Sophienlust Extra 53 – Familienroman - Gert Rothberg - E-Book

Sophienlust Extra 53 – Familienroman E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die neue Ausgabe Sophienlust extra wird alle Freunde und Sammler dieser Serie begeistern. Sämtliche Romane, die wir in dieser neuen Ausgabe veröffentlichen, sind Kelter-Erstdrucke. So haben alle Leserinnen und Leser die Möglichkeit, die Lücken in ihrer Sophienlust-Sammlung zu schließen. Sophienlust Extra Nr. Was Fritz in Sophienlust erlebte ... Als es an der Haustür klingelte, sprang Grete von Magnus vom Stuhl auf. Rasch warf sie noch einen letzten prüfenden Blick auf ihre Studentenbude. Der Tisch in der Mitte des Zimmers sah direkt festlich aus. Er war an diesem Tag mit einer weißen Tischdecke geschmückt. Darauf standen Salzstangen und eine Menge leerer Gläser. Drei rote Kerzen auf kleinen Holztellerchen gaben dem Raum etwas Gemütliches. Die Stühle rings um den Tisch passten allerdings nicht zueinander. Sie gehörten sämtlichen Stilepochen der letzten fünfzig Jahre an und waren vorwiegend von der Hauswirtin entliehen. Aber das würde ihre Freunde wenig stören. Das wusste Grete. Das Bett und der Schreibtisch im Hintergrund des Zimmers wurden von dem Kerzenlicht nicht erreicht. Das war auch gut so, fand Grete. Der Schreibtisch erinnerte nur an Arbeit – und daran wollte jetzt bestimmt keiner denken. Ins Bett aber würde sie vermutlich erst sehr spät kommen. Sie hoffte, ihren Freunden würde es bei ihr so gut gefallen, dass sie so bald nicht wieder nach Hause gehen würden. Ein zweites Klingeln an der Haustür, diesmal länger und energischer als beim ersten Mal, ließ Grete zusammenfahren. Das waren bestimmt ihre ersten Gäste – und sie stand immer noch hier herum und betrachtete ihr Zimmer. Grete rannte hinaus in den Flur.

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Sophienlust Extra – 53 –

Ein Kindertraum wird Wirklichkeit

Gert Rothberg

Als es an der Haustür klingelte, sprang Grete von Magnus vom Stuhl auf. Rasch warf sie noch einen letzten prüfenden Blick auf ihre Studentenbude.

Der Tisch in der Mitte des Zimmers sah direkt festlich aus. Er war an diesem Tag mit einer weißen Tischdecke geschmückt. Darauf standen Salzstangen und eine Menge leerer Gläser. Drei rote Kerzen auf kleinen Holztellerchen gaben dem Raum etwas Gemütliches.

Die Stühle rings um den Tisch passten allerdings nicht zueinander. Sie gehörten sämtlichen Stilepochen der letzten fünfzig Jahre an und waren vorwiegend von der Hauswirtin entliehen. Aber das würde ihre Freunde wenig stören. Das wusste Grete.

Das Bett und der Schreibtisch im Hintergrund des Zimmers wurden von dem Kerzenlicht nicht erreicht. Das war auch gut so, fand Grete. Der Schreibtisch erinnerte nur an Arbeit – und daran wollte jetzt bestimmt keiner denken. Ins Bett aber würde sie vermutlich erst sehr spät kommen. Sie hoffte, ihren Freunden würde es bei ihr so gut gefallen, dass sie so bald nicht wieder nach Hause gehen würden.

Ein zweites Klingeln an der Haustür, diesmal länger und energischer als beim ersten Mal, ließ Grete zusammenfahren. Das waren bestimmt ihre ersten Gäste – und sie stand immer noch hier herum und betrachtete ihr Zimmer.

Grete rannte hinaus in den Flur. In diesem Moment zeigte sich ein mit Lockenwicklern verzierter Kopf im Türspalt, und die Stimme ihrer Zimmervermieterin sagte vorwurfsvoll: »Wollen Sie nicht endlich aufmachen, Fräulein von Magnus? Sie können doch von mir nicht verlangen, dass ich auch noch Ihre Gäste empfange …«

»Das erwarte ich auch gar nicht von Ihnen«, beeilte sich Grete zu versichern. »Ich hab nur noch einmal in meinem Zimmer nachgesehen, ob dort auch alles in Ordnung ist.«

Der lockenwicklergeschmückte Kopf mit dem schmollenden Gesichtsausdruck zog sich wieder zurück. Energisch wurde die Tür geschlossen, der Schlüssel zweimal herumgedreht. Grete vernahm es mit einem amüsierten Schmunzeln. Ob die gute Frau Schmelzer annahm, dass sich heute Nacht jemand in der Tür irrte? Nun, da brauchte sie keine Angst zu haben. Sehr viel Alkoholisches gab es auf der Party nicht. Die jungen Gäste würden samt und sonders nüchtern bleiben.

Als es zum dritten Mal an der Tür klingelte, fuhr Grete abermals schuldbewusst zusammen. Sie rannte die letzten Schritte durch den langen düsteren Flur und riss die Wohnungstür auf.

Ein junger Mann mit einem vorwurfsvollen Blick in den gutmütigen blauen Augen stand vor Grete. Er hielt ihr einen Strauß Frühlingsblumen entgegen und sagte tadelnd: »Ich dachte schon, du lässt mich bis zu deinem nächsten Geburtstag hier draußen warten. Ich habe deshalb bereits überlegt, wie ich die Ernährungslage bis dahin sichern könnte. Drunten an der Straßenecke gibt es einen Würstchenstand, ein wenig weiter befindet sich eine Kneipe. Vielleicht hätte ich es ein ganzes Jahr hier ausgehalten.«

Lachend zog Grete ihn in den dämmrigen Flur. »Nun meckre nur nicht, Ralph. Meine liebe Zimmerwirtin hat mir gerade einen Vortrag gehalten. Du bist ebenfalls Student, und du weißt, wie wichtig die Launen unserer Zimmervermieterinnen sind.«

»Und ob ich das weiß«, seufzte der Neuankömmling. Dann beugte er sich herab und gab Grete einen herzhaften Kuss auf die Wange. »Zuerst einmal herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag, teure Kommilitonin. Wie alt bist du denn heute geworden?«

»Aber Ralph, eine Dame fragt man doch nicht nach ihrem Alter«, tadelte Grete und verbiss sich das Lachen.

»Für mich bist du keine Dame. Für mich bist du ein feiner Kumpel«, entgegnete Ralph ungerührt. »Und nun führe mich endlich zu den Fleischtöpfen Ägyptens. Ich habe seit drei Tagen nichts mehr gegessen. Aber nur, um heute Abend genügend Hunger zu haben.«

»Da muss ich dich enttäuschen. Vorläufig gibt’s nur Salzstangen«, sagte Grete. »Die belegten Brote stehen noch im Kühlschrank.«

»Und wo befindet sich der?«, erkundigte sich Ralph interessiert.

»Das wird nicht verraten.« Grete lachte. »Sonst futterst du ihn allein leer. Im Übrigen bin ich heute zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Und nun marsch in mein Zimmer. Du darfst dich schon mal mit Cola und Kognak bedienen. Aber möglichst viel Cola und wenig Kognak. Ich habe nur eine Flasche von dem kostbaren Getränk.«

»Schade!«, seufzte Ralph. »Ich wollte mich doch gerade dem Trunk ergeben, nachdem ich mich bereits dem Greisenalter nähere und im nächsten Jahr fünfundzwanzig werde – im Gegensatz zu deinen jungfräulichen zweiundzwanzig.«

Ralph hätte vermutlich noch eine ganze Weile weitergeflaxt, wenn es in diesem Moment nicht erneut an der Tür geläutet hätte.

Grete schob ihren ersten Besucher in ihr Zimmer, dann öffnete sie die Wohnungstür wieder.

Vor ihr stand Sascha von Schoenecker. Er schwenkte mit vergnügtem Gesicht eine Sektflasche in der Hand.

»Herzlichen Glückwunsch, Geburtstagskind«, sagte er lachend und drückte Grete fest die Hand. »Lass dich mal anschauen, wie du heute aussiehst.« Er betrachtete sie prüfend von oben bis unten. Dann stellte er tadelnd fest: »Du siehst noch genauso aus wie gestern. Dabei solltest du endlich die Würde deiner Jahre auch nach außen zeigen. Man hält dich bestenfalls für einen gut erhaltenen Teenager.« Damit drückte er Grete die Flasche in den Arm. »Hier, damit wir nachher auf das Geburtstagskind anstoßen können. Wenn jeder nur einen kleinen Schluck abkriegt, reicht es bestimmt für alle.«

»Aber Sascha«, tadelte Grete, »ich hab euch doch extra gesagt, dass ihr nichts mitbringen sollt. Schließlich haben wir doch alle nicht sehr viel Geld und …«

»Pst«, machte Sascha und presste den Zeigefinger gegen die Lippen. »Widerspruch abgelehnt, Angeklagte.«

Dann ließ auch er sich in Gretes Zimmer führen, wo Ralph gerade die Gläser mit den aufrechtstehenden Salzstangen inspizierte.

In diesem Moment klingelte es wieder an der Tür. Gretes Freunde und Freundinnen trafen nun in beinahe regelmäßigen Abständen ein. Grete führte sie alle in ihr Zimmer. Allmählich begannen die Stühle knapp zu werden. Man setzte sich kurzerhand auf das Bett und nahm sein Glas, in dem sich meistens, wie Grete gefordert hatte, sehr viel Cola und sehr wenig Kognak befand, mit.

Jemand hatte ein Tonbandgerät mitgebracht. Es produzierte flotte Rhythmen, und die jungen Leute wippten mit den Füßen dazu. Einige von ihnen hätten gern getanzt, aber dazu war der Platz wirklich zu knapp.

Trotzdem war die Stimmung ausgezeichnet. Man unterhielt sich, man diskutierte – oder man hörte ganz einfach der Musik zu. Man brauchte wirklich keinen Alkohol, um vergnügt zu sein. Nicht in diesem Alter.

Etwas später ging Grete hinaus in die Küche und holte die Platten mit den belegten Broten aus dem Kühlschrank.

Als sie damit ins Zimmer trat, wurde sie mit einem begeisterten »Ah!« und »Oh!« empfangen.

»Das ist genau das Richtige für hungrige Studentenmägen!« behauptete Ralph und rollte dramatisch die Augen.

Die Platten leerten sich mit Windeseile.

Es war bereits kurz nach zehn Uhr, als es noch einmal an der Tür klingelte.

Gretes Gäste blickten sich verwundert an. »Nanu, sind wir noch nicht komplett?« erkundigte sich eine von Gretes Freundinnen. »Wolltest du uns als späte Überraschung einen besonders tollen Mann präsentieren? Ich finde diese Idee ausgesprochen gut, mein liebes Kind. Aber beschlagnahme ihn ja nicht den ganzen Abend für dich allein. Wir sind schließlich auch noch da.«

Grete gelang es einfach nicht, auf diesen leichten Ton einzugehen. Sie hatte plötzlich ein merkwürdig ziehendes Gefühl in der Magengegend. So, als habe sich mit dem Klingeln ein Unheil angekündigt.

»Das ist doch Quatsch!« versuchte sie sich selbst Mut zu machen. Dann ging sie hinaus, um die Wohnungstür zu öffnen.

Auf der Schwelle stand ein Postbote. Er hielt Grete ein Telegramm entgegen. »Grete von Magnus?« erkundigte er sich noch einmal sicherheitshalber.

Das junge Mädchen nickte nur. Es war unfähig, einen Ton herauszubringen.

Der Mann tippte an seine Mütze und rannte die Treppe wieder hinab.

Grete stand noch immer an der Tür und drehte den Umschlag in den Händen hin und her. Sie wagte es einfach nicht, ihn aufzureißen und zu lesen, was in dem Telegramm stand.

Plötzlich war dieses ziehende Gefühl in der Magengegend wieder da. Ein Telegramm, das konnte doch nur etwas Schlimmes bedeuten, dachte Grete.

Endlich gab sie sich einen Ruck und riss den Umschlag auf. Mit zitternden Fingern entfaltete sie das Blatt. VATER VERSTORBEN STOP KOMM SOFORT ZURÜCK STOP VERENA

Das Blatt entglitt Gretes zitternden Fingern und flatterte zu Boden. Grete fühlte sich so schwach in den Knien, dass sie sich gegen die Türfüllung lehnen musste.

In diesem Moment wurde die Tür ihres Zimmers geöffnet. Sascha von Schoenecker schaute in den Flur. Als er das leichenblasse Gesicht des Mädchens sah, daneben den weißen Bogen, da ahnte er, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste.

Sascha bückte sich, hob das Blatt auf und überflog mit einem Blick die wenigen Worte. Dann legte er den Arm um Gretes Schulter und sagte mit teilnahmsvoller Stimme: »Ich kann mir vorstellen, wie dir jetzt zumute ist. Gibt es hier in der Wohnung einen stillen Raum, in den ich dich bringen kann?«

Grete schüttelte nur den Kopf. Dann riss sie sich zusammen und antwortete mit kaum vernehmlicher Stimme: »Lass nur, Sascha, mir wird schon gleich wieder besser sein. Es war nur der erste Schock, weißt du.« Sie stützte den Kopf in die Hand, als sei ihr plötzlich schwindlig geworden.

Saschas Arm umfasste sie fester. »Ich bleib bei dir«, sagte er tröstend. »Du kannst jetzt unmöglich zu den anderen gehen. Sie werden natürlich Fragen stellen. Aber es ist doch zu schmerzlich für dich, gerade in diesem Moment Antwort geben zu müssen.«

»Einmal muss es ja doch sein«, meinte Grete. Dann löste sie sich von Saschas Arm und ging aufrecht den Flur entlang. Als sei nichts geschehen, öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer.

Für einen Moment verstummte drinnen das Gespräch. Alle schauten den beiden entgegen. »Na, wo bleibt der tolle Mann?« schrie Gretes Freundin. Dann schien auch sie das totenbleiche Gesicht der Gastgeberin zu bemerken. »Was ist?« fragte sie ängstlich.

An Gretes Stelle antwortete Sascha: »Sie hat gerade ein Telegramm bekommen. Es ist …« Sascha räusperte sich. »Ihr Vater ist gestorben. Sie soll sofort nach Hause kommen.«

Die jungen Leute sprangen auf und umringten Grete. »Können wir etwas für dich tun? Soll ich dich irgendwohin bringen? Mein Wagen steht drunten vor der Tür! Mein Gott, Grete, ausgerechnet heute …« So schwirrte es durcheinander.

Ralph nahm Sascha das Telegramm aus der Hand und las die zwei Sätze. Dann erkundigte er sich verständnislos: »Wer ist denn diese Verena eigentlich?«

»Meine Stiefmutter«, antwortete Grete mit weißem Gesicht.

»Auch das noch«, murmelte Ralph.

»War dein Vater krank?« wollte eines der Mädchen wissen. »Das scheint alles sehr überraschend für dich gekommen zu sein, nicht wahr?«

Grete nickte mechanisch. »Ja. Allerdings wusste ich, dass Vater ein schwaches Herz hatte. Lange schon. Aber der Arzt meinte, wenn er sich schone, könne er mit seinem Herzen hundert Jahre alt werden. Doch nun ist er nur zweiundfünfzig geworden.« Grete legte die flache Hand gegen die Stirn. Sie hätte so gern geweint. Tränen hätten ihre innere Spannung gelöst. Aber ihre Augen blieben trocken.

»Hast du noch Geschwister?« forschte eines der Mädchen.

Mit fiebrigem Blick schaute Grete die jungen Leute rings um sich an. »Das ist es ja gerade, worüber ich mir solche Gedanken mache«, rief sie verzweifelt. »Ich habe noch einen kleinen Bruder – Fritz. Er ist erst fünf Jahre alt. Unsere Mutter starb kurz nach seiner Geburt.«

»Aber um den Jungen wird sich doch sicher eure Stiefmutter kümmern«, versuchte ein Kommilitone Grete zu beruhigen.

Doch die schüttelte heftig den Kopf. »Verena konnte den Jungen noch nie ausstehen«, erklärte sie gequält. »Solange unser Vater lebte, konnte sie ihren Hass auf den Jungen allerdings nicht offen zeigen. Aber jetzt, nachdem Vater tot ist, jetzt wird Fritz zu Hause die Hölle haben. Dabei ist er ein so lieber Kerl, schrecklich anhänglich.«

Endlich kamen die Tränen. Wie ein Sturzbach liefen sie über das schöne Gesicht des jungen Mädchens. Grete versuchte die Tränen mit dem Handrücken wegzuwischen. Aber es kamen immer wieder neue.

Abermals legte Sascha den Arm tröstend um die Schulter des jungen Mädchens. »Um deinen kleinen Bruder brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, begann er. »Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

Grete schaute aus tränenblinden Augen zu ihm auf. »Ja?« fragte sie mit tonloser Stimme.

»Du hast doch einmal meine Mutter und meine beiden jüngeren Brüder kennengelernt, nicht wahr?«

»Ja, schon, aber …«

»Meine Mutter leitet das Kinderheim Sophienlust. Eigentlich gehört es meinem Bruder Nick. Aber meine Mutter verwaltet es für ihn, bis er einundzwanzig Jahre alt ist.«

»Ein Kinderheim?« wiederholte Grete skeptisch. »Ich glaube nicht, dass Fritz von diesem Vorschlag sehr angetan sein wird.«

Ruhig erwiderte Sascha: »Bring ihn doch erst mal nach Sophienlust. Bis jetzt waren noch alle Kinder begeistert von dem Heim. Weshalb sollte ausgerechnet dein kleiner Bruder eine Ausnahme machen? Erst recht, wenn eure Stiefmutter ein solcher Drachen ist?«

»An deine Mutter erinnere ich mich noch gut«, sagte Grete nachdenklich, »obgleich ich doch nur ein paar Worte mit ihr gewechselt habe. Sie war sehr nett. Und deine beiden Brüder auch.«

»Na, siehst du.«

»Aber ich kann doch Fritz nicht einfach zu deiner Mutter bringen«, gab Grete zu bedenken. »Vielleicht hat sie gar keinen Platz für ein neues Kind.«

Mit einem leisen Lächeln antwortete Sascha: »Du kennst eben meine Mutter nicht. Wenn kein Platz ist, dann schafft sie ganz einfach welchen.«

Grete griff nach einem Papiertaschentuch, das ihr eines der Mädchen reichte, und wischte sich damit die letzten Tränen vom Gesicht. Sehr leise sagte sie: »Ich wäre wirklich froh, wenn Fritz zu deiner Mutter käme, Sascha. Du hast ja keine Ahnung, was der arme Kerl im letzten Jahr hat durchmachen müssen.«

»Ich werde gleich morgen früh mit meiner Mutter telefonieren«, versprach Sascha. »Ihre Antwort kenne ich aber schon im Voraus: Bringt den Jungen nur her, wird sie sagen.«

»Leg dich erst einmal hin und schlafe«, riet einer von Gretes Besuchern. »Ich hab dir ja vorhin schon angeboten, dass ich dich hinfahre, wohin du möchtest. Nach Saschas Vorschlag würde ich sagen, ich hole dich morgen früh ab, bringe dich zu deinem Bruder – und dann geht’s gemeinsam nach Sophienlust. Wenn es deinem Bruder dort nicht gefallen sollte, können wir ihn noch immer zurückbringen.«

Grete nickte mechanisch. »Das ist wirklich sehr nett von euch«, murmelte sie. »Ich glaube allerdings nicht, dass ich heute Nacht schlafen kann. Dazu bin ich noch viel zu aufgeregt.«

Eines der Mädchen kramte in seiner Handtasche und brachte ein Röllchen Schlaftabletten zum Vorschein. »Die habe ich vorhin erst aus der Apotheke geholt. Davon schluckst du jetzt auf der Stelle zwei Stück.« Sie nahm ein Wasserglas und füllte es zur Hälfte mit Sprudel. »Hier, alles auf einen Schluck runter!« befahl sie.

Gehorsam würgte Grete die Tabletten hinab und trank Wasser nach.

»Und nun alle Männer hier raus!« kommandierte das Mädchen weiter. »Grete soll sich jetzt hinlegen und schlafen. Wir weiblichen Wesen besorgen in der Zwischenzeit den Abwasch, damit Grete morgen früh nicht vor einem Berg schmutzigen Geschirrs steht, wenn sie losfahren will.«

Die jungen Männer verabschiedeten sich mit einem mitleidigen Blick und einem festen Händedruck von der Gastgeberin. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann – du weißt ja, wo ich tagsüber anzutreffen bin«, lautete beinahe jeder Abschiedsspruch.

Nur Sascha sagte ernst: »Mach dir keine Gedanken mehr, Grete. Meine Mutter bringt das bestimmt in Ordnung. Sie hat schon ganz andere Probleme bewältigt.«

Nachdem die jungen Männer die Wohnung verlassen hatten, wollte Grete den Mädchen beim Abwasch helfen. Doch sie wurde sehr energisch in Richtung Bett geschoben.

»Du legst dich jetzt sofort hin!« befahl Gretes Freundin. »Mit dem schmutzigen Geschirr werden wir auch allein fertig.«

Während Grete sich auszog und in ihr Bett schlüpfte, stellten die Mädchen die gebrauchten Gläser auf ein Tablett und verschwanden damit in der Küche. Die letzte, die aus dem Zimmer ging, knipste das Licht aus.

Nun war Grete endlich allein. Doch sie wusste, dass sie trotz der Schlaftabletten noch lange nicht einschlafen würde.

Plötzlich sah sie wieder das Gesicht ihres Vaters vor sich, so, wie sie es zuletzt gesehen hatte. Das war vor einem Monat gewesen, an Vaters Geburtstag. Damals war Grete sehr erschrocken über das Aussehen ihres Vaters. Wie ein Greis hatte er gewirkt. Krank hatte er nicht ausgesehen. Aber sehr müde und sehr enttäuscht.

Am Abend hatte Grete allein mit ihrem Vater in der Bibliothek gesessen. Verena hatte sich mit einem Buch zurückgezogen und mit der bissigen Bemerkung: »Ich möchte das Familienidyll natürlich nicht stören.« Keiner hatte ihr darauf geantwortet.

Ihr Vater hatte in dem bequemen Lehnstuhl vor dem offenen Kamin Platz genommen und mit kaum vernehmlicher Stimme gesagt: »Ich habe einen großen Fehler begangen, Grete. Falls man es einen Fehler nennen kann, wenn ein Fünfzigjähriger sich in ein Mädchen verliebt, das seine Tochter sein könnte.«

Ruhig hatte Grete darauf geantwortet: »Auch einem Mann von fünfzig Jahren steht noch das Recht auf eine zweite Ehe zu. Wie alt die Frau ist, spielt dabei doch keine so große Rolle. Entscheidend ist allein, was man füreinander empfindet. Das ist zumindest meine Meinung, Vater.«

Er hatte nachdenklich genickt. »So dachte ich auch. Und im Grunde stimmt es. Entscheidend sind die Gefühle. Nur habe ich leider viel zu spät bemerkt, welche Gefühle Verena in Wahrheit hegt. Zuerst glaubte ich natürlich, sie liebe mich genauso wie ich sie. Sie tat zunächst auch alles, um mir dies zu beweisen. Aber nach der Hochzeit rückte sie nach und nach mit der Wahrheit heraus. Nicht der Mensch Friedrich von Magnus hatte ihr gefallen, sondern sein alter Name, das Gut und das viele Geld, das sie hinter allem vermutete. Ich hatte Verena zwar schon früher gesagt, dass unser Vermögen nicht mehr groß ist, dass es eigentlich nur noch aus dem Waldgebiet hinter dem Gutshaus besteht und dass wir auch diesen Bezirk demnächst verkaufen müssten, um einigermaßen leben zu können. Aber sie scheint es nicht geglaubt zu haben.«

»Wie reagierte sie darauf?« hatte sich Grete atemlos erkundigt.

»Sie lachte. Sie glaubte natürlich, ich übertreibe. Ich wollte jedoch hören, dass ihr am Geld überhaupt nichts liege, sondern nur an mir. Das sagte sie mir schließlich auch, und ich war dumm genug, es ihr zu glauben.«

»Sie kann sich doch scheiden lassen. Wenn sie glaubt, dass sie falsch gewählt hat, steht ihr der Weg zum Anwalt doch frei.«