Heimweh im Herzen - Gert Rothberg - E-Book

Heimweh im Herzen E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Da hat man dich mal wieder ganz schön angeschwindelt.« Ruhig hielt Nick dem Papagei Habakuk einige Nüsse hin. Er beobachtete interessiert, wie geschickt der große bunte Vogel sie abnahm. Der siebenjährige Henrik hatte keinen Blick für seinen gefiederten Freund. »Das ist nicht wahr!«, prustete er empört. »Heinz schwindelt nie! Er ist ein ganz prima Kerl!« Breitbeinig stellte sich Henrik vor seinen großen Bruder und schaute ihn herausfordernd an. Nick, der hübsche Junge mit dem blauschwarzen Haar und den dunklen, ausdrucksvollen Augen, war schon fünfzehn und fühlte sich dem ›Kleinen‹ haushoch überlegen. Henriks Entrüstung amüsierte ihn nur. Mit einer Mischung von Wohlwollen und bewusster Ruhe sah er auf ihn herab. »Schau doch einmal aus dem Fenster. Es liegt Schnee wie seit Jahren nicht mehr. Überall hängen Eiszapfen,und der See ist zugefroren. Wir haben untertags minus zehn Grad und nachts fast zwanzig! Bei diesen Temperaturen kann doch niemand in einem Gartenhäuschen leben, in dem es noch nicht einmal einen Ofen gibt.« Dominik, der allgemein nur Nick gerufen wurde, schüttelte den Kopf. Henrik blickte flüchtig durch die riesigen Scheiben des Wintergartens. Eigentlich musste er seinem großen Bruder recht geben.

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Sophienlust Extra – 19 –

Heimweh im Herzen

… trotzdem wollte Heinz nicht nach Hause zurück

Gert Rothberg

»Da hat man dich mal wieder ganz schön angeschwindelt.« Ruhig hielt Nick dem Papagei Habakuk einige Nüsse hin. Er beobachtete interessiert, wie geschickt der große bunte Vogel sie abnahm.

Der siebenjährige Henrik hatte keinen Blick für seinen gefiederten Freund. »Das ist nicht wahr!«, prustete er empört. »Heinz schwindelt nie! Er ist ein ganz prima Kerl!« Breitbeinig stellte sich Henrik vor seinen großen Bruder und schaute ihn herausfordernd an.

Nick, der hübsche Junge mit dem blauschwarzen Haar und den dunklen, ausdrucksvollen Augen, war schon fünfzehn und fühlte sich dem ›Kleinen‹ haushoch überlegen. Henriks Entrüstung amüsierte ihn nur. Mit einer Mischung von Wohlwollen und bewusster Ruhe sah er auf ihn herab.

»Schau doch einmal aus dem Fenster. Es liegt Schnee wie seit Jahren nicht mehr. Überall hängen Eiszapfen,und der See ist zugefroren. Wir haben untertags minus zehn Grad und nachts fast zwanzig! Bei diesen Temperaturen kann doch niemand in einem Gartenhäuschen leben, in dem es noch nicht einmal einen Ofen gibt.« Dominik, der allgemein nur Nick gerufen wurde, schüttelte den Kopf.

Henrik blickte flüchtig durch die riesigen Scheiben des Wintergartens. Eigentlich musste er seinem großen Bruder recht geben. Es war abscheulich kalt draußen.

»Aber Heinz tut es trotzdem«, beharrte er. »Er lebt jetzt ganz allein … wie … wie ein erwachsener Mann.« Henrik konnte nicht verhehlen, dass ihm das Verhalten seines Schulfreundes ungemein imponierte. Er war in einem Alter, in dem kleine Jungen davon träumten, spannende Abenteuer zu bestehen und als siegreicher Held gefeiert zu werden.

»Wissen denn seine Eltern davon?«, fragte Nick.

»Eltern?« Henrik wurde ein wenig unsicher. »Heinz hat nur eine Mutti. Sein Vati hat sich von ihnen getrennt …« Der Junge, der wohl spürte, dass die Familienverhältnisse seines Schulfreundes nicht ganz in Ordnung waren, versuchte diesen Eindruck rasch zu verwischen. »Ich finde es jedenfalls ganz prima von Heinz, dass er allein bleibt. Er hat überhaupt keine Angst. Nicht vor Dieben und nicht vor wilden Tieren. Auch nicht nachts, wenn es dunkel ist.« Henriks Augen leuchteten begeistert auf. Er war in diesem Augenblick seinem älteren Bruder sehr ähnlich.

Nick, der gerade über die glänzenden Federn des Papageis strich, wurde hellhörig. Sollte an dem Bericht seines Bruders doch etwas Wahres sein?, fragte er sich.

Habakuk krächzte leise. Es war ein Zeichen vollster Zufriedenheit. Fast klang es wie das behagliche Schnurren eines Kätzchens.

»Ein Siebenjähriger allein in einem Gartenhaus! Das ist doch Quatsch! Woher soll er denn etwas zu essen bekommen?«

Das wusste Henrik auch nicht. Aber er war fest entschlossen, seinen Schulfreund gegen jeden Angriff zu verteidigen. Deshalb entgegnete er: »Heinz weiß das schon. Er ist nämlich ganz schlau und ganz mutig.«

Henrik ärgerte sich jetzt darüber, dass er Nick gegenüber diese Geschichte überhaupt erwähnt hatte. Nick nahm ihn eben nie ernst. Dabei hatte er geglaubt, dass auch ihm das Verhalten seines Schulfreundes imponieren würde. Doch wieder einmal hatte er sich verrechnet.

»Wenn es wirklich wahr ist, müssten wir mit Mutti darüber sprechen«, meinte der große dunkelhaarige Junge nun.

Henrik schnellte herum. »Auf keinen Fall. Ich habe Heinz doch versprochen, dass niemand davon erfährt. Er hat es nur mir anvertraut. Nicht einmal seine Mutti weiß davon.«

»Gerade deshalb«, meinte Dominik unbeeindruckt. »Er wird nämlich verhungern und erfrieren, wenn sich niemand um ihn kümmert.«

Henrik machte große, erschrockene Augen. »Meinst du wirklich?«, fragte er zaghaft.

Der Ältere nickte ernst.

»Nick guuut!«, krächzte der Papagei, der fast alle Kinder von Sophienlust mit Namen kannte. »Nick mmehr! Nick, Nick!«

Der kluge Vogel wollte weitere Nüsse bekommen. Doch keines der beiden Kinder beachtete ihn jetzt. Dominik und Henrik, die sich eben noch angriffslustig gegenübergestanden hatten, waren plötzlich ein Herz und eine Seele. Wenn es um ein Kind ging, das in Gefahr war, hielt man in Sophienlust fest zusammen. Da versuchten auch schon die Kleinsten zu helfen.

»Aber ich habe doch Heinz mein Ehrenwort gegeben«, wandte Henrik noch einmal kläglich ein. »Ein Ehrenwort darf man doch nicht brechen, hat Vati gesagt …«

»In diesem Fall darf man es«, warf Nick im Brustton der Überzeugung ein. »Du hilfst ja Heinz damit. Komm, wir erzählen Mutti alles. Sie weiß bestimmt, was man tun kann.«

Henrik atmete erleichtert auf. »Ja, Mutti tut immer das Richtige.«

Nick nahm den Kleinen an der Hand und zog ihn hinter sich her. dass Henrik nur sein Halbbruder war, daran dachte schon lange niemand mehr. Die Schoeneckers waren eine fröhliche, glückliche Familie. Eine Familie, die sich fremdem Leid nicht verschloss. Hier hatte man ein Herz auch für andere.

*

Erstaunt schaute Denise von Schoenecker von den Abrechnungen auf, als sich Nick und Henrik leise in das kleine Büro von Sophienlust schoben. Die beiden Jungen, die sonst so unterschiedliche Interessen hatten, friedlich beisammen zu sehen, überraschte sie ein wenig. Aber sie ließ es sich nicht anmerken. Das freundliche, gütige Lächeln, das alle Kinder so sehr an ihr mochten, verschönte auch jetzt ihr apartes Gesicht. Stolz schaute sie auf ihre beiden Söhne. Sie hatte Nick und Henrik von Herzen lieb. Aber sie liebte auch Sascha und Andrea, die bereits erwachsenen Kinder aus der ersten Ehe ihres Mannes. Und sie liebte all die kleinen Buben und Mädchen, die auf Sophienlust eine zweite Heimat gefunden hatten. Denise von Schoenecker war glücklich über ihre große Familie. Nie wurde sie ungeduldig, nie seufzte sie über die viele Arbeit. Sie war der ruhende Pol dieser großen, glücklichen Gemeinschaft.

»Bei dieser Kälte kann doch ein siebenjähriger Junge nicht allein in einem Gartenhaus leben! Was meinst du, Mutti?«, begann Nick aufgeregt.

»Mutti, meinst du, dass Heinz erfriert?«, erkundigte sich Henrik. Tränen glänzten in seinen dunklen Augen.

»Heinz Meinrath ist Henriks Schulfreund«, erläuterte Nick, noch bevor Denise etwas fragen konnte.

Die jugendliche Frau legte liebevoll den Arm um ihren Jüngsten, der sich hilfesuchend an sie drückte.

»Heinz möchte also in einem Gartenhaus wohnen?«, fragte sie sachlich. »Das werden ihm seine Eltern schon ausreden.«

»Das ist es ja gerade«, entgegnete Nick lebhaft. »Seine Eltern wissen es gar nicht. Sie leben getrennt. Heinz war bisher bei seiner Mutter. Aber er hat ihr von seinem Vorhaben nichts gesagt.«

»Ist das wahr?« Forschend schaute Denise auf Henrik. In seinem Alter neigten Jungen manchmal dazu, die Dinge zu übertreiben.

Der Kleine nickte zerknirscht. »Ist es schlimm, Mutti, dass ich jetzt mein Ehrenwort gebrochen habe?«

»Nein, Henrik. Denn du vermeidest damit, dass deinem Schulfreund etwas zustößt. Er könnte tatsächlich erfrieren, da draußen.«

»Nicht wahr, wir müssen ihm helfen?«, fragte Nick stolz. Er fühlte sich bereits ein wenig als Retter des kleinen Heinz. Schon manches Kind hatte er durch seine Aufmerksamkeit vor Schaden bewahrt. Von Dank wollte er nie etwas wissen. Im Familienkreis war das allerdings anders. Da ließ er sich gern als kleiner Held feiern.

»Du darfst ihm aber nicht sagen, dass ich euch alles erzählt habe«, jammerte Henrik. »Kannst du nicht ganz zufällig zu ihm gehen?« Die dunklen Kinderaugen flehten die Mutter an.

Beruhigend strich Denise über den Schopf ihres Jüngsten. »Natürlich kann ich das. Kennst du denn die Adresse?«

»Dann darf ich gar nicht mit?«, erkundigte sich Nick enttäuscht.

»Wir wollen Heinz ja nicht erschrecken«, meinte die hübsche Frau in ihrer sanften Art.

Das besänftigte die Kinder sofort.

»Erzählst du auch wirklich nichts von mir?«, erkundigte sich Henrik noch einmal vorsichtig.

»Nichts. Das verspreche ich dir.«

Henrik nickte zufrieden. Seiner Mutti konnte er voll und ganz vertrauen. Das wusste er. Bereitwillig verriet er jetzt die Anschrift der Laubenkolonie.

»Es ist Häuschen Nummer siebenundvierzig. Glaubst du, dass du es findest, Mutti?«

»Vielleicht sollte ich doch lieber mitkommen«, erbot sich Nick rasch. Noch einmal sah er eine Chance, einen aufregenden Nachmittag erleben zu können.

Aber Denise von Schoenecker schüttelte konsequent den Kopf. »Ich glaube, dass du für die Schule zu lernen hast, Nick«, meinte sie mit einem verständnisvollen Blinzeln. Sie kannte ihren Nick nur zu gut und wusste, dass ihn seine vielseitigen Interessen nie lange über den Büchern hielten. Wenn er trotzdem ein recht guter Schüler war, so verdankte er das seiner Intelligenz und seiner schnellen Auffassungsgabe.

Nick hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Er war keck, manchmal sogar neugierig, aber er war auch seelengut.

Mit einer Geduld, wie sie kaum ein anderer Junge seines Alters aufgebracht hätte, widmete er sich oft den Kleinen von Sophienlust. Hätte ihn Urgroßmutter Sophie von Wellentin, die ihm diesen schönen Besitz vererbt hatte, sehen können, sie hätte sicher ihre helle Freude an dem Jungen gehabt.

»Danke, Mutti«, flüsterte Henrik an Denises Seite. Voll scheuer Zärtlichkeit drückte er einen feuchten Kuss auf ihre Wange.

*

Unauffällig rückte Florian Meinrath an seiner Krawatte, als Ellen Bodendorf das Amtszimmer betrat. Er hatte dieses junge Mädchen vor drei Jahren kennengelernt. Als blasses, verängstigtes Geschöpf hatte er es in Erinnerung. Doch diese drei Jahre hatten es verändert. Ellen Bodendorf war zu einer jungen Frau von ungewöhnlicher Schönheit erblüht. Gewandt und selbstbewusst war ihr Auftreten, groß und überaus schlank ihre Erscheinung. Sie war der Typ des selbstsicheren, modernen Mädchens, das mit der größten Selbstverständlichkeit Hosen mit breiten Gürteln trug und darin auch noch besonders weiblich und anziehend aussah. Ellens Haar war lang, glatt und von einem wundervollen Braun. Der Mittelscheitel ließ ihr schmales Gesicht noch zarter und reizvoller erscheinen. Was aber Florian Meinrath sofort verwirrte, das waren die wundervoll klaren grünen Augen des jungen Mädchens. Sie erinnerten an einen stillen, unergründlich tiefen Bergsee.

»Ich habe eine Vorladung«, begann Ellen Bodendorf mit glockenreiner Stimme. Sie war gewohnt, dass man ihr bewundernd nachschaute. Doch gerade hier, in dem nüchternen Büro des Vormundschaftsgerichts, hatte sie keine derartigen Regungen erwartet. Sie fühlte darüber weder Freude noch Genugtuung. Nur Verwunderung.

Florian Meinrath, der bemerkte, dass seine unverhohlene Bewunderung Ellen Bodendorf nicht verborgen geblieben war, ärgerte sich über sich selbst. Schließlich war er vierzehn Jahre älter als dieses Mädchen und hätte sich besser beherrschen müssen. Rasch nahm er die Akten Bodendorf zur Hand.

»Ich habe Sie hergebeten«, begann er, nachdem er Ellen durch eine Handbewegung den Besucherstuhl angeboten hatte, »weil etwas geschehen ist, was ich Ihnen lieber persönlich mitteilen möchte.«

»Es geht um mein Kind?«, fragte Ellen Bodendorf jetzt. Ihre klangvolle Stimme schwankte. Verlegen schlug sie die Augen nieder. »Ist ihm etwas zugestoßen?« Sie flüsterte nur noch.

In diesem Moment erinnerte die Besucherin Florian Meinrath wieder an das verzweifelte junge Mädchen von früher. Auf der Entbindungsstation hatte er Ellen Bodendorf vor drei Jahren besucht. Sie hatte ihm leid getan, denn sie war so durcheinander, so verwirrt und so ratlos gewesen.

Florian Meinrath hatte die Beamtenlaufbahn eingeschlagen, weil es seine Eltern so gewünscht hatten. Doch schon oft hatte er seinen Beruf verwünscht. Er konfrontierte ihn mit so viel menschlichem Elend, Hartherzigkeit und Egoismus, dass er sich von diesen Eindrücken auch nach Feierabend nicht befreien konnte. Oft benutzte er seine Freizeit dazu, Kinderschicksale zu klären, Eltern und Kinder einander näherzubringen oder uneinsichtige Großeltern oder Verwandte umzustimmen.

Auch im Fall Ellen Bodendorf tat Heinz Meinrath mehr, als es seine Pflicht war. Er zog ein persönliches Gespräch der nüchternen Aktennotiz vor. Für ihn war auch dieser Fall mehr als eine Akte, die bearbeitet werden musste. Für ihn war es das Schicksal eines sympathischen jungen Mädchens und eines unschuldigen Kindes.

»Ihrem Kleinen geht es gut«, meinte er tröstend. »Ich habe Sie kommen lassen, weil durch eine traurige Begebenheit eine grundlegende Änderung eingetreten ist.«

Ellen wurde blass. Sie war achtzehn Jahre alt gewesen, als ihr Kind zur Welt gekommen war, jung und unerfahren, verzweifelt und allein. Damals hatte sie ihr Kind zur Adoption freigegeben. Sie hatte eine Verzichtsurkunde unterschrieben, die nach einem Jahr rechtsgültig geworden war. Eine Verzichtsurkunde, die besagte, dass sie alle Rechte an ihrem Kind abtrete, dass sie bewusst darauf verzichte, jemals wieder etwas von ihrem Kind zu erfahren.

Inzwischen hatte sie diesen Schritt längst bitter bereut. Sie hatte Florian Meinrath schon oft angefleht, ihr Kind wenigstens einmal sehen zu dürfen. Vergeblich. Da waren die Bestimmungen, die sich nicht umgehen ließen. Bestimmungen, die Kind und Pflegeeltern schützten, die aber gegen die junge Mutter unbarmherzig waren.

Ellen Bodendorf wurde es abwechselnd kalt und heiß. Ihre schmalen, gepflegten Hände zitterten leicht. Schmerzlich zuckten ihre Lippen. Gab es noch eine Hoffnung? Eine winzige Hoffnung für sie? Groß und fragend richteten sich ihre wundervollen grünen Augen auf den Mann hinter dem Schreibtisch. Es war, als wollte sie jedes Wort von seinem Mund ablesen.

»Die Pflegemutter ihres kleinen Sohnes ist tödlich verunglückt«, sagte Florian Meinrath leise. »Der Mann möchte nun von der Adoption zurücktreten, da er für längere Zeit ins Ausland geht.«

»Dann … dann ist mein Kind frei?« Ellen Bodendorf konnte es nicht fassen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, jenen unseligen Schritt rückgängig machen zu können. Wie oft hatte sie die Stunde verflucht, in der sie jene verhängnisvolle Unterschrift geleistet hatte. Gab ihr das Schicksal jetzt die Chance, alles wiedergutzumachen? Sie konnte nicht daran glauben. Eine hektische Röte stieg in ihre zarten Wangen.

Ungewöhnlich reizvoll, jung und schutzbedürftig sah Ellen Bodendorf in dieser Minute aus. Florian Meinrath bemerkte es sofort. Sein Herz schlug rascher. Es rührte sich etwas in ihm, woran er eigentlich schon lange nicht mehr glaubte. Die Liebe? Die Liebe zu diesem schönen jungen Geschöpf, das ein so schweres Schicksal hatte?

Es kostete Florian Meinrath einige Mühe, diese Gedanken zu unterdrücken. »Claudio ist frei«, wiederholte er mit leisem Triumph in der Stimme.

»Claudio …« Voll Zärtlichkeit sprach Ellen den Namen ihres Söhnchens zum ersten Mal aus. Sie hatte ihn bisher nicht gekannt. Es klang, als hätte sie ein liebevolles Kosewort ausgesprochen.

In diesem Augenblick erkannte Florian Meinrath, dass Ellen Bodendorf nicht nur eine ungewöhnlich hübsche junge Frau, sondern auch eine zärtliche Mutter war. Ihre Reue war nicht gespielt. Sie war echt und aufrichtig.

»Die Pflegemutter hat ihm diesen Namen gegeben«, erklärte er bewusst sachlich. »Soviel ich weiß, hatte sie italienische Vorfahren.«

»Ich finde den Namen sehr hübsch. Claudio«, wiederholte Ellen verträumt.

»Es besteht also jetzt für Sie die Möglichkeit, das Kind zu sich zu nehmen. Die Formalitäten erledige ich für Sie.«

Ellen Bodendorf bebte vor Freude. Ihre schönen Augen strahlten, ihr hübscher Mund lachte. Sie faltete die Hände, als wollte sie ein inniges Dankgebet zum Himmel schicken.

»Mein Gott, wie schön! Ich hatte schon nicht mehr zu hoffen gewagt. Ich hatte gedacht, dass ich mir ewig würde Vorwürfe machen müssen. Dass ich nie mehr richtig froh werden könnte …« Doch plötzlich wurde Ellen wieder ernst. »Meine Eltern …«, flüsterte sie wie im Selbstgespräch. »Sie wissen ja noch gar nichts. Sie hätten nie Verständnis dafür. Ein uneheliches Kind ist für sie eine Schande, eine Sünde.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Florian Meinrath erinnerte sich, dass dieses junge Mädchen vor drei Jahren aus Furcht vor den strengen Eltern ihr Kind zur Adoption freigegeben hatte. Ellens Vater war Konsul, ein reicher, einflussreicher Mann mit starren, unbeugsamen Ansichten. Die Mutter, auch das wusste der Beamte aus den Erzählungen seiner Besucherin, teilte seine Ansichten rückhaltlos. Sie war eine gütige, wohltätige Frau, doch ihre moralischen Grundsätze waren hart. So hart, dass sie mit Sicherheit auch ihrem einzigen Kind gegenüber keine Ausnahme gemacht hätte.

Ellen Bodendorf sah sich hilfesuchend um. Würde sich jetzt dasselbe Drama noch einmal wiederholen? Würde sie aus Furcht vor den Eltern wieder etwas tun, was gegen ihre eigene Einstellung war und was sie später tief bereuen würde?

»Meine Eltern werden mir diesen Fehltritt nie verzeihen. Ich dürfte nie mehr nach Hause kommen«, flüsterte sie unter Tränen. »Trotzdem hab ich sie beide gern. Ich bin gern zu Hause. Wir haben eine so nette Gemeinschaft. Nur in diesem Punkt lassen meine Eltern nicht mit sich reden. Sie sind der Meinung, dass ein Mädchen unberührt in die Ehe gehen muss. So haben sie mich erzogen, und das erwarten sie von mir. Ich kann sie doch nicht so schrecklich enttäuschen …« Ellen seufzte tief.

Florian Meinrath fühlte sich noch mehr als zuvor zu dem hübschen Mädchen hingezogen. Wie gern hätte er es in die Arme genommen, wie gern hätte er Ellen getröstet. Sekundenlang dachte er daran, wie es sein würde, wenn er die Wärme ihres jungen, schlanken Körpers spüren würde. Doch sofort schalt er sich töricht. Er sah wohl gut aus und wurde stets bedeutend jünger geschätzt, als er wirklich war, aber noch war er verheiratet. Auch wenn er nun schon ein halbes Jahr von Eva, seiner Frau, und Heinz, seinem Söhnchen, getrennt lebte, so war er doch noch an die beiden gebunden.

»Im Interesse des Kindes«, sagte er leise, »wäre es natürlich das Beste, Sie könnten den Kleinen zu sich nehmen.« Doch dabei dachte er, dass es wahrscheinlich nur eine einzige Lösung des Problems gab: Ellen musste heiraten. Dann würden sie und ihr Mann den kleinen Claudio adoptieren können, und die strengen Eltern würden dagegen nicht einschreiten können.

Bei diesen Überlegungen zuckte Florian Meinrath unmerklich zusammen. Er sah sich in Gedanken an der Seite der schönen jungen Ellen Bodendorf. Ein brennendes Verlangen fühlte er in sich. Das Verlangen, dieser liebenswerten jungen Dame zu helfen, sie zu beschützen und vor allen Angriffen zu bewahren.

Florian Meinrath vergaß Eva und seinen kleinen Sohn. Er vergaß auch, dass ihn und Ellen sehr viel trennte. Sie kam aus einem reichen Haus, ihr Vater war einer der führenden Wirtschaftskapitäne Deutschlands. Er selbst war nur ein mittlerer Beamter. Wenn er Glück und Ausdauer hatte, konnte er einmal Amtsgerichtsrat werden. Doch mit seinen fünfunddreißig Jahren war er für diese Position noch viel zu jung.