Sophienlust - Die nächste Generation 59 – Familienroman - Simone Aigner - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 59 – Familienroman E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

Irene lebt seit ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stuttgarter Wohnung. Mit ihrem Spielzeuggeschäft versucht sie ihre Familie über Wasser zu halten. Dann geschieht es: Irene wird von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Ein fremder Mann ist sofort zur Stelle, der sich als Dr. Klaus Meier vorstellt und ihr seine Hilfe anbietet. Er sorgt auch dafür, dass Luina und Lukas in Sophienlust untergebracht werden, solange Irene im Krankenhaus liegt. Warum aber fühlt sich Klaus eigentlich so stark verpflichtet? Jana Ehlert sah in den Rückspiegel. Lotte war eingeschlafen. Ihr Köpfchen mit dem mittelblonden Haar war zur Seite gesunken, der kleine Mund stand ein Stückchen offen, und gerade eben zuckte ein Lächeln über ihr Gesichtchen. Ihr Lottchen träumte. Eine Welle der Zärtlichkeit durchlief Jana. Ihr Kind, ihr kleines Mädchen. Das kostbarste Geschenk, das ihr der Himmel anvertraut hatte. Jana konzentrierte sich wieder auf die Straße. Zu dem Gefühl intensiver Zärtlichkeit gesellte sich Furcht. Sie musste die Kleine schützen. Sie sollte behütet und geborgen aufwachsen, in Liebe und Sicherheit. Dazu brauchte es so viel als möglich Abstand zu Tim, ihrem Ex-Mann, dem Vater von Lotte. Tim akzeptierte nicht, dass sie das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter hatte. Aus guten Gründen war es ihr zugesprochen worden. Ein Grund waren seine unkontrollierten Wutausbrüche aus nichtigen Anlässen, sowohl gegenüber ihr als auch der Kleinen. Mit der Zeit war Lottchen in der Nähe ihres Vaters regelrecht erstarrt und hatte ihn gemieden, so gut es in dem begrenzten Raum einer Dreizimmer-Wohnung möglich war. Ein anderer Grund für das alleinige Sorgerecht war, dass Tim das Mädchen ohne Janas Wissen und Zustimmung nach einem Streit bei Freunden untergebracht hatte. Nahezu hysterisch vor Angst hatte Jana die Polizei eingeschaltet, die Lotte nach zwei Tagen gefunden und zurückgebracht hatte. Es war über ein Jahr her, und mittlerweile waren sie und Tim geschieden. Nun wohnte Jana mit der Kleinen in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand von Gommersbach im Hochparterre.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 59 –

Bitte passt auf Lotte auf!

Eine junge Frau sorgt sich um ihr Kind …

Simone Aigner

Jana Ehlert sah in den Rückspiegel. Lotte war eingeschlafen. Ihr Köpfchen mit dem mittelblonden Haar war zur Seite gesunken, der kleine Mund stand ein Stückchen offen, und gerade eben zuckte ein Lächeln über ihr Gesichtchen. Ihr Lottchen träumte. Eine Welle der Zärtlichkeit durchlief Jana. Ihr Kind, ihr kleines Mädchen. Das kostbarste Geschenk, das ihr der Himmel anvertraut hatte.

Jana konzentrierte sich wieder auf die Straße. Zu dem Gefühl intensiver Zärtlichkeit gesellte sich Furcht. Sie musste die Kleine schützen. Sie sollte behütet und geborgen aufwachsen, in Liebe und Sicherheit. Dazu brauchte es so viel als möglich Abstand zu Tim, ihrem Ex-Mann, dem Vater von Lotte.

Tim akzeptierte nicht, dass sie das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter hatte. Aus guten Gründen war es ihr zugesprochen worden. Ein Grund waren seine unkontrollierten Wutausbrüche aus nichtigen Anlässen, sowohl gegenüber ihr als auch der Kleinen. Mit der Zeit war Lottchen in der Nähe ihres Vaters regelrecht erstarrt und hatte ihn gemieden, so gut es in dem begrenzten Raum einer Dreizimmer-Wohnung möglich war.

Ein anderer Grund für das alleinige Sorgerecht war, dass Tim das Mädchen ohne Janas Wissen und Zustimmung nach einem Streit bei Freunden untergebracht hatte. Nahezu hysterisch vor Angst hatte Jana die Polizei eingeschaltet, die Lotte nach zwei Tagen gefunden und zurückgebracht hatte. Es war über ein Jahr her, und mittlerweile waren sie und Tim geschieden.

Nun wohnte Jana mit der Kleinen in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand von Gommersbach im Hochparterre. Von ihrem Küchenfenster aus konnte sie auf den Spielplatz sehen, der zum Haus gehörte und der nur wenige Schritte von der Eingangstür entfernt lag. Wenn es das Wetter zuließ, arbeitete sie auf dem Balkon. Dann durfte Lotte draußen mit ihren Freunden Amelie und Max spielen, und Jana konnte sie gleichzeitig im Auge behalten. Zudem war stets Amelies 15-jährige Schwester Nadja dabei und achtete auf die Kinder.

Doch nachdem Tim einmal unerwartet auf dem Grundstück und beim Spielplatz aufgetaucht war, gerade, als sie aus der Wohnung noch ein paar Arbeitsunterlagen hatte holen müssen, hatte sie sich nicht mehr getraut, die Kleine nach draußen zu lassen, trotz Nadjas Aufsicht. Was konnte ein Teenager schon gegen einen erwachsenen Mann ausrichten? Zudem hatte Nadja von den Missständen nichts gewusst und bei Tims Erscheinen keinen Argwohn gehegt, bis Lotte schluchzend nach ihrer Mutter gerufen hatte.

Auch vor dem Kindergarten, den Lotte besuchte, hatte Tim sich schon oft herumgedrückt. Bereits bei der Erinnerung daran bekam Jana Herzjagen vor Furcht, er könnte die Kleine eines Tages erneut entführen.

Sie versuchte, die quälenden Gedanken an ihren geschiedenen Mann beiseite zu drängen und sich auf ihr Vorhaben zu konzentrieren.

Vor ein paar Tagen hatte sie den Brief eines Anwalts erhalten. Eine entfernte Verwandte von ihr, Gerda Hilbig, war verstorben. Gerda Hilbig war die Schwester von Janas Großvater gewesen. Sie hatte die alte Dame nur flüchtig gekannt. Da sie die einzige lebende Angehörige war, erbte Jana deren Haus und ein wenig Barvermögen. Das Haus stand in Berkheim, die nächstgrößere Stadt hieß Maibach.

Jana hatte sofort beschlossen, sich das Haus anzusehen. Vielleicht war das die Lösung, Abstand zwischen die Kleine und Tim zu bekommen. Vielleicht konnte sie so schnell es ging dort einziehen. Zwischen Gommersbach und Berkheim lagen knapp 300 Kilometer. Natürlich bestand auch dort die Gefahr, dass Tim auftauchte. Sie war aber um einiges geringer, als wenn sie, so wie jetzt, nur zehn Kilometer voneinander entfernt wohnten. Keinesfalls durfte er von ihren Plänen erfahren.

Der Himmel hing voll grauer Wolken, und nun begann es auch noch zu regnen. Was für ein trüber Tag. Es schien so, als wollte es dieses Jahr einfach nicht Frühling werden, dabei war es schon Ende April. Jana schaltete die Scheibenwischer ein. In gleichmäßigem Takt glitten sie über die Frontscheibe ihres Wagens. Das asphaltierte Band der schmalen Landstraße glänzte schwarz vor Nässe.

Jana sah noch einmal in den Rückspiegel. Lottchen schlief jetzt ganz fest. Drei Stunden waren sie mittlerweile unterwegs, unterbrochen nur von einer kurzen Pause nach etwa der Hälfte der Zeit. Die Kleine hatte anfangs viel geplappert und später gejammert, weil es so lange dauerte. Jetzt, wenige Kilometer vor dem Ziel, hatte sie die Müdigkeit überkommen. Das Navigationsgerät zeigte an, dass sie in fünf Minuten das Ziel erreicht hatten.

*

Kurz vor Berkheim ließ der Regen nach, und auf Höhe des Ortsschildes hörte er ganz auf. Ein Sonnenstrahl drängte durch die düsteren Wolken zeichnete einen farbenprächtigen Regenbogen an den Himmel. Ein Regenbogen war doch ein Hoffnungszeichen, oder? Jana wagte nicht, daran zu glauben. Von den Laubbäumen, die den Straßenrand säumten, troff die Nässe. Die dichten Blätter glänzten vom Regen. Sie fuhr langsamer.

Berkheim war ein kleiner Ort mit ländlichem Charakter. Links und rechts der Straße standen gedrungene Häuser, mit hölzernen Balkonen. An vielen hingen Blumenkästen, bepflanzt mit noch mageren Geranien und Petunien. Die Gärten vor den Anwesen waren sehr gepflegt. Jana sah sorgsam gemähten Rasen, akkurate Blumenrabatten und in etlichen Vorgärten Dekorationen, wie Vogeltränken, kleine Laternen neben den Haustüren und dergleichen mehr.

Einwohner waren kaum zu sehen, doch das war sicher dem Wetter geschuldet. Nur hinter einem Fenster bewegte sich etwas. Jana glaubte zu erkennen, dass jemand Grünpflanzen goss, die auf dem Sims standen.

Das Navi schickte sie an der ersten Kreuzung nach links und versicherte ihr, in 500 Metern hätte sie ihr Ziel erreicht. Die Häuser waren hier in größerem Abstand zueinander gebaut. Jana fuhr nun nur noch Schritttempo, um sich die Gegend anzusehen. Die Gärten waren groß, die Häuser standen weiter entfernt von der Straße als am Ortseingang.

„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, verkündete das Navi. Jana hielt am Straßenrand. Links erstreckten sich Äcker und Wiesen, an der rechten Straßenseite sah sie drei Häuser.

Die Anwesen links und rechts waren ebenso gepflegt wie alle anderen, die sie bisher gesehen hatte. Am mittleren Haus jedoch musste dringend einiges getan werden. Die Farbe der Fassade blätterte an etlichen Stellen ab, ebenso an den Fensterrahmen. Bäume und Sträucher brauchten dringend radikale Rückschnitte, und der Rasen war sicher geraume Zeit nicht gemäht worden. Das Haus wirkte verlassen, und Janas Gefühl sagte ihr, dass hier noch mehr im Argen lag. Wenn es innen so aussah wie außen, gab es viel zu richten.

Noch ehe Jana sich hatte vergewissern können, ob sie tatsächlich vor ihrem Ziel, der Rosenstraße 76 stand, näherte sich von hinten ein dunkles Fahrzeug. Der Wagen zog an ihr vorbei, der Fahrer setzte den Blinker, fuhr auf das letzte Grundstück an der Straße und entschwand ihrem Blick.

An der gemauerten Säule, an der das verwitterte Gartentürchen befestigt war, stand auf der Briefkastenklappe in verwitterten Buchstaben ‚Rosenstraße 76 – G. Hilbig‘. Sie waren tatsächlich hier richtig.

„Lottchen?“, sagte Jana leise, wandte sich nach hinten und streichelte ihrer Kleinen die Beine, die in hellen Wollstrumpfhosen steckten. Das rosa Kleidchen, das sie trug, war schon ein wenig zu knapp, doch es war ihr Lieblingskleid, und sie hatte es unbedingt tragen wollen. Jana beschloss, es ihr zeitnah ein oder zwei Nummern größer zu nähen. Nähen war ihr Hobby, ihr Ausgleich zur Arbeit, und sie hatte schon manches Kleidungsstück selbst gefertigt, sowohl für Lotte als auch für sich.

„Lottchen?“, wisperte sie erneut. Lotte schlief weiter. Es half nichts, sie musste sie wecken. Sie wollte sich das Haus ansehen. Die Kleine im Wagen zu lassen, kam nicht infrage. Sie beschloss, sie aus ihrem Kindersitz zu heben und notfalls während der Besichtigung auf dem Arm zu tragen.

Lotte wachte auf, als sie sie behutsam aus dem Sitz hob.

„Sind wir jetzt da?“, murmelte das Kind und legte seinen Kopf auf ihre Schultern.

„Ja, Lottchen. Jetzt sehen wir uns das Haus an“, erwiderte Jana und drückte ihr Mädchen sacht an sich. Lotte legte die Arme um ihren Hals und klammerte sich an ihr fest. Jana unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte gehofft, die Kleine wollte nun selber laufen, um Neues zu entdecken. Doch noch war sie wohl zu schlaftrunken. Obwohl ihre Tochter ein zierliches Mädchen war, wurde Jana allein bis zur Haustür der Arm schwer.

„Lottchen, ich muss dich runtersetzen, sonst kann ich nicht aufschließen“, erklärte sie der Kleinen. Das Kind gab keine Antwort, ließ sich aber auf die Füße stellen. Jana öffnete die Tür. Sie nahm Lotte an die Hand, und gemeinsam betraten sie das Haus.

Eine halbe Stunde später wusste Jana zwei Dinge: Sie würde mit ihrer Kleinen in das Haus einziehen, und zwar sofort. Aber sie brauchte auch eine Reihe von Handwerkern, die das Nötigste instand setzten. Offenbar hatte Großtante Gerda über lange Jahre nichts mehr richten lassen. Im Hausflur löste sich an etlichen Stellen die Tapete, im Wohnzimmer lag ein abgetretener Teppichboden auf dem Fußboden, der an vielen Stellen schadhaft war und zudem Wellen schlug, als wäre der Teppich einmal feucht geworden. Im Schlafzimmer im oberen Stockwerk des Hauses pfiff der Wind durch die Fensterrahmen, und im Kinderzimmer hatte sich an einer Wand Schimmel gebildet. Lottchen würde fürs Erste bei ihr schlafen. Weiterhin gab es im oberen Stockwerk einen Raum, der entweder als zweites Kinderzimmer oder Gästezimmer hätte dienen können. Er war als eine Art Abstellkammer genutzt worden, in der sich reichlich stapelte, was sich über ein oder zwei Generationen so ansammelte. Eine rustikale Holztruhe, die Jana sehr gut gefiel, die aber restauriert werden musste. Eine Trockenhaube, wie sie in den fünfziger Jahren verwendet worden war. Mehrere Koffer, teils zerschlissen. Zwei Kleiderschränke, gefüllt mit Damen- und Herrengarderobe, das meiste davon Jahrzehnte alt. Jana nahm sich vor, alles in Ruhe durchzusehen, sobald sie die Zeit dafür fand.

Aus der Dusche im Badezimmer kleckerte das Wasser nur. Entweder die Rohre waren verkalkt oder der Duschkopf verstopft. Im Wohnzimmer tropfte rostiges Wasser aus dem Ventil eines Heizkörpers. Im besten Fall war nur eine Dichtung auszutauschen, doch in handwerklichen Dingen traute sich Jana keine Eigeninitiative zu.

Sie war überzeugt noch längst nicht alle Schwachstellen des betagten Hauses bemerkt zu haben. Doch das war zweitrangig. Trotz allem, was getan werden musste, erschien es ihr doch wie ein Ort der Zuflucht. Sie würden so schnell wie möglich umziehen.

„Mama?“ Lotte schob ihre kleine Hand in ihre und sah zu ihr hoch.

„Ja, Lottchen?“

„Hier ist es nicht schön. Können wir nicht woanders wohnen?“

„Es wird hier aber ganz schön werden, das verspreche ich dir. Es muss einiges repariert werden, dann wird es dir gefallen“, versicherte Jana.

„Hier ist aber gar kein Platz für mein Zimmer. Du hast gesagt, dass wir mein Zimmer mitnehmen und die Couch auch und den Fernseher“, protestierte Lotte.

„Das machen wir auch. Es steht vieles rum, was wir nicht brauchen. Das kommt alles weg, und unsere Möbel kommen rein. Es wird richtig prima, Lottchen.“

Zweifelnd sah die Kleine zu ihr hoch. „Wann wohnen wir hier?“, fragte sie.

„Ganz bald. Aber heute Nacht schlafen wir in einer Pension.“ Es gab einen kleinen Gasthof mit Fremdenzimmern im Ort. Sie hatte schon vor der Abfahrt aus Gommersbach eine Übernachtung mit Frühstück gebucht. Drei Stunden hin und drei Stunden zurück am gleichen Tag waren ihr doch zu anstrengend, und sie wollte die Strapaze einer solch langen Autofahrt auch Lotte nicht zumuten.

Jana sah sich noch einmal im Wohnzimmer um. Waren erst die bedrückend düsteren alten Möbel draußen und der marode dunkelgrüne Teppich, so würde der Raum hell und luftig sein. Vielleicht gab es Parkett unter der Auslegeware, das man abschleifen und mit Öl oder Wachs neu versiegeln konnte. Vor die Fenster würde sie zarte helle Gardinen hängen, statt der dicken, in Strukturmuster gewebten Vorhänge, in denen längst der Gilb saß.

„Was ist eine Pan … son?“, erkundigte sich Lotte, die sich mit dem letzten Wort recht abmühen musste.

„Pension“, korrigierte Jana. „Das ist ein kleines Hotel.“ Mit der Auskunft gab sich ihr Töchterchen zufrieden. In einem Hotel waren sie schon gewesen. Kurz nach der Scheidung hatte Jana der Kleinen und sich ein paar Tage Urlaub am Timmendorfer Strand gegönnt, um Abstand zu bekommen.

„So, jetzt fahren wir in die Pension, essen etwas, und dann ist Zeit für dich, schlafen zu gehen. Morgen fahren wir nach Hause, und ich kümmere mich um den Umzug.“

„Bekomm ich Hühnchennuggets und Pommes?“, bat Lotte. Jana lachte.

„Mal sehen, was auf der Speisekarte steht.“ Unter gesunder Ernährung verstand sie etwas anderes. Aber eine Ausnahme mochte möglich sein. Sowie die Kleine schlief, würde sie im Internet nach Baufirmen suchen, die unter der Schirmherrschaft eines Bauleiters sämtliche Renovierungsarbeiten durchführten. Um die Kosten im überschaubaren Rahmen zu halten, wollte sie zunächst nur die wichtigsten Schäden beheben lassen.

*

Das Zimmer in der Pension ‚Heimathaus‘ war klein und gemütlich. Lotte lag auf der zum Bett umfunktionierten Couch und schlief. Die nette Wirtin hatte leider keine Hühnchennuggets auf der Speisekarte gehabt. Aber Hühnergeschnetzeltes, wahlweise mit Nudeln oder Pommes. Nachdem Lotte kurz den Tränen der Enttäuschung nahe gewesen war, hatte sie sich für das Gericht mit Nudeln entschieden und schließlich mit gutem Appetit gegessen.

Jana googelte mithilfe ihres Mobiltelefons Baufirmen im näheren Umkreis von Berkheim und fand einen ‚Sanierungsprofi Kessler‘, der damit warb, sämtliche Gewerke fachmännisch und zu angemessenen Preisen durchzuführen. Die ‚angemessenen Preise’ stimmten Jana zwar bedenklich, da keinerlei Beispiele angeführt wurden, doch es war sicher schwierig, Beträge zu nennen. Zu individuell mochten die Vorstellungen der Auftraggeber sein. Mangels weiterer Firmen beschloss sie, dort anzurufen. Um ihr Töchterchen nicht zu wecken, ging Jana auf den kleinen Balkon und zog die Tür ran. Es war gleich halb acht. Wahrscheinlich war niemand mehr erreichbar, aber eventuell konnte sie auf einen Anrufbeantworter sprechen. Das gab ihr das Gefühl, aktiv geworden zu sein.

Bereits beim zweiten Läuten wurde abgehoben.

„Sven Kessler“, meldete sich eine wohlklingende Stimme.

„Jana Ehlert, guten Abend. Ich weiß, ich rufe spät an, aber ich hatte bislang keine Gelegenheit“, entschuldigte sie sich.

„Das ist kein Problem, ich bin ohnehin noch im Büro. Worum geht es denn?“, fragte Kessler. Jana erläuterte ihm ihr Anliegen.

„Ja, ich denke, ich kann Ihnen weiterhelfen“, sagte der Sanierungsprofi. „Wir sollten uns vor Ort treffen. Ich sehe mir alles an, und wir besprechen, wie wir am besten vorgehen. Passt es Ihnen morgen Vormittag? Sagen wir, um elf Uhr?“

Jana überlegte rasch. Eigentlich hatte sie nach dem Frühstück gleich zurück nach Gommersbach fahren wollen. Andererseits war es sicher gut, die Renovierung so schnell wie möglich anzugehen. Sie konnte mit Lotte auch nach dem Gespräch zurückfahren.

„Einverstanden“, stimmte sie zu.

„Wunderbar. Die Adresse habe ich, Ihre Telefonnummer auch, nur für alle Fälle, falls etwas dazwischenkommt oder ich von der vorherigen Baustelle nicht rechtzeitig wegkomme. Wir sehen uns morgen. Bis dann, Frau Ehlert“, verabschiedete er sich. Jana bedankte sich und beendete das Gespräch. Das war schneller und einfacher gegangen, als sie gedacht hatte.

*

Jana lud ihre kleine Reisetasche in den Kofferraum des Wagens. Lotte kletterte inzwischen in ihren Kindersitz auf der Rückbank. Sowie mit Herrn Kessler alles besprochen war, würden sie zurück nach Hause fahren. Es gab viel zu tun. Sie wollte ihre Wohnung kündigen, eine Entrümpelungsfirma suchen, die ihr half Großtante Gerdas Haus von allem zu befreien, was nicht mehr verwertbar war, und eine Umzugsfirma damit beauftragen, ihren eigenen Besitz nach Berkheim zu schaffen.

Jana schloss die Klappe des Kofferraums und half Lotte, den Gurt zu schließen. Von der Pension bis zu ihrer zukünftigen Adresse waren es nur wenige Minuten. Als sie in die Rosenstraße einbog, stand bereits ein kleiner weißer Kastenwagen vor ihrem Grundstück. In geschwungenen blauen Buchstaben stand ‚Kessler – Ihr Sanierungsprofi‘ auf der Seite des Fahrzeugs. Neben dem Schriftzug war eine Leiter in goldener Farbe aufgebracht. Jana fuhr langsam an ihm vorbei. Durch die Seitenscheibe sah sie, dass hinter dem Steuer des Wagens ein Mann saß, über einige Papiere gebeugt, die er auf dem Lenkrad abgelegt hatte. Sie parkte vor dem Kastenwagen und stieg aus. Heute schien die Sonne, der Vormittag war mild, und zum ersten Mal seit Wochen war das Wetter frühlingshaft. Jana schnupperte den Duft von Blüten. In den Bäumen zwitscherten die Vögel. Ein orangefarbener Schmetterling verirrte sich vor ihre Nase, flatterte planlos herum und flog schließlich davon.

„Mäuschen“, sagte Jana zu Lotte, während sie deren Sicherheitsgurt löste. „Ich muss mit dem Mann sprechen, von dem ich dir erzählt habe. Er wird uns helfen, das Haus schön zu machen. Er ist schon da und sitzt in dem Auto hinter unserem.“

„Ich will mir aber mit dir den Garten angucken“, bettelte Lotte.

„Später, Lottchen. Der Mann hat nicht so viel Zeit. Du bleibst bei mir, bis wir wieder alleine sind.“

Lotte stöhnte demonstrativ auf. „Na gut“, sagte sie gedehnt und kletterte aus dem Auto.

Der Fahrer des weißen Kastenwagens war inzwischen ebenfalls ausgestiegen. Er war groß und schlank und mochte um die dreißig Jahre alt sein. Ein durchaus sympathischer, vertrauenerweckender Mann, dachte Jana. Doch das konnte täuschen. Urplötzlich war Tim wieder so präsent, als stünde er hinter ihr. Ihre Kehle wurde trocken. Unwillig versuchte sie, den Gedanken an ihren Ex-Mann abzuschütteln. Der Mann kam mit einem Lächeln auf sie zu.

„Frau Ehlert?“, fragte er und hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Sven Kessler.“ Jana nickte. Sein Händedruck war warm und fest und Tim war wieder sehr weit weg. Etwa 300 Kilometer, um genau zu sein.

„Und wer bist du?“, wandte Sven Kessler sich an Lotte. Die Kleine drückte sich an das Bein ihrer Mutter und gab keine Antwort.

„Das ist meine Tochter Lotte“, übernahm Jana die Vorstellung. „Sie ist ein bisschen schüchtern, wenn sie jemanden noch nicht kennt.“

„Das ist kein Fehler“, sagte Sven Kessler und lächelte Mutter und Tochter wechselweise an. „Ich denke, wir lernen uns in den nächsten Wochen ein wenig kennen. Ich habe einen Neffen, der dürfte etwa so alt sein wie du, Lotte. Wie alt bist du?“ Lotte sah zu Jana hoch. Jana nickte.

„Sag ruhig Herrn Kessler, wie alt du bist, Lottchen“, ermutigte sie ihr Kind.

Die Kleine streckte eine Hand vor und spreizte die Finger.

„Fünf Jahre schon? Toll“, bestätigte Herr Kessler. Lotte drückte ihr Gesicht an Janas Bein.

„Mein Neffe heißt Noah und ist auch fünf Jahre alt“, sagte er.

„Gut. Dann gehen wir jetzt ins Haus, und ich zeige Ihnen alles“, lenkte Jana das Gespräch in die von ihr angestrebte Richtung.

Gemeinsam betraten sie das Grundstück. Sven Kessler blieb nach wenigen Schritten wieder stehen.

„Gartenarbeit zählt jetzt nicht zu meinen Gewerken. Aber ich kenne einen sehr guten und zuverlässigen Landschaftsgärtner, wenn Sie jemanden brauchen. Der Garten ist ein Traum, wenn ein bisschen was getan wird.“

Jana sah sich um. Gestern hatte sie sich in erster Linie für das Haus interessiert und dem Garten kaum Beachtung geschenkt. Doch Sven Kessler hatte recht. Um das Grundstück herum wucherten reichlich Sträucher und boten Sichtschutz zu den Nachbarn. Zwei knorrige Obstbäume standen mitten im kniehoch stehenden Rasen, in dem Wildblumen gediehen. Am dicken Ast eines Apfelbaums, der in voller Blüte stand, hing an zwei verwitterten Seilen ein morsches Holzbrett. Es mochte als Schaukel gedient haben.

„Mama?“, sagte Lotte, die ihrem Blick gefolgt war, und zupfte an ihrem Ärmel. „Darf ich schaukeln?“

„Die Schaukel ist kaputt, Lottchen. Ich kümmere mich um eine neue, dann darfst du schaukeln.“

Lotte bohrte die Spitze ihres rosa Laufschuhs in den Boden. Jana wusste, dass sie schmollte. Wären sie alleine gewesen, hätte es jetzt reichlich Protest gegeben und Versicherungen, dass sie gut aufpassen würde und die Schaukel bestimmt nicht richtig kaputt wäre.

„Und wenn ich gar nicht zur Schaukel gehe, darf ich dann Blumen pflücken?“, versuchte die Kleine, etwas für sich herauszuholen.