nickte er. ›Die Uhr‹ war eine alte Armbanduhr von Tante Lisa. Weil das Armband kaputt war, hatte sie eine Kette an dem Steg durchgefädelt, und diese Kette befestigte sie an der Gürtelschnalle seiner Hose. So hatte er eine Art Taschenuhr. Das fand er eigentlich ganz prima. Mittagessen gab es, wenn beide Zeiger so übereinanderstanden, dass man den kleinen gar nicht sah.

*

Judith Wegner beobachtete das Treiben auf dem Marktplatz. Es war jetzt kurz nach neun Uhr und es herrschte viel Betrieb, wie meist am Samstagmorgen. Die Sonne schien und tauchte die Stände und Waren der Beschicker in goldenes Herbstlicht. Am Stand gegenüber bot Frau Hubauer Kürbisse an, in etlichen Sorten. Leuchtend oranger Hokkaido lag neben zartgelbem Butternut, dunkelgrüner Muskatkürbis gesellte sich zu grünen, weißen und gelben Patisson-Kürbissen, die scherzhaft aufgrund ihrer Form auch UFO-Kürbisse genannt wurden. Ebenso bot Frau Hubauer Stauden mit Herbstastern in allen Farben an. Die Blüten leuchteten in der Sonne. Die letzten Septembertage gaben noch einmal alles, und es hatte bereits um diese Uhrzeit über zwanzig Grad. Neben Frau Hubauer verkaufte der Bäcker Torsten Rörich Mohnschnecken, dick mit Zuckerguss überzogen, Pfannkuchen mit reichlich Puderzucker, Linzerschnitten, gefüllt mit leuchtend roter Marmelade und vieles mehr. Besonders angetan hatten es Judith die Nugathörnchen. Von denen gab es aber nur noch drei Stück, es sei denn, Torsten hatte noch, welche auf Vorrat in den großen Plastikkisten, die sich hinter ihm stapelten. Der Duft der Leckereien zog direkt zu ihr herüber. Sowie Onkel Theo von seinem Gang in die Apotheke, die eine Straße entfernt war, zurückkam, würde sie sich ein Stück Gebäck von Torsten holen und einen Kaffee dazu. Frischen Kaffee gab es in der Markthalle, die an den freien Platz angrenzte. Judith saß unter dem großen Marktschirm, auf dem Tisch vor ihr lagen Tomaten, Zucchini, Gurken, Kartoffeln, Äpfel und vieles mehr an Obst und Gemüse. Hinter ihr parkte der Transporter ihres Onkels Theo, die Schiebetür des Laderaumes stand offen. Judith beschloss, noch die Kiste mit der roten Beete dazu zu stellen. Sie stand auf, holte die Ware und überlegte, einen Korb mit Äpfeln vor den Verkaufstisch zu platzieren, neben die Kartoffelsäcke. Dann war auf dem Tisch Platz für die rote Beete. Der Korb war schwer, doch sie hob ihn entschlossen hoch.

»Judith! Warum wartest du denn nicht auf mich?« Mit großen Schritten eilte Onkel Theo über den Platz und nahm ihr den Apfelkorb ab, den sie nur noch hätte zu Boden stellen müssen. Trotz seines engagierten Voranschreitens war ihr aufgefallen, dass er sein rechtes Bein wieder ein wenig nachzog. »Wohin damit?«, erkundigte er sich. Judith lächelte und zeigte nach unten.

»Dahin Onkel Theo. Ich wollte die rote Beete gleich mit anbieten.«

Ihr Onkel schmunzelte und stellte den Korb ab.

»Da war ich wieder ein wenig voreilig. Ich möchte aber nicht, dass du dich unnötig anstrengst. Ich bin doch sehr froh, dass du mir aushilfst, solange, bis ich wieder jemanden gefunden habe.«

»Ich mache das wirklich gern, Onkel Theo«, versicherte Judith. Bis vor drei Wochen hatte ihr Onkel, der ein Obst- und Gemüsegeschäft besaß, eine regelmäßige Hilfe an den Markttagen gehabt, einen jungen Mann, der nach seinem BWL-Studium eine Auszeit hatte nehmen wollen. Dann hatte er überraschend die Möglichkeit bekommen, bei einem großen Automobilhersteller in der Verwaltung zu arbeiten. Das Angebot hatte ihm gefallen und er hatte zugesagt. So war dem Onkel die Aushilfe abhandengekommen. Bislang hatte er noch keinen Ersatz gefunden, und so hatte Judith sich angeboten. Für sie war der Verkauf von Obst- und Gemüse eine willkommene Abwechslung zu ihrer Schreibtisch-Arbeit in der Vertragsverwaltung einer Versicherung. Sie genoss es, an der frischen Luft zu sein, selbst wenn das Wetter natürlich nicht immer so wunderbar war wie an diesem Morgen. Sie mochte den Trubel um sich herum und sie genoss es, dass die meisten Marktbesucher entspannt und guter Laune waren, während sie zwischen den Ständen bummelten.

»Hast du die Salbe für dein Knie bekommen?«, fragte sie.

»Natürlich und auch gleich aufgetragen. Ich fühle mich topfit«, versicherte Onkel Theo. »Schön«, erwiderte Judith und lächelte. Sie tat ihm den Gefallen, nicht zu erwähnen, dass ihr durchaus aufgefallen war, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach, sonst hätte er wohl sein Bein nicht nachgezogen.

»Ich würde noch rasch in die Halle gehen und Ludwig begrüßen, wenn es in Ordnung für dich ist?«, fragte Onkel Theo und zeigte zu der breiten zweiflügeligen Holztür der Markthalle.

»Lass dir ruhig Zeit«, versicherte Judith, auch wenn ihr das Wasser im Mund zusammenlief, beim Anblick von Torsten Rörichs duftenden Backwaren.

»Bis dann«, verabschiedete sich ihr Onkel. Eine ältere Frau näherte sich Judiths Stand. Sie kaufte drei Äpfel, zwei Zucchini und einen Topf Basilikum. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern erstand ein Kilo Tomaten, ein paar Zwiebeln und eine Knolle Knoblauch und erläuterte dabei ihrem Nachwuchs, dass sie aus den Zutaten Soße zu Nudeln kochen wollte. Judith sah zu Bäcker Torsten. Nur noch ein Nugathörnchen befand sich in der Auslage. Nun ja. Er hatte ja viele leckere Ware. Sie konnte ihm auch etwas anderes abkaufen. Ein Mann mittleren Alters erstand zwei Bund Bananen. Sie legte das Geld in die Kasse und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Für den Augenblick hatte sie keinen Kunden. Am Stand von Torsten, an dem sehr viel Betrieb war, bemerkte sie einen kleinen Jungen zwischen den Marktbesuchern. Judith stutzte. Der Kleine war ihr letzte Woche schon einmal aufgefallen. Er war den halben Vormittag über den Marktplatz gestromert, offenbar alleine. Sie hatte gemeint, zu beobachten, dass er am Stand von Gregor Schmidtlein ein paar Weintrauben stibitzt hatte. Ganz sicher war sie aber nicht gewesen, weil sie selbst eben Kundschaft gehabt hatte. Judith betrachtete den Kleinen. Seine Haare waren ungekämmt, die Hose sah aus, als wäre er ihr bereits entwachsen. Nichtsdestotrotz schlackerte sie um den mageren Körper. Die Schuhe, die er trug, wirkten abgeschabt. In ihren Augen wirkte er vernachlässigt. Der arme Kleine. Ob er zu jenen Kindern gehörte, die den Eltern nicht willkommen waren? Die eben ›passiert‹ waren und nun so nebenher aufwuchsen, ohne besondere Zuwendung zu erfahren, was sich auch im Äußeren auswirkte? Oder war er einfach eines von vielen Kindern in einer Familie, in der das Geld knapp war und die Zeit ebenso und der Nachwuchs dennoch geliebt wurde? Das konnte sie natürlich nicht einschätzen.

Plötzlich streckte der Kleine die Hand aus, schob sie zwischen zwei Kunden hindurch und griff nach dem letzten Nugathörnchen. Er nahm es, zog den Arm wieder zurück und hatte dabei offenbar gar keine Eile. Ein wenig Puderzucker blieb an dem dunklen Hemdärmel des Passanten hängen, der dicht vor der Auslage wartete. Der Junge biss in das Gebäck, und Judith versuchte unter den Kunden an Torstens Stand zu erkennen, ob der Kleine nicht doch mit jemandem hier war, und wenn ja, mit wem. Torsten war damit beschäftigt, Ware einzupacken und zu verkaufen. Weitere Kaufinteressierte kamen zu dem Backstand und drängten, teils wohl aus Gedankenlosigkeit, teils auch in dem Bestreben, vorwärts zu kommen, den Jungen zurück. Das Kind drehte sich um und ging mitsamt dem Gebäck zwischen den Ständen durch. Sein Mund und seine Nase waren voller Puderzucker. »Guten Morgen, Frau Wegner. Die blauen Trauben sehen wunderbar aus. Sind sie denn auch süß?« Die ältere Dame, die Judith angesprochen hatte, gehörte zu Onkel Theos Stammkunden. Judith lächelte ihr zu.

»Guten Morgen, Frau Liebrecht. Das sind sie. Möchten Sie probieren?«

»Ach nein. Wenn Sie das sagen, dann glaube ich Ihnen. Ich nehme 700 Gramm bitte.«

»Sehr gerne.« Judith wog die Ware ab. Der kleine Junge war verschwunden.

*

Es war kurz vor zwölf Uhr. Die ersten Standbetreiber räumten ihre Tische ab, und es waren auch nicht mehr viele Kunden auf dem Markt. Judith überlegte gerade, ob sie auch beginnen sollte, zusammenzupacken, als sie den kleinen Jungen wiedersah, der ›ihr‹ Nugathörnchen gemopst hatte. Gelangweilt drückte sich das Kind zwischen den Tischen herum. Es schien tatsächlich alleine unterwegs zu sein. Oder gehörte der Junge zu einem der Beschicker? Doch Judith kannte die meisten Anbieter, und von denen hatte niemand ein Kind oder Enkelkind in dem Alter.

Statt des ersehnten Nugathörnchens hatte sie sich vorhin eine Zimtschnecke gekauft. Onkel Theo hatte ihr aus der Halle einen Kaffee mitgebracht, und von Ludwig, der Obst- und Gemüsebauer war und mit dem er seit Langem befreundet war, ein kleines Glas selbst hergestellten Sahne-Meerrettich. Im Moment stand ihr Onkel bei Frau Hubauer. Wahrscheinlich tauschten sie Rezepte aus. Daran hatten beide Freude, er würde also nicht so rasch zurückkommen. Judith entschied sich, mit dem Zusammenpacken zu beginnen, und stellte die ersten Kisten zurück in den Transporter. Gerade, als sie sich umwandte, um nach der nächsten Kiste zu greifen, sah die den kleinen Jungen, der eben den Arm ausstreckte, als wollte er nach einer Banane greifen. Er zuckte in der Bewegung zurück und schob die Hände hinter den Rücken.

»Hallo«, sagte Judith und lächelte ihn an. Er gab keine Antwort, sah sie aber aus großen dunkelbraunen Augen an. »Kann ich dir helfen?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf, rührte sich nicht von der Stelle und hielt die Arme weiter hinter dem Rücken.

»Wie heißt du denn?«, fragte Judith und setzte sich wieder auf ihren Stuhl.

»Paul«, antwortete der Kleine mit leiser Stimme.

»Ich bin Judith. Magst du eine Banane?« Er nickte. Sie brach eine von der letzten Staude, die sie zum Verkauf hatte, und reichte sie ihm. »Danke«, murmelte er und griff danach, machte aber keine Anstalten, sie zu essen. »Du bist öfter hier«, sagte Judith zu ihm. Wieder nickte der Junge.

»Gehörst du zu jemandem, der hier verkauft?«

Er schüttelte den Kopf. Sehr gesprächig war er nicht. Auf seinem weißen T-Shirt war der verwaschene Aufdruck einer Batman-Figur. »Mit wem bist du denn hier?«, fragte sie weiter.

»Ich bin alleine da«, erklärte er.

»Den ganzen Vormittag schon? Und letzte Woche auch?« Besorgt musterte sie ihn und bekam ein beklemmendes Gefühl. Kümmerte sich etwa keiner um den Jungen? Er ging vermutlich noch nicht einmal zur Schule.

»Ich geh manchmal hierher, wenn Tante Lisa sagt, ich soll spielen gehen«, erklärte er.

»Sagt sie oft, dass du spielen gehen sollst?«, erkundigte sich Judith.

»Manchmal«, gab er Auskunft. Nachdenklich betrachtete sie den Kleinen. War er seiner Tante im Weg? Betreute sie ihn, während die Eltern arbeiteten?

»Wo wohnst du denn?«, fuhr sie fort.

»Dort«, sagte er und zeigte in unbestimmter Richtung die Straße entlang, die neben dem Marktplatz verlief.

»Und wann musst du zu Hause sein?« Sie fragte zu viel. Oder nicht? Sie wollte nicht zu den Menschen gehören, denen es egal war, was mit anderen um sie herum geschah. Die wegsahen, wenn es jemandem nicht gut ging. Die sich verschlossen, wenn jemand Hilfe brauchte, unglücklich war, sich nach jemandem sehnte, der ein wenig Aufmerksamkeit gab. Der Junge sah aus, als könnte er durchaus jemanden brauchen, der ihn wahrnahm, so mager wie er war. Lieber Himmel. Er bekam doch hoffentlich genug zu essen? Wahrscheinlich nicht. Er hatte das Nugathörnchen stibitzt, und die Banane hatte er auch mopsen wollen.

»Ich hab eine Uhr«, sagte der Kleine und klang jetzt fast ein bisschen stolz. »Guck.« Er zog etwas aus seiner Hosentasche. Judith sah das Gehäuse einer Armbanduhr. Durch einen der Stege, die für das Armband gedacht waren, war eine dünne silberne Halskette gezogen, die wiederum an der Gürtelschlaufe der Hose des Kindes befestigt war.

»Toll«, bewunderte sie seinen Besitz. »Und die Uhr kannst du schon lesen? Gehst du denn schon in die Schule?«, fragte sie weiter.

»Nö. Ich geh noch nicht in die Schule. Aber wenn die beiden Zeiger so stehen, dass man nur einen sieht, dann muss ich daheim sein«, erklärte er. Aha. Er hätte also um zwölf Uhr zu Hause sein müssen. Nun war es gleich halb eins.

»Zeig mal bitte«, bat Judith. Er reckte ihr die Uhr entgegen, so gut es ging, ohne dass er sich von der Stelle rührte. Sie zeigte kurz nach halb zehn. Der Sekundenzeiger stand still.

»Die Uhr ist stehen geblieben, Paul«, sagte sie. »Du müsstest schon eine Weile daheim sein.«

Erschrocken sah er sie an. »Stehengeblieben? Du meinst, sie ist kaputt?« Ängstlich betrachtete er das Ziffernblatt.

»Ja. Entweder sie ist kaputt, oder die Batterie ist leer.«

»Dann muss ich jetzt ganz schnell heim. Tante Lisa ist sonst ganz doll böse auf mich.« Er stopfte die Uhr in die Hosentasche, drehte sich um, rannte los, stolperte und fiel hin. Erschrocken eilte Judith um den Verkaufstisch und half dem Kleinen hoch. Er verzog das Gesicht, als wollte er weinen, gab jedoch keinen Laut von sich. Die Schale der Banane, die er noch immer umklammert hielt, war an einer Stelle aufgeplatzt und der Inhalt quoll heraus.

»Hast du dir wehgetan?«, fragte sie bestürzt. Er nickte. Seine linke Hand zeigte leichte Schürfspuren, an der rechten Hand klebten Spuren der Banane.

»Du musst dir die Hände waschen. Innen, in der Markthalle, gibt es Toiletten. Die Banane werfen wir weg, ich schenke dir eine neue.«

»Ich muss zu Tante Lisa«, wehrte er sich.

»Okay, okay. Moment, ich gebe dir noch eine Banane. Nein, ich gebe dir das ganze Bund, ja?« Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um, um das Obst vom Tisch zu nehmen. Aus den Augenwinkeln sah sie ihren Onkel kommen. »Ich ersetze dir die Bananen, Onkel Theo«, erklärte sie, noch ehe er etwas sagen konnte, und wandte sich zurück zu dem Jungen. Doch der Kleine hatte schon Fersengeld gegeben. Gerade noch konnte sie sehen, dass er über den Marktplatz lief.

»Paul!«, rief sie, doch er hörte nicht, sondern eilte weiter.

»Ich bin gleich zurück, Onkel Theo«, sagte sie eilig. »Ich erklär dir das später.« Mit schnellen Schritten lief Judith dem Jungen nach.

Er lief die Straße entlang, bog einmal nach rechts ab und blieb vor einem schlichten Mehrfamilienhaus stehen. Im Erdgeschoss gab es einen kleinen Friseursalon mit separatem Eingang. Die Haustür zu den Wohnungen war offensichtlich nicht abgeschlossen. Er drückte sie nach innen auf und verschwand im Gebäude. Judith ging bis zu dem Haus. Es gab sechs Klingelschilder neben der Tür. Auf einem stand ›Lisa Sonnfeld‹.

*

»Ich mache mir wirklich Gedanken«, gab Judith zu, nachdem sie ihrem Onkel Bericht erstattet hatte.

»Hm«, machte Onkel Theo und rieb sich die Nase. »Jetzt, wo du es sagst, ich habe den Jungen auch schon ab und an auf dem Markt gesehen. Dass er Ware stibitzt, ist mir allerdings nicht aufgefallen. Ich habe aber, ehrlich gesagt, auch nicht darauf geachtet, ob er alleine unterwegs ist.«

Judith nickte.

»Ich habe tatsächlich überlegt, ob ich bei dieser Frau Sonnfeld klingeln soll«, fuhr sie fort. »Aber dann dachte ich mir, mit welcher Begründung? Von dem Nugathörnchen wollte ich nichts erzählen.«

Onkel Theo begann, den Verkaufstisch zusammenzuklappen.

»Das war sicher besser so. Ich schlage vor, wir halten die nächste Zeit verstärkt die Augen nach dem Kleinen offen. Nun, da ihr euch schon kennt, erzählt er dir vielleicht noch ein bisschen was von sich. Je nachdem, was das ergibt, können wir immer noch überlegen, ob Hilfe nötig ist.«