Emilys neue Mutter - Gert Rothberg - E-Book

Emilys neue Mutter E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Denise und Alexander von Schoenecker rückten etwas näher aneinander. Auch sie konnten sich dem seltsamen Bann nicht entziehen, der alle Menschen überfiel, die hier vor dem Schulauer Fährhaus saßen, der Schiffsbegrüßungsanlage vor den Toren Hamburgs. Immer wieder lauschten Denise und Alexander der Stimme aus dem Lautsprecher, die jedes von draußen kommende Schiff begrüßte und jedes ausfahrende verabschiedete. »Willkommen in Hamburg! Wir freuen uns, Sie in Hamburg begrüßen zu können.« Das wiederholte Denise jetzt. Sie sah ihren Mann an. »Wie glücklich mögen manche Menschen sein, wenn sie nach Jahren nach Hause kommen und diese Stimme hören. Sicher denken sie daran, wie ihnen zumute war, als ihr Schiff auf der Elbe hinausfuhr und sie hörten: ›Hamburg wünscht Ihnen eine gute Reise. ‹ Oder sie hören in Gedanken noch einmal: ›Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus‹. Ist es nicht merkwürdig, Alexander, dass man hier bei diesem Abschiedslied sentimental wird?« Alexander von Schoenecker nickte. »Ja, ich gebe zu, dass ich mich dieser seltsamen Mischung aus Sehnsucht, Heimweh und Abschied ebenfalls nicht entziehen kann. Ich glaube, das kommt daher, dass ein ausfahrendes Schiff immer das Gefühl des Ungewissen erweckt. Unwillkürlich fragt man sich: Was kann auf hoher See, in der unendlichen Weite des Ozeans, alles passieren?« »Ja, und es mag darin auch etwas von den Gefühlen der Auswanderer enthalten sein, die wussten, dass sie die Heimat für immer verlassen.« Wieder lauschte Denise der Stimme, die aus dem Lautsprecher der Begrüßungsanlage kam. Jetzt erklang Musik – aus dem »Fliegenden Holländer«. Leise summte Denise mit: »… Steuermann, her zu uns …« Alexander legte den Arm um die Schultern seiner Frau.

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Sophienlust Extra – 25 –

Emilys neue Mutter

Ein kleines Mädchen hat großes Glück

Gert Rothberg

Denise und Alexander von Schoenecker rückten etwas näher aneinander. Auch sie konnten sich dem seltsamen Bann nicht entziehen, der alle Menschen überfiel, die hier vor dem Schulauer Fährhaus saßen, der Schiffsbegrüßungsanlage vor den Toren Hamburgs.

Immer wieder lauschten Denise und Alexander der Stimme aus dem Lautsprecher, die jedes von draußen kommende Schiff begrüßte und jedes ausfahrende verabschiedete.

»Willkommen in Hamburg! Wir freuen uns, Sie in Hamburg begrüßen zu können.« Das wiederholte Denise jetzt.

Sie sah ihren Mann an. »Wie glücklich mögen manche Menschen sein, wenn sie nach Jahren nach Hause kommen und diese Stimme hören. Sicher denken sie daran, wie ihnen zumute war, als ihr Schiff auf der Elbe hinausfuhr und sie hörten: ›Hamburg wünscht Ihnen eine gute Reise.‹ Oder sie hören in Gedanken noch einmal: ›Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus‹. Ist es nicht merkwürdig, Alexander, dass man hier bei diesem Abschiedslied sentimental wird?«

Alexander von Schoenecker nickte. »Ja, ich gebe zu, dass ich mich dieser seltsamen Mischung aus Sehnsucht, Heimweh und Abschied ebenfalls nicht entziehen kann. Ich glaube, das kommt daher, dass ein ausfahrendes Schiff immer das Gefühl des Ungewissen erweckt. Unwillkürlich fragt man sich: Was kann auf hoher See, in der unendlichen Weite des Ozeans, alles passieren?«

»Ja, und es mag darin auch etwas von den Gefühlen der Auswanderer enthalten sein, die wussten, dass sie die Heimat für immer verlassen.«

Wieder lauschte Denise der Stimme, die aus dem Lautsprecher der Begrüßungsanlage kam. Jetzt erklang Musik – aus dem »Fliegenden Holländer«. Leise summte Denise mit: »… Steuermann, her zu uns …«

Alexander legte den Arm um die Schultern seiner Frau. »Nun, unser Sascha wird nicht traurig sein. Er hat sich wie ein Schneekönig auf diese Reise gefreut. Vier Wochen Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten, das hätte ich mir als junger Mensch auch gewünscht. Und dazu noch eine herrliche Schiffsreise. Ich muss gestehen, ich beneide Sascha ein wenig darum. Zumal es um unsere Reisen so schlecht bestellt ist, Denise. Sophienlust lässt dich nicht mehr los. Ich bin überzeugt, dass es dich schon wieder zu deinen Schützlingen zurückzieht, obwohl du weißt, wie gut sie bei Frau Rennert und Schwester Regine aufgehoben sind.«

Denise strich sich über das schwarze Haar. Sie lächelte. »Ja, das stimmt, Alexander. Aber diese vier Tage mit dir sind ein herrliches Geschenk für mich. Sascha war dankbar, dass wir ihn in Heidelberg abgeholt und nach Hamburg gebracht haben. Wir selbst sind dadurch aber auch zu einem kleinen Urlaub gekommen. Wenn sich das Nützliche mit dem Schönen immer so verbinden lässt, muss man dankbar sein.«

Alexander von Schoenecker neigte den Kopf etwas und tuschelte seiner Frau zu: »Die beiden jungen Frauen, die auf uns zukommen, schau sie dir an! Nur an der Kleidung könnte man sie unterscheiden. Sonst sehen sie einander verblüffend ähnlich.«

Denise lachte. »Das soll bei Zwillingen so sein, Alexander. Und es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass die beiden jungen Frauen Zwillinge sind. Du wirst mir vielleicht ein Schwerenöter! Verguckst dich gleich in zwei Frauen. Als ob eine nicht genügen würde, mich eifersüchtig zu machen.«

Erschrocken sah Alexander seine Frau an. »Aber Denise! Habe ich dir jemals Grund zur Eifersucht gegeben? Du bist und bleibst für mich immer die schönste Frau, auch wenn ich gelegentlich mal andere Frauen bewundere, so wie jetzt diese Zwillinge. Oh, sie steuern auf den Tisch neben uns zu.«

Denise stieß ihren Mann mit einem übermütigen Lachen an. »Das tun sie nur dir zuliebe, Alexander.«

Das Ehepaar konnte sich jetzt nicht mehr über die Zwillingsschwestern unterhalten, denn diese setzten sich tatsächlich an den Tisch nebenan. Denise sah die beiden Schwestern verstohlen an. Sie konnten kaum älter als fünfundzwanzig Jahre sein, waren groß, schlank, hatten braunes Haar und sehr dunkle Augen.

Jetzt löste sich Denises Blick von den Zwillingsschwestern. Etwas anderes interessierte sie mehr – ein kleines Mädchen, das sich durch die Tische drängte und nun etwas atemlos auf den Stuhl zwischen den beiden Frauen fiel. Es war ein kleines zartes Geschöpf von ganz besonderem Liebreiz. Es hatte ebenfalls sehr dunkle Augen, aber blondes Haar, das auf dem Hinterkopf zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden war.

»Wo bist du denn so lange geblieben, Emily?«, fragte die eine der Frauen vorwurfsvoll.

»Ich habe mit einem sehr lieben netten Jungen am Wasser gespielt, Mutti. Schade, dass ihr nicht dort geblieben seid. Was machen wir jetzt?«

»Du bekommst ein großes Eis, Emily«, antwortete die junge Frau, die von dem Kind als Mutti angesprochen worden war. »Aber sei bitte still, Tante Viktoria und ich haben viel zu besprechen.«

Denise von Schoenecker konnte dem Gespräch am Nebentisch nicht länger folgen. Ihr Mann hatte eben die Rechnung bezahlt und erhob sich jetzt. »Komm, Denise, wir bummeln noch ein Stündchen an der Elbe entlang, bevor wir uns auf die Heimfahrt machen«, meinte er.

Während das Ehepaar von Schoenecker seinen Platz vor dem Schulauer Fährhaus verließ, rückte die kleine Emily unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Das wurde auch nicht anders, als sie ihr Eis vor sich stehen hatte. Endlich wagte sie die Frage: »Mutti, darf ich noch einmal zu dem lieben Jungen gehen? Ich habe ihm gesagt, dass ich vielleicht zurückkomme. Er bleibt mit seinen Eltern noch den ganzen Nachmittag hier. Er ist auch allein.«

Bettina Palmer, Emilys Mutter, sah verärgert aus. »Du bist ein Quälgeist, Emily. Du solltest froh sein, dass Tante Viktoria und ich dich mitgenommen haben. Musst du uns dauernd stören?«

Viktoria Delmenhorst sah ihre Zwillingsschwester Bettina vorwurfsvoll an. »Emily hat doch ein Recht darauf, die Freiheit hier draußen ein wenig zu genießen, Bettina. Ein Kind, das in der Großstadt leben muss …«

Bettina unterbrach ihre Schwester ungehalten. »Wir wohnen in Winterhude. Das ist ein Stadtteil, in dem einen die Großstadt Hamburg nicht zu erdrücken braucht.« Sie neigte sich zu dem kleinen Mädchen hinab. »Also, geh schon, Emily. Wir holen dich nachher ab.«

Glückstrahlend lief die Kleine wieder davon. Sie hatte nicht einmal ihr Eis aufgegessen.

Viktoria sah dem Kind mit sehnsüchtigen Blicken nach. »Wie glücklich musst du sein, Bettina. Emily ist in Wirklichkeit noch viel reizender als auf den Fotos. Schade, dass Mutter sie nicht mehr sehen konnte. Du hättest uns doch einmal mit Emily besuchen sollen.«

Bettina zuckte die Schultern. »Konnte ich wissen, dass Mutter ihre Krankheit nicht überstehen würde? Die Reise nach England kam mir immer etwas beschwerlich vor. Zumindest mit dem Kind. Emily ist oft sehr lebhaft. Sie lässt einen kaum verschnaufen. Dauernd stellt sie Fragen. Da müsste man ein Computer sein, um alle beantworten zu können. Emily wird zwar erst vier Jahre alt, aber sie ist wissbegierig wie eine Abc-Schützin. Was natürlich Daniel sehr stolz sein lässt. Aber er ist diesem quicklebendigen Naturell der Kinder ja auch nur an den Wochenenden ausgesetzt. Da ist es dann eine willkommene Abwechslung für ihn.«

»Daniel ist viel unterwegs?«, fragte Viktoria. Ihre Stimme klang gepresst.

»Ja. Aber daran ist er selbst schuld. Er könnte auch im Betrieb arbeiten, wie andere Ingenieure, aber ihn interessiert die Arbeit auf den Baustellen mehr.« Bettina lehnte sich zurück. »Ich bin ja schon sehr neugierig auf euer Wiedersehen. Ich habe Daniel am Telefon gesagt, dass du kommst.« Jetzt neigte sie sich vor. »Sag mal, Viktoria, du bist doch jetzt darüber hinweg, dass sich Daniel vor fünf Jahren für mich statt für dich entschied?«

In Viktorias Gesicht stieg verlegene Röte. »Müssen wir darüber sprechen, Bettina? Du sagst selbst – vor fünf Jahren. Das ist eine lange Zeit.«

»Aber du hast nicht geheiratet. Mit sechsundzwanzig Jahren bist du noch immer ledig. Ich habe immer darauf gewartet, dass eines Tages eine Heiratsanzeige von dir kommt. Schließlich gibt es auch in England interessante Männer. Und du fühltest dich da drüben ja wohl. Ganz im Gegensatz zu mir. Als sich unsere Mutter entschloss, in ihre Heimat zurückzukehren, hatte ich nur die eine Angst, mitgehen zu müssen.«

»Das hätte Mutter nie von dir verlangt, Bettina. Sie stellte ja auch mir frei, ob ich weiter in Hamburg bleiben oder sie nach Nottingham begleiten wolle. Seit Vaters Tod hat sich Mutter eben in Deutschland nicht mehr wohlgefühlt. Ich verstehe das. In ihrem Herzen ist unsere Mutter immer Engländerin geblieben. Nur aus Liebe zu Vater lebte sie in Hamburg. Aber sie hatte viele glückliche Erinnerungen an die Stadt und sprach immer wieder davon.«

Viktoria schien mit den Tränen zu kämpfen. Bettina dagegen blieb ungerührt. Sie lächelte jetzt. »Ach ja, du und Mutter, ihr seid immer Träumer gewesen – um nicht zu sagen Schwärmer. Ich konnte euch nie folgen. Niemand würde glauben, dass Zwillingsschwestern, die einander äußerlich so ähnlich sind, eine so entgegengesetzte Wesensart haben können. Aber ich muss sagen, dass ich froh darüber bin, nicht so sentimental veranlagt zu sein wie du. Und damit wäre ich wieder bei meiner Frage, ob du Daniel noch immer nachtrauerst. Ich weiß, es war damals nicht sehr rücksichtsvoll von mir, ihn dir auszuspannen. Aber mit zwanzig Jahren will man seine Macht über Männer noch erproben. Etwas anderes kann es nicht gewesen sein. Der Traum von der großen Liebe ist bald zerronnen. Wahrscheinlich, weil ich eben anders bin als du. Aber Daniel trägt auch sein Teil Schuld daran.«

»Ihr seid nicht glücklich?«, fragte Viktoria entsetzt.

Bettina lachte spöttisch. »Jetzt siehst du aus, als ob du den Weltuntergang befürchtest, Viktoria. Mein Gott, bist du ein Schäfchen. Glaubst du nicht, dass sich in fünf Jahren Ehe alles etwas abnutzt, was mit Liebe zu tun hat? Vor allem dann, wenn ein Mann so versessen auf seinen Beruf ist wie Daniel? Für ihn gibt es nur zwei Themen, über die er sich am liebsten immer mit mir unterhalten würde – sein Beruf und das Kind.«

Viktoria hatte ihre Hände zusammengepresst und starrte darauf. Es erregte sie zu hören, was aus der Ehe der Schwester geworden war. Fünf Jahre bin ich nicht nach Deutschland zurückgekommen, dachte sie, weil ich mich davor fürchtete, das Glück von Bettina und Daniel mit ansehen zu müssen. Doch schon in fünf Jahren soll sich das abgenutzt haben, was die beiden damals die große Liebe nannten? Ich selbst musste zurückstehen, obwohl ich Daniel liebte und wir uns einmal einig waren, zu heiraten. Doch ich musste zusehen, wie Daniels Liebe zu mir zerbröckelte, und erleben, dass die Leidenschaft zu Bettina ihn vollkommen veränderte. Während er mir gegenüber rücksichtslos wurde, hätte er für Bettina jedes Opfer auf sich genommen.

»Du bist so schweigsam geworden, Viktoria«, sagte Bettina jetzt. »Wir sollten also doch die alten Dinge ruhen lassen. Und was meine Ehe betrifft, so kann ich von dir wahrscheinlich kein Verständnis erwarten, denn du bist ja nicht verheiratet. Sage mir lieber, ob du jetzt wieder in Hamburg bleiben willst.«

»Vielleicht nicht gerade in Hamburg, Bettina, aber ich sagte dir doch gestern nach meiner Ankunft schon, dass ich meine Zelte in Nottingham ganz abgebrochen habe. Ich hatte in meiner Firma bereits vor Mutters Tod gekündigt, weil ich Mutter nicht allein lassen wollte. Ich konnte mir das leisten, denn ich hatte in den letzten Jahren etwas gespart. Als Dolmetscherin wurde ich gut bezahlt. Sicher werde ich auch irgendwo in Deutschland wieder eine Stelle finden, sodass ich mir eine kleine Wohnung leisten kann. Ich bin nicht sonderlich anspruchsvoll. Eine Wochenendfahrt ins Grüne, eine kleine Urlaubsreise, das gibt mir genug Kraft für meinen Beruf.«

Bettina seufzte. »Wenn ich das höre, muss ich doch wieder denken, dass du besser zu Daniel gepasst hättest als ich. Er denkt ähnlich wie du. Mir ist solch ein Leben zu spießbürgerlich.« Bettina winkte dem Ober und bezahlte. Dann erhob sie sich. »Komm, wir holen Emily und fahren nach Hause.« Sie sah nervös auf die Uhr. »Ich erwarte ein Telefongespräch. Ich möchte es nicht gern versäumen.«

Als die Schwestern ans Wasser kamen, spielte Emily noch immer mit dem kleinen Jungen. Aber sie verabschiedete sich sogleich von ihm, als sei sie dankbar dafür, dass sie überhaupt einmal so lange mit einem anderen Kind beisammen sein durfte.

*

Denise und Alexander von Schoenecker hatten ein wenig wehmütig von der Elbe Abschied genommen. Sie wussten, es würde viel Zeit vergehen, bis sie wieder einmal in den Norden Deutschlands kommen würden.

Nun fuhren sie über Wedel nach Hamburg. Auf einer breitausgebauten Asphaltstraße. Schon einige Male hatte Alexander ärgerlich in den Rückspiegel gesehen und den Kopf geschüttelt.

»Was hast du, Alexander?«, fragte Denise.

»Ich wundere mich nur wieder einmal über den Leichtsinn mancher Autofahrer. Ich beobachte schon die ganze Zeit einen Kolonnenspringer. Sobald die geringste Lücke frei ist, fährt er heraus, überholt und reiht sich wieder ein. Immer sehr rücksichtslos. Und das bei diesem Gegenverkehr. Dass sich solche Leute nicht überlegen, wie sehr sie mit ihrem Verhalten auch andere gefährden. An ihr eigenes Leben scheinen sie auch nicht zu denken.«

Denise erwiderte nichts. Sie kannte ihren Mann. Er regte sich schnell über Fahrer auf, die so viel riskierten.

»Jetzt ist er bereits hinter uns. Gleich wird er uns mit Bravour nehmen. Hoppla!« Wieder sah Alexander von Schoenecker in den Rückspiegel. »Nein!«, wunderte er sich. »Sieh einer diese forschen Frauen an. Das sind ja unsere Tischnachbarn vom Schulauer Fährhaus. Eine der Zwillingsschwestern fährt. Die andere sitzt neben ihr. Wie mir scheint, mit recht unglücklichem Gesicht. Ihr ist wohl bei dieser waghalsigen Fahrweise auch nicht ganz wohl.«

Denise drehte sich um. Sie sah den Volkswagen hinter sich. »Tatsächlich, du hast recht, Alexander. Das Kind sitzt im Fond.«

»Und jetzt ist es soweit.« Ein Fluch kam über Alexanders Lippen. Das wollte bei dem sonst so beherrschten Mann viel bedeuten.

Unwillkürlich hielt sich Denise fest, als der Volkswagen an ihnen vorbeifuhr. Dann schrie sie auf: »Bleib zurück, Alexander!« und schlug die Hände vor das Gesicht. Sie hatte den auf der Gegenfahrbahn kommenden Wagen gesehen.

Alexander von Schoenecker trat auf die Bremse. Der Fahrer vor ihm tat dasselbe. Beide brachten ihre Wagen zum Stehen, ohne dass sie auf einen anderen auffuhren. Aber der Fahrer hinter den von Schoeneckers schaffte das nicht mehr.

Es half Denise nichts, dass sie sich wieder festhielt. Ihr Kopf schlug gegen die Windschutzscheibe, als der Wagen mit einem harten Ruck auf den des Vordermanns geschoben wurde.

Denise sah sich benommen um. »Es kann nicht schlimm sein. Ich habe mich nur angeschlagen. Aber es muss ein furchtbares Unglück passiert sein, Alexander. Ich habe das Krachen noch in den Ohren.«

»Ja, ein Frontalzusammenstoß, nicht sehr weit vor uns. Bitte, bleib zunächst sitzen. Ich steige aus.«

Alexander öffnete die Tür. Er trat zu anderen Autofahrern, die alle mit schreckensbleichen Gesichtern auf der Straße standen. Einige liefen zur Unfallstelle.

Alexander folgte ihnen, kam aber bald wieder zurück und zog Denise aus dem Wagen. »Komm, Denise, dort hinten ist eine Gaststätte. Dort wirst du auf mich warten müssen. Die Straße ist blockiert. Wir kommen jetzt nicht weiter. Obwohl ich glaube, dass unser Wagen noch fahrtüchtig ist, muss ich ihn doch zur Kontrolle in die Werkstatt bringen. Es tut mir leid, dass dieser schöne Tag ein so schlimmes Erlebnis für uns gebracht hat.«

Denise sah ihren Mann fragend an. Warum sprach er nicht von dem, was er an der eigentlichen Unfallstelle gesehen hatte? Das Grauen stand doch noch in seinen Augen. Endlich wagte sie die Frage: »Gab es Tote?«

»Vermutlich. Ich hätte nichts helfen können. Es standen schon genug Leute um die beiden Wagen herum. Sie sagten, dass schon jemand zum nächsten Telefon gefahren sei, um die Polizei und den Krankenwagen zu rufen. Die beiden Schwestern hatte man auf den Rasen neben der Straße gelegt.« Alexander stockte. Er strich sich über die Augen, bevor er fortfuhr: »Sie sahen beide aus, als seien sie tot.«

»Und das Kind?«, fragte Denise. Sie hielt sich am Arm ihres Mannes fest.

»Es wurde gerade aus dem Wagen gehoben. Es bewegte sich. Auch aus dem entgegenkommenden Wagen hob man eine schwerverletzte Frau. Der Fahrer war eingeklemmt. Komm, Denise, du musst dich erholen.« Alexander führte seine Frau zurück. »Das kommt von dieser blinden Raserei. Wie hätte man das Unglück verhindern können? Ich habe gespürt, dass etwas passieren wird. Ich hatte die unverantwortliche Fahrweise dieser Frau ja schon lange beobachtet.«

Denise setzte sich in der Gaststätte an einen Tisch am Fenster. Sie wagte nicht zu klagen, wie sehr ihr der Kopf schmerzte und wie benommen sie sich fühlte. Was bedeutete das gegenüber dem Unglück, dessen Zeugen sie hatten werden müssen?

Alexander von Schoenecker verließ die Gaststätte. Er kam nach langer Zeit zu Fuß zurück.

»Wir müssen hier übernachten, Denise. Unser Wagen hat doch mehr abbekommen, als ich in der ersten Aufregung annahm. Erst morgen können wir ihn in der Werkstatt abholen. Ich musste vor der Polizei zu Protokoll geben, was ich beobachtet habe. Aber ich glaube, es wird dir erspart bleiben, ebenfalls eine Aussage machen zu müssen.« Er neigte sich zu seiner Frau hinab. »Du siehst sehr blass aus, Denise. Wollen wir nicht doch einen Arzt aufsuchen?«

Denise wehrte ab. »Nein, bitte nicht, Alexander. Ich erhole mich bestimmt wieder. Mehr als der Aufprall gegen die Windschutzscheibe nimmt mich der Gedanke an das entsetzliche Unglück mit. Wenn wir die beiden Frauen und das Kind wenigstens nicht noch vor dem Schulauer Fährhaus gesehen hätten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese schönen jungen Menschen nun schwerverletzt oder gar tot sein sollen.«

Alexander von Schoenecker stand auf. Er zog seine Frau hoch. »Komm, ich bestelle ein Taxi. Man hat mir gesagt, wo wir am Stadtrand von Hamburg übernachten können. Du musst zur Ruhe kommen.« Er trat noch näher an seine Frau heran und küsste sie liebevoll. »Es tut mir so leid, dass ich dir diese Aufregung nicht ersparen konnte.«

Denise lehnte sich fest an ihren Mann. In diesen Minuten wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in Sophienlust bei ihren Schützlingen sein zu können. Bei ihnen allein fühlte sie sich geborgen vor dem Lärm und der Hektik dieser Welt, ohne die das entsetzliche Unglück eben nicht geschehen wäre.

Immer wieder fragte sich Denise, welche der Zwillingsschwestern wohl am Volant des Wagens gesessen haben mochte. Die Mutter des kleinen Mädchens?

*

Das fragten sich im Krankenhaus Wedel auch die Ärzte und die Polizei. Jene Retter, die die beiden Frauen aus dem zertrümmerten Wagen gezogen hatten, konnten keine Auskunft geben. In der Aufregung hatten sie nicht auf die Kleidung der Schwerverletzten geachtet. Das allein aber wäre jetzt bei der Identifizierung wichtig gewesen.

Man hatte zwei Handtaschen gefunden. In beiden waren Ausweispapiere. Die einen lauteten auf Bettina Palmer, die anderen auf Viktoria Delmenhorst. Die Fahrzeugpapiere im Handschuhfach wiesen Ingenieur Daniel Palmer als Besitzer des Wagens aus.

Erst Stunden nach dem Unfall konnte man den Ingenieur auf einer Baustelle in Itzehoe erreichen. Gegen Abend traf er im Krankenhaus von Wedel ein. Seine erste Frage galt dem Kind.

Dr. Fahrenholz, der leitende Arzt des Krankenhauses, war froh über diese Frage, weil er Daniel Palmer dadurch nicht gleich die furchtbarste Mitteilung zu machen brauchte. »Das kleine Mädchen ist glimpflich davongekommen, Herr Palmer«, antwortete er. »Bisher konnten wir nur den Bruch des rechten Armes, Prellungen und eine Gehirnerschütterung feststellen. Das Kind ist wohl nur deshalb mit dem Leben davongekommen, weil es im Fond des Wagens saß. Es wurde zwar bewusstlos eingeliefert, hat aber in der letzten Stunde schon einige Worte gesprochen.«

Der vierunddreißigjährige Daniel Palmer war ein großer stattlicher Mann. Er hatte dunkelblondes Haar und braune Augen. Diese sahen den Arzt voller Furcht an. »Sind Sie sicher, Herr Doktor, dass Emily nicht mehr passiert ist?«

»Emily also«, sagte der Arzt nachdenklich. In seinem Gesicht zuckte es. Er dachte daran, dass dieser Name schon mehrmals über die Lippen der Schwerverletzten gekommen war, die immer wieder aus der tiefen Bewusstlosigkeit erwachte, um wenig später wieder in das Dunkel zurückzusinken. Sie schien demnach die Mutter des Kindes zu sein.