Sophienlust - Die nächste Generation 66 – Familienroman - Simone Aigner - E-Book

Sophienlust - Die nächste Generation 66 – Familienroman E-Book

Simone Aigner

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Beschreibung

Irene lebt seit ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Stuttgarter Wohnung. Mit ihrem Spielzeuggeschäft versucht sie ihre Familie über Wasser zu halten. Dann geschieht es: Irene wird von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Ein fremder Mann ist sofort zur Stelle, der sich als Dr. Klaus Meier vorstellt und ihr seine Hilfe anbietet. Er sorgt auch dafür, dass Luina und Lukas in Sophienlust untergebracht werden, solange Irene im Krankenhaus liegt. Warum aber fühlt sich Klaus eigentlich so stark verpflichtet? Hannah Wenzel lag rücklings auf dem Sofa, den linken Arm hatte sie über die Augen gelegt, um sie vor dem strahlenden Sonnenschein des Junitages zu schützen. Obwohl die warme Luft des Sommers durch die geöffnete Terrassentür ins Wohnzimmer drang, fror sie erbärmlich. Dagegen halfen weder ihre dicke Strickjacke noch die warme Wolldecke, die sie bis zum Kinn gezogen hielt. Auch die Kopfschmerztablette, die sie vor einer knappen Stunde genommen hatte, erfüllte ihren Zweck nicht. Keine Frage, sie war krank. Krank war sie selten, und nun war es gleich richtig schlimm. Sie fürchtete, zu wissen, woher ihr Zustand kam, und schalt sich leichtfertig und bequem. Doch dafür war es zu spät. Sie brauchte einen Arzt. »Mama?«, hörte sie das Stimmchen ihres Sohnes. Sie nahm den Arm von den Augen und blinzelte gegen das Blenden der Sonne an. Sie versuchte, auf dem Sofa aus dem Licht zu rücken, doch das ging nicht. »Hm?«, machte sie, nicht fähig, ein klares Wort zu sprechen. »Machst du mir den Deckel von der Sandkiste weg?«, bat Nico. »Klar«, nuschelte Hannah und setzte sich behutsam auf. Ein Kälteschauer überrann sie, als die Decke von ihr rutschte.

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Sophienlust - Die nächste Generation – 66 –

Gesucht wird: Nicos Vater

Kann Hannah ihren Fehler von damals wieder gutmachen?

Simone Aigner

Hannah Wenzel lag rücklings auf dem Sofa, den linken Arm hatte sie über die Augen gelegt, um sie vor dem strahlenden Sonnenschein des Junitages zu schützen. Obwohl die warme Luft des Sommers durch die geöffnete Terrassentür ins Wohnzimmer drang, fror sie erbärmlich. Dagegen halfen weder ihre dicke Strickjacke noch die warme Wolldecke, die sie bis zum Kinn gezogen hielt. Auch die Kopfschmerztablette, die sie vor einer knappen Stunde genommen hatte, erfüllte ihren Zweck nicht. Keine Frage, sie war krank. Krank war sie selten, und nun war es gleich richtig schlimm. Sie fürchtete, zu wissen, woher ihr Zustand kam, und schalt sich leichtfertig und bequem. Doch dafür war es zu spät. Sie brauchte einen Arzt.

»Mama?«, hörte sie das Stimmchen ihres Sohnes. Sie nahm den Arm von den Augen und blinzelte gegen das Blenden der Sonne an. Sie versuchte, auf dem Sofa aus dem Licht zu rücken, doch das ging nicht.

»Hm?«, machte sie, nicht fähig, ein klares Wort zu sprechen.

»Machst du mir den Deckel von der Sandkiste weg?«, bat Nico.

»Klar«, nuschelte Hannah und setzte sich behutsam auf. Ein Kälteschauer überrann sie, als die Decke von ihr rutschte. Sie spürte schmerzhaft jeden Muskel und jeden Knochen im Körper. Ihre Knie wackelten bei dem Versuch, aufzustehen. Sie stützte sich am Couchtisch ab.

»Mama, bist du immer noch krank?«, erkundigte sich ihr Kleiner. Er hielt seinen Bagger unter dem Arm.

»Ein bisschen bin ich noch krank, Nico«, antwortete sie, und ihre Zähne drohten aufeinanderzuschlagen. Wie sollte sie in der Verfassung den Deckel von der Sandkiste wegbekommen? Sie war ja kaum in der Lage, aufzustehen. Außerdem hatte sie schrecklichen Durst. Vorsichtig setzte sie sich wieder und legte sich mit schwerfälligen Bewegungen die Decke um die Schultern.

»Nico, magst du mir bitte ein Glas Wasser bringen?«, bat sie. »Danach mache ich deine Sandkiste auf.«

Der kleine Junge nickte. Vorsichtig stellte er den Bagger auf den Boden, streifte seine dunkelblauen Crocs ab und lief auf Strümpfen in die Küche. Hannah sah, wie er sich abmühte, ein Glas unter den Wasserhahn zu halten, an den er mit seinen fünf Jahren noch nicht richtig herankam. Im Bad stand ein Schemelchen bereit, um gut ans Waschbecken zu kommen. In der Küche nicht.

Vorsichtig balancierte Nico das gut gefüllte Glas zu ihr, wobei immer wieder etwas Wasser über den Rand schwappte und eine Tropfspur auf dem dunklen Laminat hinterließ.

»Danke, mein Schatz«, murmelte Hannah. Das Glas fühlte sich kalt an und das Wasser noch viel kälter, und obwohl sie solchen Durst hatte, hatte sie Mühe zu trinken. Sie war einfach zu schwach für alles. Ängstlich ruhte der Blick ihres kleinen Jungen auf ihr.

»Mama, wann bist du denn wieder gesund?«, fragte er.

»Bald, mein Schatz.« Sie stellte das Glas auf den Tisch und unternahm einen neuen Versuch, aufzustehen. Für eine Minute die Zähne zusammenbeißen, das musste gehen. Ihr war schwindelig. Sie atmete flach und hoffte, dass sich ihr Kreislauf stabilisierte. Bis zur Terrassentür waren es nur wenige Schritte. Sie musste sich am Türstock abstützen.

Die Sandkiste stand in der prallen Sonne. Das war nicht gut. Sie musste den Sonnenschirm aufstellen, damit der Kleine geschützt war. Mit staksigen Schritten trat sie auf die Terrasse, kam noch bis zum Rasen und spürte, wie ihr die Beine wegknickten.

*

Waltraud Schulz saß mit ihrem Mango-Eistee im Garten unter dem Kirschbaum und war mit ihrer Häkelarbeit beschäftigt. Ein feines, blütenweißes Shirt sollte es werden, mit halbem Arm, ganz leicht und luftig. Das Wollknäuel lag in einem Körbchen, das neben ihrem Liegestuhl im Rasen stand. Die Handarbeit machte ihr Freude und der herrliche Tag auch. Sorgsam strich sie das halb fertige Vorderteil ihres neuen Kleidungsstückes auf ihrem Schoß glatt. Es war bisher alles sehr schön geworden und sah sehr ordentlich aus.

Waltraud wollte eben die Handarbeit wiederaufnehmen, als sie von nebenan den kleinen Nico schreien hörte. Das Geschrei ging ihr durch Mark und Bein. Eilig rappelte sie sich aus ihrem Stuhl in die Höhe und legte das Häkelzeug auf das Polster. Sie eilte zur Ginsterhecke, die am Zaun wuchs, und schob die Zweige auseinander. Nico schrie immer noch. Das Entsetzen fuhr ihr wie ein Hieb in den Magen. Auf dem Rasen lag Hannah Wenzel. Sie schien bewusstlos.

»Frau Wenzel? Hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?«

Hannah blinzelte. Ihr Kopf dröhnte und ihr war so kalt. Mühsam bekam sie die Augen auf. Eine Frau beugte sich über sie.

»Frau Wenzel?«, fragte die Frau noch einmal.

»Hm«, machte Hannah.

»Ich bin Dr. Hartmann. Sie sind bewusstlos geworden. Ihre Nachbarin hat uns verständigt«, sagte die Frau.

Sie war bewusstlos gewesen? Plötzlich schwappte die Erinnerung hoch. Nico! Sie hatte ihm den Sandkasten aufmachen wollen. Wo war ihr Kleiner?

»Nico?«, brachte sie angestrengt hervor.

»Es ist alles gut, Frau Wenzel. Ihr Sohn ist hier, und Ihre Nachbarin ist bei ihm«, sagte Dr. Hartmann. »Sehen Sie mich bitte an«, fuhr sie fort. »Folgen Sie meinem Finger.« Die Ärztin hielt ihr den Zeigefinger vors Gesicht. Hannah bemühte sich, ihrer Aufforderung nachzukommen. Dr. Hartmann kommentierte nicht, ob sie alles richtig gemacht hatte, leuchtete ihr aber anschließend mit einer kleinen Lampe in die Augen. Als ob die Sonne nicht grell genug war. Die Ärztin fühlte ihren Puls.

»Nico«, murmelte Hannah und streckte eine Hand aus. Ihr kleiner Junge schluchzte auf, und plötzlich lag seine kleine Hand in ihrer.

»Mama, du musst aufstehen«, sagte er, von wilden Schluchzern unterbrochen.

»Ja, mein Schatz«, erwiderte Hannah und überlegte, ob sie die Worte ausgesprochen oder nur gedacht hatte.

»Frau Wenzel, wir nehmen Sie jetzt mit in die Klinik«, sagte die Ärztin.

Hannah zwang sich, die Augen zu öffnen. Die Sonne blendete gar nicht mehr. Entweder Dr. Hartmann stand im Licht, oder es schien keine Sonne mehr.

»Das geht nicht. Ich muss bei Nico bleiben. Können Sie mir nicht Medikamente geben? Es kommt bestimmt von der Zecke.« Die Sorge um ihren Jungen gab ihr die Energie, sich zu verständigen. Jetzt erst sah sie, dass außer der Ärztin auch noch zwei Sanitäter in ihrem Garten standen und eine Trage neben ihnen auf dem Rasen lag.

»Sie hatten einen Zeckenbiss?«, fragte Dr. Hartmann.

»Ja, es ist schon ein paar Tage her«, antwortete Hannah.

»Sind Sie gegen FSME geimpft?«

»Nein«, gab Hannah zu, und erneut plagte sie ihr Gewissen. Sie hatte es immer wieder vor sich hergeschoben. Nico war wichtiger, ihre Arbeit als Bibliothekarin, die sie, um Zeit für ihren Sohn zu haben, derzeit nur halbtags ausübte, und letzten Endes ging sie auch nicht gerne zum Arzt, und Spritzen hasste sie sowieso.

»Gut. Wir untersuchen in der Klinik, ob Sie sich durch den Zeckenbiss infiziert haben«, entschied Dr. Hartmann.

»Ich kann nicht in die Klinik. Nico…«, protestierte sie und wusste gleichzeitig, dass sie in ihrem aktuellen Zustand gar nicht für ihn sorgen konnte.

»Frau Wenzel, ich kann mich ein paar Tage um Ihren Kleinen kümmern«, hörte sie ihre Nachbarin sagen. Waltraud Schulz trat in ihr Blickfeld. »Wenn es Ihnen hilft, auch hier bei Ihnen im Haus. Da hat der Junge alles um sich, was er braucht«, schlug sie vor.

»Wirklich?« Dankbar sah sie zu Frau Schulz hoch. Tatsächlich erleichtert war sie nicht. Nico und die Nachbarin kannten sich kaum, doch eine bessere Lösung wusste sie auch nicht, schon gar nicht von einem Moment zum anderen und mit einem Hirn, das ihr kaum gehorchen wollte.

»Sicher«, versprach Waltraud Schulz. Nico weinte ununterbrochen.

»Schätzchen«, wandte Hannah sich an ihren Sohn. »Ich muss mit der Frau Doktor mitfahren, damit ich schnell wieder gesund werde. Frau Schulz passt so lange auf dich auf. Bist du ein großer Junge und zeigst ihr alles? Sie kann im Wohnzimmer auf der Couch schlafen.« Sie sah wieder zu der Nachbarin. »Die kann man ausklappen, dann ist genug Platz.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe drei Enkel. Wir kommen schon zurecht, nicht wahr, Nico?« Nico gab keine Antwort, stattdessen warf er sich auf seine Mutter und klammerte sich an ihr fest. Hannah strich ihm über den Rücken.

»In ein paar Tagen bin ich wieder daheim«, versprach sie und hoffte, sie konnte ihre Zusage einhalten. »Dann machen wir was ganz Schönes.«

»Ich will nix Schönes machen. Ich will, dass du hierbleibst.« Nico weinte immer lauter. Hannah bekam Herzrasen, und obwohl sie noch immer im Garten auf der Wiese lag, wurde ihr plötzlich entsetzlich schwindelig. Die Ärztin sagte etwas und band ihren Oberarm ab. Hannah brach der Schweiß aus. Nahm sie ihr etwa Blut ab? Hier, auf dem Rasen und während Nico zusah? Sie spürte einen Einstich in der Beuge des Ellbogens.

»Ich habe Ihnen einen Zugang gelegt, Frau Wenzel«, sagte Dr. Hartmann. »Sie bekommen jetzt eine Infusion, dann fahren wir in die Klinik.« Ihre Stimme kam von weit her, und Hannah glitt in gnädige Dunkelheit.

*

Nico saß auf dem Sofa, seinen sandigen Bagger neben sich, und konnte nicht aufhören zu weinen. Die Doktor-Frau hatte die Mama mithilfe von zwei Männern, die einen roten Anzug mit dicken silbernen Streifen getragen hatten, auf eine Liege gelegt, die man an zwei Stecken tragen konnte, und mitgenommen. Jetzt war er ganz alleine mit der Nachbarin, und er wusste auch gar nicht, wann die Mama wiederkam. Falls sie überhaupt wiederkam. Er wollte nicht mehr im Sandkasten spielen, er wollte auch keine Saftschorle und nichts zu essen, obwohl er schon ein bisschen Hunger hatte. Die Nachbarin saß auf Mamas Sessel und bot ihm ganz viel an, was er machen konnte. Zum Beispiel, der Mama ein Bild malen, damit sie sich freute, wenn er sie im Krankenhaus besuchen durfte. Er wusste doch gar nicht, wie er ins Krankenhaus kommen sollte. Vielleicht musste er dazu auch krank werden? Es war alles ganz schrecklich.

»Nico, mein Kleiner«, begann die Nachbarin wieder zu reden. Er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Und ›ihr Kleiner‹ war er auch nicht, er war Mamas Kleiner. »Wir müssen rüber in mein Haus. Dort steht die Terrassentür offen, und ich brauche ein paar Sachen, damit ich hier übernachten kann. Du musst mitkommen, ich kann dich nicht alleine lassen. Und wenn wir wieder hier sind, koche ich dir Nudeln mit Tomatensoße. Magst du das?«

Nico warf sich rücklings aufs Sofa und strampelte verzweifelt mit den Beinen. Ja, er mochte Nudeln mit Tomatensoße ganz doll, aber nur die von Mama und manchmal die von Therese, die mit ihnen im Kindergarten spielte, bastelte und sang und eben manchmal auch kochte. Aber nicht die von der Nachbarin.

Plötzlich stand die Nachbarin neben ihm. Sie sah ein bisschen traurig aus, und Nico hörte auf zu strampeln.

»Es tut mir wirklich leid, Nico, dass deine Mama krank geworden ist und die Ärztin sie mitnehmen musste. Ich verstehe auch, dass du wütend und unglücklich bist, und wahrscheinlich findest du es auch doof, dass ich jetzt hier bin.«

Nico schniefte und gab keine Antwort.

»Meinst du, du kannst mir helfen, dass wir ein paar Tage miteinander zurechtkommen? Ich kenne mich ja bei euch gar nicht aus. Wenn du zum Beispiel Hunger hast, weiß ich nicht einmal, wo ich einen Kochtopf finde«, fuhr sie fort.

Nico rieb sich mit dem Ärmel über die Augen. Die brannten jetzt ziemlich, und seine Nase war irgendwie zu, sodass er durch den Mund atmen musste.

»In der Küche«, sagte er und merkte, dass auch seine Stimme heiser klang. »Da«, ergänzte er und zeigte quer durchs Wohnzimmer.

»Und wo da?«, fragte die Nachbarin. Er überlegte, wie sie hieß. Es fiel ihm nicht ein.

»Unten im Schrank«, gab er Auskunft und setzte sich. Auf dem Sofa waren viele Sandkrümel. Die kamen von seinem Bagger. Das würde die Mama ärgern. Aber er wusste, wo der Staubsauger stand. Damit konnte man sie wegmachen.

»Zeigst du es mir?«, fragte die Nachbarin. Er nickte. Er würde ihr den Kochtopf zeigen, und sie konnte ihm helfen, den Staubsauger aus der Putzkammer zu holen. Das konnte er nämlich nicht alleine, weil die zugesperrt war und der Schlüssel an einem Nagel hing, ganz oben neben dem Türrahmen. Das war wegen der Putzmittel, die in der Kammer standen. Die Mama hatte immer ein bisschen Angst, er könnte mal damit spielen. Dabei wollte er das gar nicht, und außerdem war er schon recht groß und wusste, dass Putzmittel manchmal scharf und ein bisschen gefährlich waren, wenn man nicht gut aufpasste. Er passte aber gut auf.

»Holst du mir dann den Staubsauger?«, fragte er und schniefte noch einmal.

»Mach ich«, sagte die Nachbarin und betrachtete die Sandkrümel. Wenigstens schimpfte sie nicht. Nico rutschte vom Sofa und trottete in die Küche.

»Da drin ist der Topf«, sagte er und zeigte auf einen der unteren Schränke.

»Habt ihr denn auch Nudeln? Und Tomaten?«, fragte die Nachbarin.

»Nudeln sind da oben.« Er zeigte in das offene Küchenregal. »Aber Tomaten haben wir nicht. Du kannst ein Soßenglas aufmachen. Das steht da«, erklärte er und fühlte sich ein ganz kleines bisschen besser. Er wusste ziemlich viel.

»Gut. Hast du Lust, mit mir einkaufen zu gehen?«

»Nö«, entfuhr es ihm, und er verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nicht?«, fragte die Nachbarin. Sie klang so, als würde sie jetzt darauf bestehen, dass er mitkam. Nico zog die Nase kraus. Er ging nicht gern einkaufen. Außerdem waren genug Nudeln mit Soße da. Aber als er vor ein paar Tagen mit Mama in dem Einkaufsgeschäft gewesen war, hatte ihm die Kassiererin einen Lutscher geschenkt, der ausgesehen hatte wie ein Fußball, mit einem grünen Rand. Er hatte sehr lecker nach Apfel geschmeckt. Sie hatte ein ganzes Glas voll mit diesen Lutschern neben ihrer Kasse stehen gehabt. Vielleicht bekam er noch mal einen, wenn er mitging.

»Na gut«, rang er sich zu einer Zusage durch. Vielleicht wusste die Nachbarin ja auch nicht, wo der Einkaufsladen war. Es war nicht weit, nur ein bisschen die Straße runter und dann rechts. Dann waren sie schon da.

»Schön. Dann gehen wir jetzt zu mir rüber, und ich hole meinen Geldbeutel und ein paar Sachen für heute Nacht, und dann gehen wir einkaufen«, entschied die Nachbar-Frau. Nico gab keine Antwort. Ihm war plötzlich wieder eingefallen, dass er heute ohne die Mama schlafen gehen musste und dass stattdessen die Frau hierblieb. Und jetzt war ihm wieder nach Weinen, und einen Fußball-Lutscher wollte er auch nicht mehr.

*

Waltraud Schulz trug ihre volle Einkaufstasche über dem Arm. Besorgt betrachtete sie den kleinen Jungen, der mit gesenktem Kopf neben ihr hertrottete. Er tat ihr schrecklich leid. Seine Welt war aus den Fugen, von einem Moment zum anderen. Sie hatte vorhin Hannah Wenzel noch fragen wollen, ob sie jemanden verständigen sollte. Den Vater des Jungen zum Beispiel. Doch dann hatte sie sich gedacht, dass Hannah das vielleicht selbst übernehmen wollte. Sie war ja wieder bei Bewusstsein gewesen und gut ansprechbar. Gab es denn im Umfeld der kleinen Familie niemanden, der dem Kleinen vertrauter war als sie? Hannah und Nico Wenzel wohnten seit etwa drei Jahren neben ihr, und in der ganzen Zeit hatte sie kaum je Besuch drüben gesehen und auch keinen Mann, der der Vater hätte sein können.

Sie würde jetzt erst einmal etwas für den Jungen kochen. Eine schöne frische Tomatensoße mit Basilikum sollte es zu den Nudeln geben, nicht so ein Fertigzeug. Es würde ihm sicher schmecken. Ihre Enkelkinder, die leider im weit entfernten Hamburg wohnten, mochten diese Soße sehr gern. Als Nachtisch hatte sie eine Packung Vanilleeis besorgt. Nico hatte unbedingt einen Fußball-Lutscher gewollt. Leider hatte sie im ganzen Laden keinen gefunden, und an der Kasse hatte ein junger Mann gesessen, der ihnen auch nicht weiterhelfen konnte.

Waltraud Schulz schloss mit Hannahs Schlüssel deren Haus auf und trug als Erstes die Einkäufe in die Küche. Das Eis musste ins Gefrierfach.

»Nico?«, rief sie. »Magst du mir helfen, die Tomaten zu schneiden?« Dafür war er alt genug, entschied sie, und irgendwie musste sie ihn ja beschäftigen. Es kam keine Antwort.

Waltraud stellte den Kochtopf, den sie eben aus dem Schrank geholt hatte, auf die Arbeitsfläche und ging in den Flur. Dort hockte der kleine Junge auf dem Boden, seine Sandalen noch an den Füßen, und guckte niedergeschlagen ins Leere. Waltraud ging die Knie.

»Was ist denn, Nico?«, fragte sie sanft. »Ist es wegen deiner Mama, oder quält dich noch mehr?« Nico zog die Beine an den Bauch und legte den Kopf darauf, sodass sie ihm nicht mehr ins Gesicht sehen konnte.

»Die Mama soll wiederkommen«, flüsterte er.

»Ich kann dich ja verstehen, kleiner Mann«, erwiderte Waltraud und strich ihm über den Arm. »Aber Gesundwerden dauert manchmal ein bisschen. Willst du mir bis dahin in der Küche helfen?« Nico schüttelte den Kopf, ohne hochzusehen.

»Möchtest du stattdessen das Sofa absaugen?«, fragte sie. Damit kam er wahrscheinlich nicht zurecht, und sie musste ihm helfen, falls er das zuließ. Nico schüttelte den Kopf und drückte noch immer das Gesicht auf die Knie. Waltraud war ratlos. Sie konnte ihn doch nicht im Flur sitzen lassen.

»Schaltet dir die Mama manchmal den Fernseher an?«, fragte sie und warf in ihrer Hilflosigkeit ihre pädagogischen Grundsätze über den Haufen.

»Hm«, machte Nico.

»Und was guckst du dann an?«

»Der kleine Rabe Socke«, nuschelte Nico.

»Okay, aber wir müssen erst in der Zeitung nachsehen, wann der drankommt«, gab Waltraud zu bedenken. Hoffentlich gab es eine Fernsehzeitschrift im Haus. Wenn nicht, musste sie wieder nach nebenan, und das gab neue Verhandlungen mit dem Jungen.

»Der kommt doch nicht in der Zeitung.« Jetzt sah Nico hoch. Seine Haare waren verstrubbelt, und in seinem kleinen Gesicht stand der ganze Kummer, den er empfand, gepaart mit ungläubigem Vorwurf, weil sie offenbar etwas nicht wusste, das für ihn selbstverständlich war.

»Der ist auf einer DVD«, erläuterte er. »Und die liegt im Schrank.«

»Ach so.« Kurz war sie so erleichtert, dass sie fast gelacht hätte. »Möchtest du den Film sehen, während ich koche?«, fragte sie.

»Na gut«, murmelte Nico, stand auf und tappte ins Wohnzimmer. Er hatte noch immer seine Sandalen an. Egal. Für die Erziehung war sie nicht wirklich zuständig. Nico kramte in einem Fach des Fernsehschranks und hielt ihr gleich darauf eine DVD entgegen.

»Einlegen musst du sie. Das kann ich nicht«, informierte er sie. Waltraud betrachtete die Hülle der DVD. Der Film dauerte über eine Stunde. Viel zu lange für so ein kleines Kind, wie sie fand. Nun gut. In Ausnahmesituationen musste man sich auf Kompromisse einlassen. Wobei sie sich nicht vorstellen konnte, dass Hannah Wenzel den Film nach der Hälfte der Zeit stoppte, damit Nico erst am nächsten Tag weiter sah. Aber das war nicht ihre Verantwortung.

*

Eigentlich mochte er den Film mit dem Raben Socke voll gerne. Aber heute machte es Nico gar keinen Spaß, zuzusehen. Die Sandkrümel hatte die Nachbar-Frau weggesaugt. Der dumme Sauger hatte sich am Polster festgehalten und gar nicht ziehen lassen. Dann hatte er keine Lust mehr gehabt. Und sie hatte gesagt, er sollte sie Oma Traudl nennen. Das fand er eigentlich ganz lustig, eine Oma hatte er nämlich nicht. Der Bagger stand jetzt auf der Terrasse.

Oma Traudl sah zu ihm.

»Das Essen ist fertig, Nico. Wir unterbrechen jetzt deinen Film, damit die Nudeln nicht kalt werden. Danach habe ich noch was zu naschen für dich, und dann darfst du die DVD zu Ende sehen«, sagte sie. Nico nickte. Hunger hatte er schon. Was zu Naschen hörte sich auch nicht schlecht an. Und der Film war ihm heute sowieso egal.

*