Sophienlust - Die nächste Generation 63 – Familienroman - Simone Aigner - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 63 – Familienroman E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

Irene lebt seit ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stuttgarter Wohnung. Mit ihrem Spielzeuggeschäft versucht sie ihre Familie über Wasser zu halten. Dann geschieht es: Irene wird von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Ein fremder Mann ist sofort zur Stelle, der sich als Dr. Klaus Meier vorstellt und ihr seine Hilfe anbietet. Er sorgt auch dafür, dass Luina und Lukas in Sophienlust untergebracht werden, solange Irene im Krankenhaus liegt. Warum aber fühlt sich Klaus eigentlich so stark verpflichtet? Mila saß auf der Kante ihres Bettes, die Hände neben dem Po abgestützt, und hopste auf der Matratze herum. Das machte viel Spaß, weil der Lattenrost darunter so lustig quietschte. Kinderschwester Sandra warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie hatte eben Milas komplette Garderobe in eine Reisetasche gepackt. "Du wirst das Bett noch kaputt machen", mahnte sie sanft. Mila hörte auf zu hopsen und lachte Schwester Sandra an. "Mach ich gar nicht", versicherte sie. "Ich hops ganz vorsichtig. Wann kommen Oliver und Annika? Darf ich auch mal wieder zu euch kommen, wenn ich bei ihnen wohne? Oliver sagt, ich bekomme ein eigenes Zimmer", plapperte sie. "Und vielleicht ein eigenes Häschen! Das muss ich dann füttern, und ich darf ganz viel mit ihm spielen. Wann kommen sie denn? ", wiederholte sie ihre Frage. "Sie sind bestimmt bald hier", antwortete Schwester Sandra und schloss die Reisetasche. "Wir können schon mal nach unten gehen, in den Aufenthaltsraum. Dann kannst du dich auch von den anderen Kindern verabschieden. Mila sprang mit beiden Beinen gleichzeitig vom Bett. Sie war ziemlich aufgeregt.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 63 –

Pflegekind Mila

Ein kleines Mädchen sehnt sich nach Liebe

Simone Aigner

Mila saß auf der Kante ihres Bettes, die Hände neben dem Po abgestützt, und hopste auf der Matratze herum. Das machte viel Spaß, weil der Lattenrost darunter so lustig quietschte. Kinderschwester Sandra warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie hatte eben Milas komplette Garderobe in eine Reisetasche gepackt.

„Du wirst das Bett noch kaputt machen“, mahnte sie sanft. Mila hörte auf zu hopsen und lachte Schwester Sandra an.

„Mach ich gar nicht“, versicherte sie. „Ich hops ganz vorsichtig. Wann kommen Oliver und Annika? Darf ich auch mal wieder zu euch kommen, wenn ich bei ihnen wohne? Oliver sagt, ich bekomme ein eigenes Zimmer“, plapperte sie. „Und vielleicht ein eigenes Häschen! Das muss ich dann füttern, und ich darf ganz viel mit ihm spielen. Wann kommen sie denn?“, wiederholte sie ihre Frage.

„Sie sind bestimmt bald hier“, antwortete Schwester Sandra und schloss die Reisetasche. „Wir können schon mal nach unten gehen, in den Aufenthaltsraum. Dann kannst du dich auch von den anderen Kindern verabschieden.“

Mila sprang mit beiden Beinen gleichzeitig vom Bett. Sie war ziemlich aufgeregt. In der letzten Zeit hatte sie ganz oft Besuch bekommen – von Oliver und Annika. Oliver war nett und lustig. Annika war recht ruhig. Sie sagte nicht viel. Aber das war nicht schlimm. Milas Freundin Leonie, die auch im Waisenhaus wohnte, sagte auch manchmal nicht viel. Mila mochte sie trotzdem sehr gerne.

Als Oliver und Annika zum ersten Mal gekommen waren, um Mila zu besuchen und kennenzulernen, war sie ein bisschen ängstlich gewesen. Aber Schwester Sandra war die ganze Zeit dabeigeblieben, und so war die Ängstlichkeit schnell besser geworden. Sie waren ins Besucherzimmer gegangen und hatten dort mit Legosteinen versucht eine Burg zu bauen, in der eine Prinzessin wohnte. Annika hatte nicht mitgespielt, sondern am Tisch gesessen und immer wieder auf ihr Handy geschaut. Vielleicht mochte sie keine Legosteine.

Beim zweiten Besuch waren sie auf den Spielplatz gegangen, ohne Schwester Sandra. Oliver hatte Mila auf der Schaukel angeschubst und am Klettergerüst gelobt, weil sie so gut rauf- und runterkletterte. Annika hatte zugesehen und viel gelächelt. Beim nächsten Mal waren sie in den Zoo gegangen. Und Eis essen waren sie gewesen, und auf einen Jahrmarkt waren sie auch gegangen. Dort hatte sie Karussell fahren dürfen, und Oliver hatte ihr hinterher Würstchen gekauft und rote Limonade. Beides war sehr gut gewesen.

Nach dem Jahrmarktbesuch hatte Oliver sie gefragt, ob sie Lust hätte, ihn und Annika zu Hause zu besuchen. Sie hätten ein schönes Haus und einen großen Garten, in dem man rennen, spielen und herumtoben konnte. Mila war einverstanden gewesen. Der Garten war wirklich groß, mit vielen Büschen und Bäumen, und einen kleinen Springbrunnen gab es auch. Sie hatten draußen Fangen und Verstecken gespielt, und sogar Annika hatte ein bisschen mitgemacht und manchmal gelacht. Später hatte es Schokoladenkuchen und Apfelsaft gegeben. Das war richtig schön gewesen.

Und jetzt wollten die beiden sie gleich abholen, damit sie in Zukunft bei ihnen wohnen konnte. Mila schob ihre Hand in die von Schwester Sandra. Sie mochte Oliver sehr gern, und sie freute sich, ihn ab jetzt ganz oft zu sehen. Annika war ein bisschen langweilig, so ähnlich wie Stella, mit der sie sich bisher das Zimmer im Waisenhaus geteilt hatte. Aber ihr war auch ein wenig komisch im Bauch. Sie hatte bisher immer im Waisenhaus gewohnt und konnte sich eigentlich gar nichts anderes vorstellen. Langsam tappte sie an Schwester Sandras Hand die Treppe hinunter.

Unten im Flur stand Resi, die eigentlich Therese hieß. Sie war ihre beste Freundin, und plötzlich wurde es ganz eng in Milas Hals. Sie würde Resi doll vermissen. Resi wickelte ihre langen schwarzen Haare um ihre Finger.

„Musst du heute weg?“, fragte sie. Mila nickte und plötzlich kullerten ihr Tränen über die Wangen. Resi schlang die Arme um sie.

„Ich komm dich besuchen“, entschied sie. Mila schniefte und fühlte sich gleich wieder besser.

„Wirklich?“, fragte sie. Resi nickte heftig. „Ganz oft. Darf ich, Schwester Sandra?“, fragte sie. Schwester Sandra lächelte.

„Wir werden sehen“, antwortete sie.

„Dann kann ich dir mein Häschen zeigen, wenn ich eins bekomme“, fuhr Mila fort. „Du darfst es auch mal streicheln.“

„Au ja“, stimmte Resi begeistert zu.

Bei dem Gedanken daran, mit Resi zusammen mit dem Häschen zu spielen, bekam Mila ein freudiges Kribbeln im Bauch. Es wurde bestimmt ganz prima, bei Oliver und Annika.

*

Oliver Benker warf einen besorgten Blick zu seiner Frau, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß und seit einer gefühlten Ewigkeit ihre sorgsam manikürten Fingernägel betrachtete. In wenigen Minuten würden sie am Ziel ihrer Fahrt sein, dem Waisenhaus, um die kleine Mila abzuholen.

„Alles in Ordnung, Liebes?“, erkundigte er sich. Annika hob den Kopf und lächelte ihn an.

„Natürlich“, versicherte sie, doch ihr Lächeln erschien ihm aufgesetzt. Die Ampel, an der er hatte anhalten müssen, schaltete auf grünes Licht, und Oliver war gezwungen, wieder auf die Straße zu sehen.

„Du machst dir immer noch Gedanken wegen der Pflegschaft, nicht wahr?“, sagte er und schaltete in den dritten Gang. Er wusste, seine Aussage traf es nicht ganz. Annika machte sich keine Gedanken wegen der Pflegschaft. Sie hatte sich ein Kind gewünscht, genau wie er. Ein eigenes Kind. Und wenn schon Pflegschaft, dann natürlich ein Baby, doch das war nicht möglich gewesen. Nach langen, intensiven Beratungsgesprächen hatte das Amt für Soziale Dienste in ihrem Wohnort Heidelberg ihnen die kleine Mila ans Herz gelegt. Sie war fünf Jahre alt und lebte im Waisenhaus. Über ihre genaue Herkunft war nichts bekannt. Sie war als Säugling in die Babyklappe des hiesigen Klinikums gelegt worden. Mila war als fröhliches, aufgeschlossenes kleines Mädchen beschrieben worden, und genauso hatte er sie auch kennengelernt und schnell ins Herz geschlossen. Leider ganz anders Annika. Zwar behauptete sie, Mila durchaus zu mögen, doch sie brachte ihr weder Herzlichkeit noch echtes Interesse entgegen. Oliver hoffte sehr, dies würde sich mit der Zeit ändern. Tief in seinem Inneren schwelte die Sorge, es könnte nicht so sein. Doch er hatte die zutrauliche Kleine längst zu gern, als dass er sich von ihr hätte abwenden wollen. Sicher brauchte Annika auch Zeit, in die Mutterrolle hineinzuwachsen. Seit sie von ihrer Frauenärztin erfahren hatte, dass sie nie eigene Kinder haben würde, hatte sie sich verändert. Anfangs hatte sie viel geweint und gehadert, warum gerade ihr dieses Glück nicht vergönnt war, später war sie schweigsam geworden und hatte zu seinem Kummer häufig schlechte Laune.

Seinen Vorschlag, über eine Adoption nachzudenken, hatte sie zunächst verhalten aufgenommen. Je öfter er sie jedoch darauf angesprochen hatte, umso aufgeschlossener hatte sie sich gezeigt, manchmal sogar richtig freudig. Ja, auf dem Weg konnten sie doch noch ein Baby haben! Leider hatte schon das erste Gespräch mit der Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes einen Teil dieser Wunschvorstellungen in Nichts aufgelöst. Babys wurden kaum je vermittelt, und auch eine Adoption brauchte Zeit. Eine Pflegschaft jedoch, das wäre möglich. Und auf Dauer gesehen, könnte das betreffende Kind durchaus adoptiert werden, wenn die Pflegschaft harmonisch ablief und auch sonst nichts dagegensprach.

Ab diesen ersten Informationen war Annikas Interesse wieder geschwunden, er jedoch hatte sich von der Hoffnung, auf diesem Weg doch noch Vater zu werden, nicht verabschieden können.

Oliver versuchte, die unerfreulichen Gedanken beiseite zu schieben. Längst war alles besprochen und in die Wege geleitet. Sie würden Mila heute abholen. Das Kinderzimmer, das bislang nutzlos leer gestanden hatte, war für sie vorbereitet. Über einen Versandhandel hatte er, gemeinsam mit Annika, hübsche helle Möbel bestellt. Vor dem Fenster hing ein luftiger zartrosa Vorhang, das Bettzeug hatte einen Überzug in der gleichen Farbe. Auf einem kleinen Schreibtisch, der Mila im kommenden Jahr, wenn sie eingeschult wurde, als Arbeitsplatz dienen sollte, lagen ein Malbuch und ein Kasten mit Buntstiften, und auf ihrem Bett saß ein hellblauer Hase mit Schlappohren.

„Du bist doch die nächsten Tage zu Hause, oder?“, unterbrach Annika unerwartet seine Gedanken.

„Natürlich, Liebes. Wie versprochen. Ich habe reichlich Überstunden und die kommenden Tage frei“, versicherte er. Er legte seine Hand auf ihre und streichelte sie. Annika ließ es geschehen.

*

Mila kam ihnen an der Hand von Kinderschwester Sandra entgegen. Die Kleine lächelte ihn schüchtern an, und ein warmes Gefühl durchflutete Olivers Inneres.

Meine Tochter!, dachte er spontan, und es wurde eng in seiner Kehle. Gerne hätte er nach Annikas Hand gegriffen, um diesen ganz besonderen Moment mit ihr zu teilen. Doch seine Frau strahlte eine Zurückhaltung aus, die ihn davon abhielt.

„Hallo, Mila“, begrüßte er das Kind, betont fröhlich und um einiges munterer, als es die Mischung aus Rührung und Beklemmung, die er empfand, eigentlich zuließ.

„Guten Tag, Herr Benker, hallo, Frau Benker“, sagte die Kinderschwester und lächelte ihnen zu. „Mila ist schon reisefertig.“ Sie zeigte auf das Gepäck, das im Eingangsbereich nahe der Tür stand. „Wir haben Sie vom Fenster des Aufenthaltsraums aus gesehen“, fuhr sie fort.

„Hast du dich denn schon von allen verabschiedet, Mila?“, fragte Oliver. Ernsthaft nickte die Kleine.

„Ja, von der Stella, der Leonie und der Resi. Der Tim wollte nicht Tschüss sagen. Tante Ulla hat mir zum Abschied ein Puzzle geschenkt, und das wollte er haben. Aber Tante Ulla hat gesagt, dass es mir gehört. Jetzt schmollt er“, berichtete Mila. Schwester Sandra strich der Kleinen über die Schulter.

„Er beruhigt sich bald wieder“, sagte sie und wandte sich nochmals an Oliver und Annika: „Wenn es irgendwelche Probleme geben sollte oder Sie Fragen haben, melden Sie sich gerne jederzeit. So, wie wir das bis jetzt beurteilen können, dürfte es aber keine Schwierigkeiten geben.“ Sie ließ die Hand des Kindes los.

„Tschüss, Mila“, sagte sie.

„Tschüss“, erwiderte die Kleine. Oliver griff mit einer Hand nach der Reisetasche des Kindes, die andere hielt er der Kleinen hin. Schüchtern ergriff sie sie.

„Auf Wiedersehen, Schwester Sandra“, sagte er. „Haben Sie vielen Dank für alles.“

„Sehr gerne. Ihnen eine gute Zeit“, verabschiedete sich die Kinderschwester.

*

Staunend stand Mila unter der Tür zu ihrem neuen Zimmer. Es war alles so schön! Die Bettwäsche war rosa und die Vorhänge auch, und vor dem Bett lag ein runder flauschiger Teppich in hellblauer Farbe. Die Möbel waren weiß.

„Gefällt es dir?“, fragte Oliver, der neben ihr stand. Annika hielt sich im Hintergrund. Andächtig nickte Mila.

„Da darf ich schlafen?“, fragte sie und zeigte auf das Bett.

„Ja“, antwortete Oliver und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. „Guck mal unter die Bettdecke“, forderte er sie auf. Zögernd betrat Mila den Raum und schlug das Deckbett zurück. Darunter lag ein weißer Schlafanzug mit gelbem Bündchen, auf den viele kleine Igel gedruckt waren.

„Ist der schön“, sagte sie freudig und strich mit den Fingerspitzen darüber. „Für mich?“, vergewisserte sie sich.

„Ja, klar. Hoffentlich passt er dir“, antwortete Oliver.

„Und der blaue Hase? Gehört der auch mir?“ Das Häschen sah so lustig aus mit dem bunten Fell.

„Natürlich.“ Oliver kam zu ihr ins Zimmer und setzte sich auf den Schreibtischstuhl.

„Der ist aber nicht echt“, stellte Mila fest und nahm das Stofftier trotzdem in die Hand. „Aber schön weich, und er sieht lustig aus. Als ob er lacht.“

„Mit dem echten Häschen dauert es noch ein bisschen“, sagte Oliver. „Sollen wir dir helfen, deine Sachen auszupacken?“, fuhr er fort.

„Ich gehe in die Küche“, sagte Annika eilig, die noch immer bei der Tür stand. „Ich muss das Abendessen warm machen.“ Sie wandte sich ab und eilte davon.

Mila setzte sich auf ihr neues Bett und betrachtete den Hasen. Sie strich über sein weiches Fell. „Warum ist er blau?“, fragte sie.

Oliver lächelte. „Ich weiß es nicht. Es gab auch welche mit gelbem Fell. Blau fand ich schöner“, sagte er.

„Du hast ihn mir gekauft?“ Aufmerksam sah Mila ihn an. Oliver nickte.

„Dann hast du ihn mir geschenkt“, schlussfolgerte sie.

„Richtig“, erwiderte er.

„Hat Annika mir auch etwas geschenkt?“, fragte sie und sah sich im Zimmer um.

„Alles, was du hier siehst, haben Annika und ich gemeinsam für dich ausgesucht und gekauft“, antwortete er.

„Essen ist fertig“, rief Annika durch das Haus.

„Komm“, sagte Oliver und stand auf. „Wir packen später aus. Es gibt Nudeln mit Tomatensoße. Ich hoffe, du magst das.“

„Das mag ich voll gerne“, versicherte Mila und rutschte von ihrem neuen Bett. Sie dachte kurz nach und setzte dann den Hasen vor das Kopfkissen. „Ich nenne ihn Milo“, verkündete sie. „Dann heißt er fast so wie ich.“

Oliver schmunzelte. „Das ist eine prima Idee“, stimmte er zu. Mila griff nach seiner Hand.

„Ich hab Hunger“, sagte sie. Gemeinsam verließen sie das Zimmer.

*

Annika betrachtete, so unauffällig wie möglich, das kleine Mädchen, das in Zukunft mit ihnen am Tisch sitzen würde. Mila war niedlich, mit ihren halblangen Haaren, die bei entsprechendem Lichteinfall ein wenig ins Rötliche gingen. Sie war auch freundlich und aufgeschlossen und bis jetzt recht artig. Das würde sich wahrscheinlich ändern, wenn sie sich an die neue Situation gewöhnt hatte.

In Annika rebellierte etwas, das sie selbst nicht richtig verstand. Sie wollte das Mädchen nicht hierhaben, und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in Zukunft Mutter für sie zu sein. Das Schlimmste daran war, dass sie es von Anfang an geahnt hatte, und dennoch hatte sie es verpasst, offen mit Oliver darüber zu reden. Er war so freudig gewesen bei dem Gedanken, einem Kind eine Familie zu geben. Solange sie dabei noch auf ein Baby gehofft hatte, hatte sie seine Gefühle teilen können. Doch diese Hoffnung hatte ihr Frau Marquardt vom Sozialen Dienst ja schon beim ersten Gespräch genommen.

Für Oliver machte das Alter des Kindes offenbar keinen Unterschied. Im Gegenteil, er hatte sogar gesagt, dass man mit einem etwas größeren Kind viel mehr unternehmen könne als mit einem Baby.

Als sie das erste Mal ins Kinderheim gefahren waren, hatte sie versucht, sich einzureden, dass er recht hatte, und darauf gehofft, dem Kind die notwendige Zuneigung entgegenbringen zu können. Dann hatten sie Mila kennengelernt, und sie fand sie nett, mehr aber auch nicht. Oliver hingegen war der Kleinen von Anfang an zugetan gewesen, was eindeutig auf Gegenseitigkeit beruhte. Mittlerweile war er regelrecht vernarrt in das Kind. Sie, Annika, hingegen fühlte sich gefangen in einer Situation, die sie nun mittragen sollte, aber so nicht gewollt hatte.

Vorsichtig legte Mila ihren Löffel quer auf den leeren Teller. Um ihren Mund war ein roter Rand von der Tomatensoße, aber ihr Schüsselchen mit Gurkensalat war noch unangerührt.

„Du musst deinen Salat noch essen, Mila“, versuchte sich Annika an sanfter Erziehung. Mila schob ihren Teller beiseite und zog, sehr langsam, die Schüssel mit dem Gurkensalat zu sich. Oliver beobachtete sie.

„Magst du keinen Gurkensalat?“, fragte er. Mila schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht schlimm. Dann esse ich ihn“, sagte er.

Augenblicklich schoss eine kleine Stichflamme der Empörung in Annika hoch. Wie konnte er, gleich am ersten Tag, ihre Anweisung an die Kleine außer Kraft setzen?

„Oliver“, setzte sie an und hörte selbst, wie deutlich der Ärger durch ihre Stimme klang. Ihr Mann sah von seinem Teller auf.

„Ja?“, fragend blickte er sie an.

„Ich finde, Mila sollte den Salat wenigstens probieren“, beharrte sie. Ihr wurde unangenehm warm, während sie sprach. Milas Blick ging ängstlich zwischen ihr und Oliver hin und her. Sekundenlang war es ganz ruhig am Tisch. Plötzlich sprang Mila von ihrem Stuhl auf und lief aus dem Zimmer.

„Mila, du bleibst hier. Wo willst du hin?“, rief Annika. Sekunden darauf klappte eine Tür. Vermutlich die Tür zu Milas Zimmer. Oliver legte sein Besteck beiseite.

„Was soll denn das, Annika?“, fragte er ungehalten. „Sie hat doch gut gegessen. Wenn sie keinen Gurkensalat mag, sollten wir sie nicht zwingen.“

„Ach ja? Bestimmt sie jetzt schon, was auf den Tisch kommt?“ Aufgebracht sah sie ihren Mann an und wusste, noch während sie sprach, dass ihre Reaktion völlig überzogen war. Oliver schüttelte den Kopf.

„Du übertreibst maßlos“, entgegnete er.

„Und du untergräbst jetzt schon, am ersten Tag, meine Autorität.“ Sie versuchte, seinem Blick standzuhalten. „Vitamine sind gesund“, ergänzte sie, und wieder wurde ihr zu warm.

„Annika, bitte. Lass sie doch erst mal ankommen“, bat er. Annika rang um eine Antwort, die ihren Standpunkt verteidigen sollte, doch ihr fiel keine ein. Das Läuten des Telefons aus Olivers Büro zwei Zimmer weiter, unterbrach ihr Gespräch.

„Meine Güte.“ Mit verschränkten Armen lehnte sich Annika im Stuhl zurück. „Das kann doch nur jemand von der Firma sein. Du hast doch Urlaub.“

„Es geht sicher nur um eine Kleinigkeit. Ich bin gleich wieder hier“, antwortete Oliver, stand auf und verließ das Esszimmer.

*

„Herr Benker, hier ist Kretschmar. Entschuldigen Sie, dass ich Sie in Ihrem wohlverdienten Urlaub störe, aber ich habe Neuigkeiten, von denen ich glaube, dass Sie Ihnen gefallen könnten“, drang die Stimme seines Vorgesetzten durch die Leitung, nachdem Oliver sich gemeldet hatte. Er setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches. Egal was Kretschmar ihm mitteilen wollte, für den Augenblick wollte er es nicht wissen. Er wollte zu Mila. Die Kleine war sicher verstört wegen des Disputs am Esstisch. Und mit Annika musste er auch reden. Mila brauchte Zeit, sich einzugewöhnen und Vertrauen zu fassen. Zwar hatte er selbst ebenso wenig Ahnung von Kindererziehung wie seine Frau, doch sein Gefühl sagte ihm, dass Annika eben versuchte einen Weg einzuschlagen, der das Kind verunsicherte. Er konnte nur hoffen, dass sie seine Bedenken verstand.

„… wollen wir Ihnen die Leitung des Projektes in Breitenau übertragen“, hörte er Kretschmar sagen.

„Was?“, fragte Oliver ungläubig.

„Ja! Ist das nicht phantastisch? Damit ist selbstverständlich auch eine entsprechende Gehaltserhöhung verbunden. Natürlich müssen Sie umziehen, ich hoffe sehr, das ist kein Problem. Wenn es Ihnen in der Gegend nicht gefällt, können Sie ja in zwei Jahren wiederkommen, wenn die Umstrukturierung der Niederlassung abgeschlossen ist.“

„Aber Herr Kretschmar“, unterbrach Oliver bestürzt die Pläne seines Chefs. „Ein Umzug ist, zumindest für den Moment, äußerst schwierig.“

„Das verstehe ich, zumal alles so plötzlich kommt. Aber Frau Huber, die sich um den Posten beworben hat und ihn eigentlich auch bekommen sollte, ist schwanger geworden. Sie möchte sich ganz auf ihre zukünftige Rolle als Mutter konzentrieren. Und von daher … Ich weiß, die Leitung des Projekts war nicht Ihr Bestreben. Aber Sie sind der Beste, den ich mir dafür vorstellen kann. Ganz unter uns, ich habe mir ohnehin Sorgen gemacht, ob Frau Huber für die Direktion schon genügend Berufserfahrung mitbringt. Lassen Sie mich nur nicht im Stich. Die Zeit reicht nicht, um jemanden von außerhalb einzustellen und einzuarbeiten.“ Kretschmar redete ohne Punkt und Komma.

„Ich kann jetzt nicht umziehen, Herr Kretschmar“, brachte Oliver sein Problem auf den Punkt.

„Nun, Sie müssen ja nicht gleich morgen nach Breitenau. Frau Huber hatte auch schon ein schönes Haus zur Miete gefunden, ein wenig abseits der Ortschaft, mit viel Natur außen herum und einem schönen Garten. Sie könnten es übernehmen, dann entfällt schon mal die Suche nach einer Unterkunft.“ Herr Kretschmar sprach ein wenig kühler.

„Ich muss darüber nachdenken“, wich Oliver aus. Der Zeitpunkt für diese berufliche Veränderung hätte nicht ungünstiger sein können. Mit der Leitung des Vorhabens waren sicher unzählige Überstunden verbunden, vielleicht sogar Arbeit am Wochenende. Nein, nicht vielleicht. Sehr sicher sogar. Annika war ohnehin schon lange unzufrieden, weil er so viel arbeitete. Und nun, da sie eben erst Mila zu sich geholt hatten … Lieber Himmel. Er musste das Angebot ausschlagen, auch wenn es ihm für Kretschmar leidtat. Er war so enthusiastisch gewesen zu Beginn des Telefonats.

„Herr Benker, ich kann direkt hören wie Sie nachdenken. Und wie Sie überlegen, aus der Sache herauszukommen. Nun, ich bin doch ein wenig enttäuscht. Ich dachte, letzten Endes freuen Sie sich.“

Oliver versuchte zu lachen. Es wollte nicht recht gelingen.

„Es sind private Gründe, die mir eine Zusage im Moment nicht leicht machen“, gab er zu.

„Aber ich bitte Sie. Wenn jemand problematische Angelegenheiten im Griff hat, dann Sie. Nun sind Sie seit fünfzehn Jahren bei uns in der Firma. Geben Sie sich einen Ruck, sagen Sie Ja, und alles Weitere besprechen wir nächste Woche, wenn Sie wieder im Büro sind. Abschließend möchte ich noch auf unseren Zusatzvertrag hinweisen. Sie erinnern sich sicher, auch wenn es schon eine Weile her ist.“

Der Zusatzvertrag. Er hatte im tiefsten Inneren gewusst, dass der Chef darauf hinweisen würde, wenn er nicht kooperierte. Eine schwere Last drückte auf seine Schultern.

„In Ordnung, sprechen wir nächste Woche darüber“, wich er aus.

Oliver blieb auf der Kante des Schreibtisches sitzen, nachdem er aufgelegt hatte. Ihm war klar, dass er nur zwei Möglichkeiten hatte: Entweder er nahm die unerwartete Beförderung an, mit allem, was damit verbunden war wie Umzug und Überstunden, oder er lehnte ab und riskierte im schlimmsten Fall die Kündigung wegen Vertragsbruchs. Oder, und das war noch die wahrscheinlichere Variante, er zog sich dauerhaft die absolute Verärgerung von Kretschmar zu und hatte sich weitere Aufstiegschancen verbaut. Abgesehen davon wusste er, dass Kretschmar recht hatte. Wenn Frau Huber ausfiel und er selbst die Projektleitung ablehnte, gab es niemanden, der sie übernehmen konnte. Schon in sechs Wochen hätten der Umbau und die Umgestaltung des Modehauses ‚Kretschmar-Design’ in Breitenau beginnen sollen. Nur langjährige Mitarbeiter der Firma, die das Geschäft von Grund auf kannten, kamen für den Posten in Frage. Wer von außerhalb eingestellt wurde, brauchte eine intensive und längere Einarbeitungszeit.

„Was ist los?“, hörte er die Stimme seiner Frau und sah hoch. Annika stand im Türrahmen.

„Es gibt Neuigkeiten“, informierte er sie und stand auf. „Ich sehe rasch nach Mila, dann reden wir.“

*

Mila saß in ihrem neuen Kinderzimmer auf dem Boden vor dem Bett und spielte mit ihrem Hasen. Der Hase saß auf dem flauschigen Teppich.

„Du musst alles aufessen“, hörte Oliver das Kind zu dem Stofftier sagen, als er den Raum betrat. Mila sah hoch. Er schloss die Zimmertür hinter sich.