Sophienlust - Die nächste Generation 61 – Familienroman - Simone Aigner - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 61 – Familienroman E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

Irene lebt seit ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stuttgarter Wohnung. Mit ihrem Spielzeuggeschäft versucht sie ihre Familie über Wasser zu halten. Dann geschieht es: Irene wird von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Ein fremder Mann ist sofort zur Stelle, der sich als Dr. Klaus Meier vorstellt und ihr seine Hilfe anbietet. Er sorgt auch dafür, dass Luina und Lukas in Sophienlust untergebracht werden, solange Irene im Krankenhaus liegt. Warum aber fühlt sich Klaus eigentlich so stark verpflichtet? Irmgard Menzel rührte in dem Kochtopf mit dem Schokoladenpudding. Aus dem Wohnzimmer drangen die Geräusche des Fernsehers. Sie rührte langsam und versuchte, ruhig zu atmen. Ihr Herz schlug zu schnell und ihr war ein wenig schwindelig. Das mochte mal wieder am Kreislauf liegen, das war in letzter Zeit schon öfters vorgekommen. Dr. Pietsch meinte, sie sollte sich mehr schonen. Sie bräuchte Ruhe und ab und an Zeit für sich. Doch wie sollte das gehen? Der Pudding dickte ein. Endlich. Irmgard schaltete den Herd aus und zog den Topf von der noch heißen Platte. Vorsichtig setzte sie sich an den Küchentisch. Tatsächlich war ihr sogar ein wenig übel. Sie fasste nach dem Griff des Fensters, den sie von ihrem Platz aus gut erreichen konnte und öffnete es. Milde Frühjahrsluft drang in die Küche, und draußen zwitscherten die Vögel. Die Sonne schien, und an den Büschen, die im Vorgarten des Hauses wuchsen, drängten erste zarte Blättchen dem Sonnenlicht entgegen. Was für ein herrlicher Tag! Eigentlich war es nicht zu verantworten, dass Pascal und Amelie bei dem Wetter vor dem Fernseher saßen. Irmgards Blick ging zu dem Küchenbüffet, auf dem ein Foto ihres Sohnes Daniel stand.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 61 –

Wir wollen bei Oma bleiben!

Pascal und Amelie verstehen die Welt nicht mehr…

Simone Aigner

Irmgard Menzel rührte in dem Kochtopf mit dem Schokoladenpudding. Aus dem Wohnzimmer drangen die Geräusche des Fernsehers. Sie rührte langsam und versuchte, ruhig zu atmen. Ihr Herz schlug zu schnell und ihr war ein wenig schwindelig. Das mochte mal wieder am Kreislauf liegen, das war in letzter Zeit schon öfters vorgekommen. Dr. Pietsch meinte, sie sollte sich mehr schonen. Sie bräuchte Ruhe und ab und an Zeit für sich. Doch wie sollte das gehen?

Der Pudding dickte ein. Endlich. Irmgard schaltete den Herd aus und zog den Topf von der noch heißen Platte. Vorsichtig setzte sie sich an den Küchentisch. Tatsächlich war ihr sogar ein wenig übel. Sie fasste nach dem Griff des Fensters, den sie von ihrem Platz aus gut erreichen konnte und öffnete es. Milde Frühjahrsluft drang in die Küche, und draußen zwitscherten die Vögel. Die Sonne schien, und an den Büschen, die im Vorgarten des Hauses wuchsen, drängten erste zarte Blättchen dem Sonnenlicht entgegen. Was für ein herrlicher Tag!

Eigentlich war es nicht zu verantworten, dass Pascal und Amelie bei dem Wetter vor dem Fernseher saßen.

Irmgards Blick ging zu dem Küchenbüffet, auf dem ein Foto ihres Sohnes Daniel stand. Er lachte in die Kamera, hielt Amelie auf dem Arm, und Pascal stand an seiner Seite. Auch die Kinder sahen fröhlich drein. Die Aufnahme war vor über drei Jahren entstanden. Auch damals war die Welt schon nicht mehr heil gewesen. Nicole, ihre Schwiegertochter, hatte Daniel verlassen und die Kinder gleich mit dazu. Sie hatte einen anderen Mann kennengelernt und sich seither kaum je gemeldet. Nur zum ersten Weihnachtsfest, ein halbes Jahr nachdem sie gegangen war, hatte sie eine Postkarte an ihn und die Kinder geschickt, aus der Toskana.

Irmgard hörte Amelie aus dem Wohnzimmer lachen. Pascal sagte etwas, was sie durch die Geräusche des Fernsehers nicht verstand. Vielleicht sollte sie mit den Kindern zum Spielplatz gehen, der war ja nur hundert Meter die Straße runter.

Augenblicklich verstärkte sich das Herzrasen. Irmgard öffnete das Fenster noch weiter. Nein, sollten die beiden ihren Film ansehen. Später am Tag war immer noch Zeit, nach draußen zu gehen. Sie dachte an die Worte von Dr. Pietsch. Sie brauchte Ruhe und ab und an Zeit für sich. Vielleicht sollte sie ein paar Schritte alleine an die frische Luft gehen? So klein waren die Kinder nicht mehr, dass sie das nicht für eine halbe Stunde verantworten konnte. Pascal war mit seinen sieben Jahren schon recht vernünftig, und Amelie saß stets wie gebannt vor dem Fernseher, selbst wenn sie die DVDs, die Irmgard ihren Enkeln erlaubte, schon unzählige Male gesehen hatte.

Für einen Augenblick wurde ihr leichter. Ja, sie würde sich einen kleinen Spaziergang gönnen. Sie sah zur Küchenuhr. Es war jetzt gleich halb zwei, der Film ging noch etwa 45 Minuten. Sie wollte auf jeden Fall vorher zurück sein.

Irmgard stand auf und schloss das Küchenfenster. Ihr Handy lag auf dem Küchenbüffet. Das würde sie auf jeden Fall mitnehmen, damit Pascal sie anrufen konnte, falls doch irgendwas war. Sie warf einen Blick auf das Display, und ihr schöner Plan, der kleine Ausblick auf eine halbe Stunde nur für sich, drohte zusammenzufallen. Der Akku zeigte nur drei Prozent, sie hatte vergessen das Mobiltelefon aufzuladen. Nun war das Gerät auch nicht mehr das Neueste. Wahrscheinlich fielen die besagten drei Prozent in sich zusammen, noch ehe sie aus dem Haus war. Ohne Handy wollte sie die Wohnung aber keinesfalls verlassen.

Niedergeschlagen steckte sie das Ladekabel an das Telefon und in die Steckdose und sah ins Wohnzimmer. Amelie lag bäuchlings auf dem Teppich, das Gesicht in die Hände gestützt, und verfolgte fasziniert den Film über die Eiskönigin. Pascal flegelte auf dem Sofa und wollte sich über eine schneemannartige Figur kaputtlachen, die fortwährend fröhlich grinste und Olaf hieß. Ein Lächeln glitt über Irmgards Gesicht. Ihre Enkel, das Beste, was ihr im Leben geblieben war! Sie würde alles daransetzen, für die beiden dazu sein und ihnen helfen, einen guten Weg in die Zukunft zu finden, soweit ihr das möglich war. Hoffentlich war ihr die Zeit noch gegeben. Ein Druck senkte sich auf ihre Brust.

„Oma?“, sagte Amelie, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. „Ist der Pudding fertig?“ Erneut musste Irmgard lächeln. Die Kleine hatte sie offenbar aus den Augenwinkeln gesehen. Pascal fasste nach seinen Füßen, die in bunten Ringelsocken steckten, und erging sich in eigentümlichen Verrenkungen auf dem Sofa. Offenbar nahm er seine eigenen Zappeleien gar nicht wahr, denn auch er verfolgte gebannt den Film.

„Ja, Amelie, der Pudding ist fertig, aber er ist noch zu heiß. Pascal, kannst du kurz den Ton ausschalten?“ Pascal ließ seine Füße los und setzte sich. Artig nahm er die Fernbedienung vom Couchtisch, stoppte aber mit einem Tastendruck den Film, statt nur den Ton auszuschalten.

„He!“, sagte seine Schwester empört und drehte sich auf dem Bauch zu ihm herum.

„Die Oma hat gesagt, ich soll den Ton ausmachen“, verteidigte sich Pascal.

„Kinder, nicht streiten“, mahnte Irmgard. Schon wieder beschleunigte sich ihr Puls. „Ihr könnt gleich weitersehen. Ich gehe eine halbe Stunde an die frische Luft. Ihr seid artig, hört ihr? Keinen Unfug machen.“

Pascal nickte.

„Amelie?“, wandte Irmgard sich an die Kleine.

„Ja-ha, Om-a“, erwiderte das Kind.

„Gut. Ich bin zurück, ehe euer Film aus ist. Bis später.“

„Darf ich wieder anmachen?“, fragte Pascal.

„Ja“, sagte Irmgard. Sie überlegte, ob sie noch einen Abschiedsgruß sagen sollte, doch die Aufmerksamkeit ihrer Enkel hing schon wieder am Bildschirm.

Sie ging in den Flur, zog eine leichte rosa Strickjacke über ihr geblümtes Kleid, schlüpfte in bequeme Laufschuhe und verließ die Wohnung, nur ihr Schlüsselbund nahm sie mit. Im Hausflur überlegte sie, ob sie zuschließen sollte. Sie war nicht sicher, womit ihr wohler war. Falls doch jemand klingelte, und war es nur der Postbote, bestand durchaus die Möglichkeit, dass die kleinen Hände und Füße schneller waren als der Kopf, und eines der Kinder rannte zur Tür und öffnete. Das durften sie nicht. Wobei vom Postboten keine Gefahr drohte, den kannte Irmgard schon lange. Schloss sie zu, beschäftigte sie der Gedanke, dass die Kinder nicht aus der Wohnung kämen, falls es doch notwendig sein sollte. Vielleicht weil sie doch Unfug machten und mit den Zündhölzern spielten, an die sie gar nicht gelangen konnten, weil die sicher verstaut im obersten Fach vom Küchenschrank lagen, wo beide noch nicht rankamen.

Irmgard seufzte. So viele Gedanken, so viele Sorgen. Sie würde jetzt zuschließen. Ein Zweitschlüssel lag in einer Schale auf dem Schuhschrank. Das wussten die Kinder, und damit konnte sogar Amelie schon umgehen, sie hatte es mit ihr geübt. Pascal sowieso, er war wirklich schon ein großer Junge.

Leise ging Irmgard die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss wohnte Jette Widmann. Die Frau war unerträglich. Unerträglich neugierig, geschwätzig und aufdringlich. Wie eine Klette hing sie an ihr, sowie sie eine Möglichkeit fand, und bedrängte sie mit Informationen, die sie nicht haben mochte. So zum Beispiel, dass der junge Mann im Haus nebenan angeblich wöchentlich die Freundin wechselte und sie, Jette, den Verdacht hegte, dass der Pfarrer ein Alkoholproblem hätte. Oft schon war Jette genau in dem Moment, rein zufällig natürlich, aus ihrer Wohnung gekommen, wenn Irmgard zum Briefkasten oder Mülleimer gewollt hatte, oder außer Haus. Dann kam sie so rasch nicht weg und musste sich sämtliche Unterstellungen anhören.

So geräuschlos wie möglich öffnete Irmgard die Haustür. Sie sah, dass Jettes kleiner roter Fiesta, der seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte, nicht auf dem Parkplatz stand. Jette war also unterwegs, und sie hätte gar nicht so leise sein müssen. Dafür musste sie jetzt schnell sein, denn wenn Jette nun zurückkam, stand das gleiche Problem an.

Irmgard wandte sich Richtung Ortsausgang. Sie musste nur an wenigen Häusern vorbei, dann kam sie auf einen Feldweg, und der wiederum führte in den nahen Wald. Die Stille dort würde ihr guttun. Tief atmete sie die milde Frühjahrsluft ein und machte sich auf den Weg.

*

Georg Bergmann parkte seinen weißen VW auf dem für Wanderer ausgewiesenen Parkplatz und stieg aus. Es war ein herrlicher Frühlingstag, wie geschaffen für einen schönen langen Spaziergang mit Hector. Er stieg aus, umrundete das Fahrzeug und öffnete die Kofferraumklappe. Hector, ein struppiger Rauhaardackel, saß hechelnd und schwanzwedelnd in seiner Transportbox und konnte es offensichtlich kaum erwarten, dass es endlich losging.

„So mein Junge, ich denke, ich habe ein nettes Fleckchen für uns gefunden“, ließ er den Hund wissen. Hector hechelte noch ein wenig schneller, seine rosa Zunge hing aus der Schnauze, und sein Schwanz klopfte beim Wedeln gegen die Plastikwände der Box. Bergmann sah sich um. Weit und breit war niemand außer ihm. Felder und Wiesen erstreckten sich zu beiden Seiten der schmalen Landstraße, und nur wenige Meter entfernt begann der Wald. Ein Feldweg führte direkt dorthin. Ein Pfeilwegweiser deutete Richtung Wald. ‚Rundweg ca. 1 Stunde’ stand in das verwitterte Holz geschnitzt.

Wo hier der Rundweg sein sollte, erschloss sich Georg Bergmann nicht, er sah nur einen einzigen Weg. Doch das war ihm ziemlich egal, den würde er jetzt gehen. Und so ruhig, wie es hier war, konnte er es verantworten, Hector ohne Leine laufen zu lassen, zumindest im Moment. Er öffnete das Gitter der Box, um seinen Dackel herauszuheben, doch der Hund war schneller und sprang mit einem großen Satz auf den Parkplatz.

„Hector!“, sagte Bergmann, gleichermaßen erschrocken wie vorwurfsvoll. „Das ist nicht gut für deinen Rücken.“ Schnüffelnd untersuchte der Dackel den Parkplatz, ohne seinem Herrn Beachtung zu schenken. Bergmann nahm die Hundeleine, die neben der Box lag, und schloss den Kofferraum.

„Komm mein Junge“, forderte er den Hund auf, der jetzt am Mülleimer das Hinterbein hob. Hector sah ihn an. „Da lang“, ergänzte Georg und zeigte auf den Weg. Eilig wackelte der Dackel voran.

*

Irmgard war bereits ein gutes Stück in den Wald hineingegangen. Ihr Herz schlug nach wie vor zu schnell, manchmal auch ein wenig ungleichmäßig. Ihre Knie zitterten und sie fühlte sich mit jedem Schritt schwächer. Das war nicht gut. Was war denn nur los mit ihr? Sie konnte es sich nicht leisten, krank zu sein. Wer sollte für die Kinder sorgen?

Sie sehnte sich nach einer Bank, doch soweit sie wusste, war der nächste Ruheplatz seitlich des Spazierweges noch etliche hundert Meter entfernt. Aber es gab einen Baumstumpf, nicht weit von hier. Der tat es auch. Bedächtig schritt sie voran. Wo war denn jetzt der Baumstumpf? Hatte sie ihn übersehen? War er doch weiter weg, als sie es in Erinnerung hatte? Irmgard wurde schwindelig, und jetzt bekam sie Angst. Sie musste sich unbedingt hinsetzen. Sie stützte sich mit der flachen Hand am Stamm einer Buche ab. Dort vorne machte der Weg eine Biegung. Wenn sie sich recht erinnerte, war dahinter der Baumstumpf. In ihrem Kopf fuhr etwas Karussell. Sie konzentrierte ihren Blick auf den Waldboden, der noch mit dem Laub des vergangenen Herbstes bedeckt war. Die Blätter, in ihren braunen, orangenen und gelben Farbtönen, feucht vom Tau der vorangegangenen Nacht, kamen auf sie zu. Irmgard spürte, wie ihre Hand am rauen Stamm der Buche entlangglitt. Ihre Knie gaben nach, der Boden kam auf sie zu. Sie schlug auf, geriet ins Straucheln und Rutschen und glitt die Böschung an der Wegseite hinunter. Kopf und Schulter taten ihr weh, aber nicht so schlimm, wie es hätte kommen können. Dann wurde es dunkel um sie.

*

Georg Bergmann lief den Waldweg entlang. Er wäre gerne etwas langsamer gelaufen, um die Natur zu genießen, doch Hector eilte voran, schnüffelte hier und da und hatte es eilig. Einen Versuch, ihn an der Leine zu führen, hatte der Hund erst mit vorwurfsvollen Blicken quittiert und schließlich mit hektischem Ziehen an derselben. Bergmann gestand sich ein, in der Hundeerziehung nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein, und hatte Hector wieder frei laufen lassen.

„Hector!“, rief er, weil der Abstand zwischen ihm und seinem Dackel zunehmend größer wurde. „Hierher!“ Hector blieb stehen und sah zu ihm. Mit dem Blickkontakt, so schien er zu glauben, war dem Gehorsam Genüge getan. Er lief weiter. „Wuff“, machte er plötzlich, blieb stehen und hob witternd die Schnauze. „Wuff.“ Nun fing er an zu rennen.

„Hector, hierher!“, wiederholte Bergmann seinen Befehl, doch der Dackel hörte nicht. Stattdessen wandte er sich vom Weg ab und schlug sich ins Gebüsch. Hier fiel das Gelände ein wenig ab, nicht tief, einen Meter vielleicht oder anderthalb.

„Hector!“ Hoffentlich hatte keinen Hasen gewittert oder ein Reh. Bergmann brach der Schweiß aus, und er beschleunigte seinen Schritt. Schlimmstenfalls ging der Dackel komplett durch, das mochte er sich gar nicht vorstellen. Zudem kannte der Hund sich hier auch gar nicht aus. Selbst wenn sein Jagdeifer, aus welchen Gründen auch immer, erlahmte, er würde den Rückweg nicht finden. Weder zu ihm, noch zum Parkplatz und schon gar nicht nach Hause beziehungsweise zu seinem Sohn, bei dem sie derzeit zu Besuch waren. Außerdem war er mit dem Wagen bestimmt zwanzig Minuten bis hierhergefahren. Eine weite Strecke für den kleinen Kerl. Es war fatal.

„Hector!“, rief er erneut, atemlos und mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

„Wuff“, ertönte es, gar nicht weit von ihm. Georg war schwach erleichtert, verlangsamte sein Tempo und sah sich suchend um. „Wo bist du denn? Was machst du?“, regte er sich dennoch auf.

„Wuff“, kam es wieder aus dem Unterholz. Er ging dem Bellen nach und sah über den Rand der Böschung hinunter, etwa in dem Bereich, wo er seinen Hund vermutete. Das Entsetzen fuhr ihm wie ein Hieb in den Magen. Dort saß sein Dackel neben einer älteren Frau, die tot oder zumindest bewusstlos im Gestrüpp lag. Es schnürte Bergmann die Kehle zu, und eiskalt überlief es ihn.

Lieber Himmel, dachte er und kraxelte vorsichtig das leichte Gefälle hinunter. Jetzt nur nicht selbst noch stürzen, am Ende gar auf die Frau drauf. Hector beobachtete ihn aufmerksam.

Endlich war er unten angelangt. Georg stand stocksteif. Er musste Hilfe holen. Aber vielleicht sollte er zunächst nachsehen, ob die Frau noch am Leben war. Er verkrampfte die Hände. Das war nichts für ihn! Wäre nur Kai hier gewesen! In seinem Beruf als Arzt kannte er solche Berührungsängste nicht. Bergmann trat der Schweiß auf die Stirn. „Wuff“, machte Hector wieder, als wollte er ihn ermahnen, endlich zu handeln.

„Hast ja recht, mein Junge“, krächzte er. Er würde Kai anrufen. Der wusste, was zu tun war. Mit klammen Fingern nestelte er sein Handy aus der Jackentasche. Es entglitt ihm und landete im Laub. Mit fahrigen Griffen klaubte er es hervor und entfernte mit dem Ärmel ein paar anhaftende Blätter. Wenigstens hatte er Empfang, das zeigten ihm die drei kleinen Balken im oberen rechten Eck seines Telefons. Zitternd rief er die Kurzwahl auf, unter der die Nummer seines Sohnes eingespeichert war.

„Papa, was gibt’s?“, hörte er die Stimme seines Sohnes, als er noch gar nicht damit gerechnet hatte. Es hatte ja kaum einmal getutet. „Ich bin auf dem Sprung in die Klinik.“

„Junge, du musst mir helfen. Stell dir vor was passiert ist.“ Beinahe hätte er sich beim Reden verhaspelt. Kais Hinweis, dass er zur Arbeit müsste, beschloss er für den Moment zu ignorieren. Es ging schließlich um Leben und Tod, bestenfalls. Schlimmstenfalls war eh schon alles zu spät. Rasch berichtete er, was vorgefallen war.

„Fühl mal den Puls“, wies ihn sein Sohn an. Er hatte es geahnt. Sein Mund wurde trocken. „Papa? Hörst du“, drängte Kai.

„Ja, ja. Ich mach schon. Moment.“ Steifbeinig ging er in die Knie. Mit spitzen Fingern berührte er die Stelle über dem Handgelenk der Frau, wo er den Puls vermutete. Immerhin, ein wenig Wärme war noch in dem scheinbar leblosen Körper, und nun fühlte er auch, ganz sacht, ein Pulsieren.

„Puls hat sie noch“, verkündete er erleichtert und richtete sich auf.

„Okay, Papa. Ich schicke einen Notarzt. Wo genau bist du?“

„Aber Junge, ich hab doch keine Ahnung wo ich bin! Ich wollte mit Hector schön spazieren gehen. Wir sind in der Nähe von einem Ort, der heißt Bachenau. Ich habe ein Hinweisschild gesehen, kurz bevor wir an dem Parkplatz angekommen sind.“

„Gut. Das ist nicht so weit von Maibach. Schick mir doch bitte deinen Standort, den kann ich weiterleiten.“

Bergmann brach zum x-ten Mal der Schweiß aus. Immer dieser Firlefanz mit der modernen Technik.

„Ich weiß doch gar nicht, wie das geht“, regte er sich auf.

„Das ist ganz einfach. Du gehst jetzt auf WhatsApp …“

„Kai! Falls es dir entgangen ist, wir telefonieren gerade miteinander. Wie soll ich denn da auf WhatsApp gehen?“

„Ganz ruhig Papa, das geht, und du schaffst das. Ich erkläre es dir Schritt für Schritt.“ Georg schnaufte. Hätte nicht die hilflose Frau zu seinen Füßen gelegen, er hätte am liebsten das Telefon ins Gebüsch geworfen und seinen Spaziergang mit Hector fortgesetzt. Der Dackel saß wie festgewachsen neben der Frau und fixierte ihn aus seinen dunklen Augen.

„Also, du machst jetzt Folgendes…“, setzte Kai seine Erklärung fort. Georg Bergmann biss die Zähne aufeinander und tat, was sein Sohn ihm sagte.

*

Der Film war aus. Pascal wollte nach der Fernbedienung greifen, die auf dem Wohnzimmertisch lag, um den Fernseher und den DVD-Player auszuschalten.

„Ich will!“, rief Amelie und sprang auf. Schulterzuckend überließ Pascal seiner kleinen Schwester die Aufgabe. Dass Oma noch nicht zurück war, gab ihm zu denken. Sie hatte gesagt, sie würde wieder hier sein, noch ehe der Film zu Ende war. Nun war er zu Ende, aber sie war noch nicht da. Amelie hopste neben ihn auf das Sofa, sodass das Polster federte.

„Ich hab Hunger. Wo ist Oma?“, fragte sie.

„Weiß nicht“, murrte Pascal. Er hatte ein bisschen Angst. Es geschah immer, was Oma sagte, und wenn sie etwas versprach, dann war es auch so. Nun hatte sie gesagt, sie wäre wieder hier, ehe der Film aus war, und jetzt war er aus, aber sie noch nicht hier. Dabei hatte sie es versprochen, und ein Versprechen musste man halten. Aber eigentlich hatte sie es nicht versprochen, sie hatte es nur gesagt. Ob das dasselbe war? Er hätte gern jemanden gefragt, nur wusste er nicht, wen. Amelie war zu klein.

„Wann kommt Oma wieder?“, fragte Amelie. Die kleine Schwester nervte. Er wusste es ja selbst nicht.

„Weiß nicht“, wiederholte er.

„Ich will aber, dass Oma wiederkommt.“ Um Amelies Mundwinkel fing es an zu zucken, und Pascal erschrak. Wenn Amelie anfing zu weinen, wurde es richtig schlimm. Sie weinte nämlich eigentlich nicht, sondern stimmte eher eine Art Geheul an, das war ganz furchtbar, und dann ließ sie sich nicht mehr beruhigen, schon gar nicht von ihm. Dazu brauchte es dann Oma.

„Sie kommt schon wieder“, versuchte er rasch, das Unglück aufzuhalten.

Amelie schniefte und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen.

„Ich will den Pudding“, jammerte sie. Immerhin, da konnte er helfen.

„Ich gebe dir was davon“, versicherte er und stand auf. Amelie schob den Po über die Sofakante und trottete hinter ihm her in die Küche.

Der Topf stand auf dem Herd, da kam er gut ran. Mit einem Schüsselchen wurde es schwierig. Die waren oben im Schrank. Selbst wenn er auf einen Stuhl kletterte, kam er wahrscheinlich nicht ran. Aber er konnte den Topf herunterheben und auf den Tisch stellen, und dann bekam Amelie eben nur einen Löffel dazu. Seinetwegen konnte sie auch den ganzen Topf leer essen, er hatte keinen Hunger. Außerdem wollte er erst wieder was essen, wenn Oma zurück war. Plötzlich war ihm selber nach Weinen. Was sollte er nur tun, wenn sie gar nicht wiederkam?