Sophienlust Extra 24 – Familienroman - Gert Rothberg - E-Book

Sophienlust Extra 24 – Familienroman E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die neue Ausgabe Sophienlust extra wird alle Freunde und Sammler dieser Serie begeistern. Sämtliche Romane, die wir in dieser neuen Ausgabe veröffentlichen, sind Kelter-Erstdrucke. So haben alle Leserinnen und Leser die Möglichkeit, die Lücken in ihrer Sophienlust-Sammlung zu schließen. Immer gegen Morgen schlief der alte Justus besonders gut. Am Abend haperte es meistens mit dem Einschlafen. Er wälzte sich oft endlos von einer Seite auf die andere, bis er schließlich die richtige Lage gefunden hatte. Der Novembernebel hatte es in sich – und das Rheuma leider auch. Manchmal gelang es Justus, die Heimsuchungen des Alters mit Humor zu ertragen, oft jedoch machten ihn die Schmerzen auch brummig. Die Bewohner des Kinderheims Sophienlust hielten es dann für geraten, einen kleinen Bogen um ihn zu machen. Justus, der schon zurzeit Sophie von Wellentins Verwalter in Sophienlust gewesen war, lebte nun auf dem Altenteil. Er werkelte noch ein bisschen hier und da herum, weil er es nie gelernt hatte, die Hände in den Schoß zu legen. Am liebsten beschäftigte er sich mit den Pferden. Vor allem mit den Ponys, auf denen die Kinder ritten und die er nur zu gern für sie sattelte. Der alte Mann dehnte sich in seinem hohen, altmodischen Bett, dass es nur so krachte. Da – plötzlich schien er unruhig zu werden. Ein Geräusch an der Fensterscheibe drang durch die Mauern seines Schlafes. Er rappelte sich verwirrt hoch und tastete mit der Hand nach dem Knopf der Nachttischlampe. Da war es wieder, das Geräusch. Diesmal konnte Justus klar erkennen, dass jemand hartnäckig Steinchen für Steinchen an sein Fenster warf. "Da soll doch …", murmelte er und sah auf die Uhr. Knapp fünf vorbei. Noch zu früh dafür, dass ihm jemand einen Streich spielte.

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Sophienlust Extra – 24 –

Ohne Mutterliebe

Wie die kleine Doris nach Sophienlust kam

Gert Rothberg

Immer gegen Morgen schlief der alte Justus besonders gut. Am Abend haperte es meistens mit dem Einschlafen. Er wälzte sich oft endlos von einer Seite auf die andere, bis er schließlich die richtige Lage gefunden hatte.

Der Novembernebel hatte es in sich – und das Rheuma leider auch. Manchmal gelang es Justus, die Heimsuchungen des Alters mit Humor zu ertragen, oft jedoch machten ihn die Schmerzen auch brummig. Die Bewohner des Kinderheims Sophienlust hielten es dann für geraten, einen kleinen Bogen um ihn zu machen.

Justus, der schon zurzeit Sophie von Wellentins Verwalter in Sophienlust gewesen war, lebte nun auf dem Altenteil. Er werkelte noch ein bisschen hier und da herum, weil er es nie gelernt hatte, die Hände in den Schoß zu legen. Am liebsten beschäftigte er sich mit den Pferden. Vor allem mit den Ponys, auf denen die Kinder ritten und die er nur zu gern für sie sattelte.

Der alte Mann dehnte sich in seinem hohen, altmodischen Bett, dass es nur so krachte.

Da – plötzlich schien er unruhig zu werden. Ein Geräusch an der Fensterscheibe drang durch die Mauern seines Schlafes. Er rappelte sich verwirrt hoch und tastete mit der Hand nach dem Knopf der Nachttischlampe. Da war es wieder, das Geräusch. Diesmal konnte Justus klar erkennen, dass jemand hartnäckig Steinchen für Steinchen an sein Fenster warf.

»Da soll doch …«, murmelte er und sah auf die Uhr. Knapp fünf vorbei. Noch zu früh dafür, dass ihm jemand einen Streich spielte. Außerdem war das nicht die Art der Kinder von Sophienlust. Sie konnten zwar manchmal eine rechte Rasselbande sein, wussten aber zumeist genau, wo ihre Grenzen lagen.

»Onkel Justus …«, hörte er jetzt eine gedämpfte Stimme rufen. Hatte er anfangs noch geglaubt, die Steinchen würden der hübschen Rosi gelten, so war er jetzt zu einem anderen Ergebnis gekommen. Rosi, eine entfernte Verwandte der Köchin Magda, weilte nämlich seit ein paar Tagen zu Besuch in Sophienlust. Ihr Zimmer lag in dem gleichen Nebengebäude, das auch Justus bewohnte.

Der alte Mann konnte sich nicht vorstellen, wer zu dieser frühen Stunde etwas von ihm wollte. Er schlug die Bettdecke zurück und angelte nach seinen Filzpantoffeln.

»Wo ist denn nur wieder meine Brille«, knurrte er leise. Seitdem seine Sehkraft nachließ, war er ständig auf der Suche danach – eine Quelle ungetrübten Ärgers und Anlass zu mancher Neckerei.

Wieder einmal lag die Brille nicht auf dem Nachttisch, sondern fand sich schließlich auf dem Radio, halb verborgen unter einer Zeitung.

»Onkel Justus!« Die Stimme hatte mittlerweile den Ton beschwörender Eindringlichkeit angenommen.

Justus, nun gänzlich wach, tappte zum Fenster und riss es auf.

Draußen war es dunkel und etwas diesig. Wenn nicht die Lampe über dem Pferdestall gebrannt hätte, wäre von dem jungen Mädchen draußen kaum etwas zu bemerken gewesen.

»Wer ist da?«, rief Justus hinunter. Er kniff dabei die Augen zusammen, um deutlicher zu sehen.

»Ich bin’s – die Hanni. Onkel Justus, was bin ich froh, dass du endlich aufgewacht bist.«

»Hanni?«, echote Justus erstaunt. Er kannte nur eine Hanni. Das war seine Nichte, und die lebte in Heilbronn.

»Darf ich zu dir raufkommen, Onkel Justus?«

Tatsächlich, es war Hanni. Was sie aber hier zu suchen hatte, war ihm ein Rätsel.

Der alte Justus war kein Mann großer Umschweife. »Natürlich. Ich mach dir gleich auf. Du musst nur noch warten, bis ich mir was übergezogen habe.«

Hannis Lippen entrang sich ein Seufzer der Erleichterung. Gottlob, die erste Hürde war geschafft. Nun, da sie bei ihrem Onkel war, fühlte sie sich bereits ein wenig geborgen. Die letzte Nacht hatte ihre Nerven ganz schön strapaziert. So ohne Weiteres lief man eben nicht aus dem Elternhaus davon.

Ungeduldig ging Hanni auf und ab. Warum dauerte es nur so lange? Nach einer ihr endlos erscheinenden Zeit wurde ein massiver Eisenriegel an der Haustür zurückgeschoben, ein Schlüssel drehte sich im Schloss.

»Ach, Onkel!« Hanni fiel Justus um den Hals. Zugleich schössen ihr Tränen wie ein Sturzbach aus den Augen.

»Na, na«, begütigte Justus. »So schlimm wird’s schon nicht sein.« Er schob Hanni ein Stückchen von sich weg. Gegen Frauentränen war er nämlich allergisch. »Hier, putz dir mal die Nase.« Er drückte ihr ein buntgewürfeltes Taschentuch in die Hand. »Du hast doch sicher wieder mal keins. Weiß ich noch von früher.«

Ein zaghaftes Lächeln huschte über Hannis zartes, herzförmiges Gesicht, das von dunklen Locken umrahmt war. »Wie gut du mich kennst«, flüsterte sie. Danach folgte sie ihm die Treppe hinauf in den ersten Stock und in sein gemütliches Zimmer.

»Mach’s dir bequem, Kind«, forderte Justus seine Nichte auf.

Hanni sank in den Sessel mit der hohen Lehne und verschränkte die Arme über der Brust. Sie schloss erschöpft die Augen.

Justus betrachtete sie ein paar Sekunden lang nachdenklich. »Du siehst ganz durchfroren und übernächtigt aus«, stellte er fest. »Als erstes musst du mal etwas Warmes in den Magen kriegen.« Sein Blick fiel auf die Flasche mit dem Obstler, von dem er sich gern ab und zu ein Schlückchen genehmigte. Doch für ein junges Mädchen war das vielleicht nicht das Richtige. Wenigstens nicht um diese Tageszeit. Besser war wohl ein heißer Tee.

Justus steckte den Tauchsieder in einen Topf mit kaltem Wasser und holte aus dem Schränkchen in der Kochnische zwei Tassen, die Zuckerdose und ein Päckchen Teebeutel heraus.

»Hunger wirst du sicher auch haben«, bemerkte er. »Leider habe ich jetzt nur die paar Kekse da. Sind noch von meinem Geburtstag übrig. Später gibt’s dann ein richtiges Frühstück.«

»Ist schon recht, Onkel Justus«, sagte Hanni. »Mir ist die Kehle wie zugeschnürt. Ich glaube, ich bekomme keinen Bissen herunter.«

Justus goss das dampfende Getränk in die Tassen. Er verbarg ein Lächeln, als er sah, wie schnell sich die Keksdose trotz Hannis düsterer Prophezeiung leerte.

Als ihre blassen Wangen wieder etwas Farbe bekommen hatten, fragte er: »Der Entschluss zu deiner Reise kam wohl etwas plötzlich, wie?«

Hanni nickte energisch. »Das kann man wohl sagen, Onkel Justus. Weißt du, ich war so verzweifelt …, so durcheinander … Ich sah überhaupt keinen Ausweg mehr – bis du mir dann einfielst. Ja, und nun bin ich hier.«

»Das ist mir inzwischen klar geworden«, entgegnete Justus trocken. »Vielleicht wäre es gut, wenn du mir einmal alles erzählen würdest.«

»Natürlich. Nur, wo soll ich anfangen?«

»Am besten ist es immer, man beginnt ganz von vorn.« Justus lehnte sich zurück und stopfte sich eine Pfeife. Er ahnte schon, dass er sich auf allerhand gefasst machen musste.

»Man will mich verheiraten«, platze Hanni heraus. »Onkel Justus, wie findest du das?«

»Nun«, antwortete er diplomatisch, »eine Hochzeit ist ja eigentlich ein freudiger Anlass. Oder nicht?«

Hanni schob trotzig die Unterlippe vor. »Sollte man denken. Aber nicht auf diese Weise. Nicht, wenn man muss.«

Justus fuhr sichtlich zusammen. Durfte er seinen Ohren trauen? Müssen, das konnte doch nur eines bedeuten … Er musterte seine Nichte scharf. Sie gefiel ihm so gut wie eh und je. Sie hatte sich kaum verändert in den letzten anderthalb Jahren. Höchstens war sie ein wenig schlanker als damals.

Hanni kicherte unterdrückt. Der forschende Blick des alten Mannes war ihr nicht entgangen.

»Es ist nicht das, was du denkst, Onkel Justus«, klärte sie ihn auf. »Wahrscheinlich habe ich mich falsch ausgedrückt. Ich muss nicht aus diesem Grund heiraten. Vater und Mutter wünschen, dass ich heirate. Sie wollen, dass ich eine gute Partie mache. Und sie haben auch schon jemand in petto. Wo gibt’s denn heutzutage noch so was«, vollendete sie entrüstet.

Justus paffte bedächtig eine Rauchwolke in die Luft. »In dem Punkt haben sich die Zeiten nicht so sehr geändert, mein Kind. Aber …« Er brach ab und dachte an Hannis Eltern. Amanda, Hannis Mutter und einzige Tochter seiner verstorbenen Schwester, war von Kind an immer auf ihren Profit bedacht gewesen. In Hannis Vater hatte sie eine verwandte Seele gefunden. Für Justus war es bis heute ein Rätsel geblieben, wie diese zwei nüchternen, stets nach Gewinn strebenden Menschen es zu einer so reizenden Tochter wie Hanni gebracht hatten. Justus hätte gut und gern auf Amanda und ihren Mann verzichtet. Nur um Hannis willen hielt er die Verbindung zu dieser Verwandtschaft aufrecht.

»Es ist kein netter Mann?«, erkundigte er sich behutsam.

»Ein Ekel! Ein Scheusal!«, rief Hanni temperamentvoll aus. »Uralt …, mindestens vierzig. Und wie er mich immer ansieht! Als ob er mich schon jetzt mit Haut und Haaren verschlingen wollte!« Sie schüttelte sich.

»Wenn ich mir nur vorstelle, dass er mich berühren könnte, wird mir ganz übel.«

»Übertreibst du da nicht ein wenig?«

Hanni zuckte die Achseln. »So sehe ich ihn. Wenn du natürlich Mutter dagegen hören würdest …« Sie verdrehte die Augen und spitzte die Lippen, als sie fortfuhr: »Oh, Kind, dieses unverdiente Glück! Ein Mann wie Erwin Weigand mit dieser Position – mit diesen Aussichten – die schöne Eigentumswohnung – das große TV. Wir können uns so was nicht leisten. Du versündigst dich, wenn du eine solche Chance ausschlägst.« Hanni verfiel wieder in ihre normale Sprechweise. »So was muss ich mir Tag für Tag anhören«, beklagte sie sich.

Justus lächelte. Wie gut Hanni ihre Mutter kopiert hatte. Er sah diese förmlich vor sich stehen. Und so verdrehte Ansichten waren ihr auch zuzutrauen.

»Und dein Vater, was sagt der dazu?«

»Vater ist immer Mutters Meinung. Das weißt du doch. Natürlich ist er auch von Herrn Weigand geblendet. Aber dann ist da noch etwas …« Sie brach ab und wurde flammenrot.

»Warum sprichst du nicht weiter, Hanni?«

»Weil …, weil …« Hanni rieb verlegen die Handflächen aneinander. »Es ist nämlich so, selbst wenn Herr Weigand nett wäre – auch dann würde ich ihn nicht wollen.«

»Ach, sieh mal einer an«, schmunzelte Justus, dem langsam, aber sicher eine ganze Serie von Lichtern aufging. »Die junge Dame ist wohl bereits vergeben?«

»Genau.« Hanni atmete auf. Jetzt war es heraus.

»Und dieser junge Mann«, kombinierte Justus, »hat weder eine Eigentumswohnung noch ein großes Auto.«

»Doch, ein Auto schon. Aber nur ein ganz altes. Und es ist auch dauernd kaputt. Peter repariert es immer selbst, weil man dabei eine Menge Geld sparen kann. Er ist überhaupt sehr gescheit und weiß genau, was er will. Und er wird es auch zu etwas bringen. Nur dauert es eben noch eine Weile.«

»Was hat denn dein Peter für einen Beruf?«

»Er ist Gärtner in einer Baumschule. Oh, Onkel Justus, du müsstest ihn einmal hören, wenn er von seiner Arbeit spricht. Er geht ganz darin auf. Ich bin sicher, du würdest ihn auch gernhaben.«

Ein Gärtner also. Jemand wie Justus, der ein Menschenalter Gutsverwalter gewesen war und sich die innige Beziehung zur Natur und ihren Lebewesen bewahrt hatte, konnte darin nichts Unsympathisches finden. Allerdings – Reichtümer waren auf diesem Gebiet nur schwer zu erwerben. Und Amandas Reaktion diesem Bewerber gegenüber konnte sich Justus auch recht gut vorstellen.

»Warum sagst du nichts?«, forschte Hanni ängstlich.

»Ich muss das erst mal verdauen, Hanni. Manchmal denke ich, du bist noch zu jung für solche Geschichten. Ist aber wohl ein Irrtum. Die Zeit bleibt ja nicht stehen.«

Hanni reckte ihre zierliche Gestalt. »Ich werde einundzwanzig, Onkel Justus. Ich liebe Peter und werde ihn heiraten. Ihn und keinen anderen«, bekräftigte sie feierlich.

»Und das Geld von dem anderen lockt dich gar nicht?« Justus fragte es nur, um sie auf die Probe zu stellen.

Hanni wies ein solches Ansinnen empört zurück. »Nicht die Spur. Natürlich hätte ich nichts dagegen, wenn ein kleines bisschen mehr vorhanden wäre. Das will ich gar nicht leugnen. Aber was soll’s? Wir sind beide jung und haben das ganze Leben noch vor uns. Wenn wir noch warten müssen, tun wir es eben. Nur trennen lassen wir uns nicht. Ich gebe ja zu, die Eltern meinen es auf ihre Art gut mit mir. Sie denken nur ganz anders und verstehen mich nicht.«

»Sicher. Doch warum bist du plötzlich ausgerückt?«

»Wir hatten einen schrecklichen Krach, Mutter und ich. Eine Nachbarin, übrigens eine richtige Klatschbase, hatte Peter und mich am Abend zuvor gesehen und es natürlich brühwarm weitergetratscht. Mutter kriegte ihren Koller und verbot mir jede weitere Zusammenkunft. Sie drohte mit Hausarrest. Onkel Justus – in meinem Alter! Außerdem eröffnete mir Mutter, Herr Weigand habe Theaterkarten, und ich müsste mit ihm hingehen. Ich müsste mich langsam an ihn gewöhnen, nannte sie es taktvollerweise. Nein, Onkel Justus, nicht einmal um des lieben Friedens willen konnte ich nachgeben. Da bin ich lieber heimlich weggegangen und mit dem letzten Zug nach Bachenau gefahren.«

»Lieber Himmel, und den Weg von Bachenau bis hierher …«

»… bin ich schlicht und einfach zu, Fuß gegangen«, ergänzte Hanni gleichmütig. »Erst habe ich mich noch ein bisschen im warmen Wartesaal aufgehalten, denn ich wollte ja nicht mitten in der Nacht hier aufkreuzen. Na, und dann bin ich eben losmarschiert.«

»Mitten in der Nacht, bei diesen Zeiten.« Justus rang mühsam nach Worten. »Hast du denn überhaupt keine Angst?«

»Nur die, dass du mich wieder heimschickst und ich den Weigand heiraten muss.«

»Hm«, brummte Justus. Alles, was Hanni ihm da erzählte, erschien ihm ziemlich einleuchtend.

»Nicht wahr, Onkel Justus, du hilfst mir?«, drängte Hanni, die gespannt auf seine Reaktion wartete.

Justus hob den Kopf. Er sah Hannis flehende Augen auf sich gerichtet, sodass ihn ein Gefühl der Rührung überkam.

»Ich werd’s zumindest versuchen«, meinte er. »Hast du eine bestimmte Idee?«

»Leider nicht. Ich dachte, wenn ich nur erst mal bei dir bin, löst sich alles andere von selbst.«

Lieber Himmel, dachte Justus, so einfach ist die Sache nun auch wieder nicht. Amanda …

»Hast du deinen Eltern eine Nachricht hinterlassen?«, fragte er.

»Nein. Zuerst werden sie wahrscheinlich denken, ich sei mit Peter auf und davon. Aber nicht mal ihm habe ich von meiner Absicht erzählt, damit er ganz unbefangen ist. Hab ich doch gut eingefädelt, nicht?« Hanni schien von ihrer eigenen Schlauheit sehr angetan.

»Na ja«, räumte Justus ein. »Aber dann werden sie schnell auf mich kommen. Das ist dir doch klar?«

Hanni erschrak. »Du meinst, sie tauchen womöglich hier auf?«

»Wie ich deine Mutter kenne, todsicher. Oder sie ruft an. Ich kann ihr natürlich meine Meinung sagen, aber deine Anwesenheit nicht verschweigen. Immerhin bist du noch nicht mündig.«

»Noch drei Monate«, gab Hanni kleinlaut zu. Dann rief sie leidenschaftlich aus: »Aber zurück gehe ich nicht, lieber …«

»Nun mal sachte mit den jungen Pferden«, unterbrach sie der alte Mann gelassen. »Mir scheint, wir zwei allein können dein Problem nicht lösen. Ich denke, wir werden Frau von Schoenecker zu Rate ziehen.«

Hanni nickte zögernd. Sie besaß nur eine schwache Erinnerung an Denise von Schoenecker, die sehr nett zu ihr gewesen war, als sie Anfang des vergangenen Jahres bei Justus zu Besuch gewesen war. Hanni wusste auch, dass Onkel Justus große Stücke auf seine Herrin hielt.

Justus las die Zweifel auf Hannis Gesicht und lächelte. »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Kind. Frau von Schoenecker hat noch nie jemand im Stich gelassen. Und im Ausdenken von Auswegen ist sie ganz groß!«

*

»Ich reite auf einen Sprung nach Sophienlust«, sagte Denise von Schoenecker und stand auf. »Pünktchen gefiel mir gestern ganz und gar nicht.«

»Nanu – ist etwas mit ihr los?«, erkundigte sich Alexander von Schoenecker besorgt und blickte von dem Leitartikel in der Morgenzeitung auf. Pünktchen, die eigentlich Angelina Dommin hieß und zu den Dauergästen von Sophienlust zählte, hatte er besonders ins Herz geschlossen. Sie war auch die einzige, die »Onkel Alexander«, zu ihm sagen durfte.

»Ach wo. Sie war nur gestern Nachmittag recht still, was mir gleich auffiel. Sonst ist sie ja ein richtiger Wirbelwind. Und dann hatte sie einen heißen Kopf. Ich habe Schwester Regine noch aufgetragen, ihre Temperatur zu messen und sie eventuell heute im Bett zu lassen. Vielleicht hat sich alle Aufregung in einem kräftigen Schnupfen aufgelöst. Bei diesem nebeligen Wetter wäre es kein Wunder. Trotzdem will ich mich selbst überzeugen, wie es Pünktchen geht.«

Alexander von Schoenecker lächelte seiner Frau zärtlich zu.

Er liebte sie noch ebenso wie an ihrem Hochzeitstag. Sie war für ihn nicht nur die schönste Frau der Welt, noch stärker band ihn an sie ihre grenzenlose Güte und ihre großzügige Hilfsbereitschaft all jenen gegenüber, die der Hilfe bedurften.

Obwohl Denise sich persönlich sehr um Sophienlust kümmerte, vernachlässigte sie doch nie ihre eigene Familie. Sie wusste es immer so einzurichten, dass keiner zu kurz kam.

»Willst du nicht lieber den Wagen nehmen, Denise?«, fragte er. »Der Wind ist kalt. Ehe du dich umschaust, hast du dir eine Grippe geholt.« Er faltete die Zeitung zusammen. »Für mich beginnt jetzt auch der Ernst des Lebens. Ich bin mit dem Oberförster verabredet. Wir wollen Bäume zum Schlag auszeichnen.«

Denise beugte sich zu ihm hinunter und gab ihm einen liebevollen Kuss.

»Ich bin wie immer eine gehorsame Ehefrau und fahre also mit dem Auto. Was die Grippe anbelangt, so denke auch ein wenig daran, wenn du im Wald bist.«

»Davor wird mich schon Bullingers selbstgebranntes Leib- und Magenelixier bewahren.« Alexander schnitt eine Grimasse. »Ein Glück, dass er ein solcher Rachenputzer ist. Wenigstens läuft man nicht Gefahr, mehr als einen Schluck zu nehmen.«

Denise winkte ihm zu und verließ das Zimmer. Draußen gab sie noch der Köchin einige Anweisungen für das Mittagessen und schlüpfte dann in die gefütterte Wildlederjacke. Trotz ihrer beiden Söhne Dominik, dem einmal Sophienlust gehören würde, und Henrik, der aus ihrer Ehe mit Alexander von Schoenecker stammte, hatte sie sich ihre schlanke Figur bewahrt. Sie konnte anziehen, was sie wollte. Immer sah sie darin schick und gepflegt aus.

Als Denise wenig später in Sophienlust ankam, lief ihr als Erster der alte Justus über den Weg. Er hatte sich bereits bei Frau Rennert, der Heimleiterin, erkundigt und von ihr erfahren, dass Denise wahrscheinlich bald in Sophienlust eintreffen würde. Seitdem hatte er auf der Lauer gelegen, um sie ja nicht zu verpassen.

»Guten Morgen, Frau von Schoenecker«, grüßte er und half ihr mit altvaterischer Galanterie aus dem Wagen. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

»Selbstverständlich, Justus«, antwortete Denise freundlich. »Das heißt, erst will ich noch nach Pünktchen sehen.«

»Pünktchen? Die ist doch in der Schule.«

»Wirklich? Das freut mich. Ich fürchtete schon, sie sei krank.«

»Den Eindruck machte sie nicht.« Justus lächelte. »Sie hatte sich einen Platz neben Nick im Schulbus erobert und war – vielleicht deshalb – kreuzfidel.«

Auch Denise musste lächeln. Für niemand in Sophienlust war es ein Geheimnis, dass Pünktchen für Nick schwärmte. Es war ein Gefühl, das Nick einerseits schmeichelte, denn er hatte ebenfalls eine Schwäche für Pünktchen, andererseits aber neuerdings auch manchmal etwas Unbehagen bereitet. Mit seinen fünfzehn Jahren fühlte er sich schon recht erwachsen. Pünktchen aber war in seinen Augen ein zwar sehr liebes, aber doch noch recht kleines Mädchen.

»Dann kommen Sie, Justus«, sagte Denise und ging ihm voran. »Wir unterhalten uns im Biedermeierzimmer.«

In dem mit wertvollen alten Möbeln ausgestatteten Raum hielt sich Denise am liebsten auf. Wenn die Wände hätten reden können, so hätten sie von manchem Schicksal berichtet, das sie kannten. Wie viel Tränen waren hier schon geflossen, wie viele große und kleine Kümmernisse vor Denise ausgebreitet worden. Und nicht ein einziges Mal war jemand ohne Trost gegangen. Zwar war Denise nicht immer imstande, sofort sichtbare Hilfe zu leisten, aber allein schon die Tatsache, dass sie sich den Kummer der anderen anhörte, dass sie für den anderen da war, wirkte oft Wunder.

Justus setzte sich vorsichtig in den zierlichen Biedermeierstuhl und räusperte sich. Dann berichtete er Denise von Hannis Auftauchen und den Problemen des jungen Mädchens.

»Tja, Frau von Schoenecker«, sagte er abschließend, »wir beide, wir wissen nun nicht mehr weiter. Da habe ich mir gedacht …«

»… dass ich eine gute Idee habe, stimmt’s?«