Sophienlust Extra 58 – Familienroman - Gert Rothberg - E-Book

Sophienlust Extra 58 – Familienroman E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die neue Ausgabe Sophienlust extra wird alle Freunde und Sammler dieser Serie begeistern. Sämtliche Romane, die wir in dieser neuen Ausgabe veröffentlichen, sind Kelter-Erstdrucke. So haben alle Leserinnen und Leser die Möglichkeit, die Lücken in ihrer Sophienlust-Sammlung zu schließen. Esther Antek unterhielt sich mit Dr. Berger. Die fünfjährige Violetta trippelte währenddessen ungeduldig von einem Bein auf das andere. Reisende hasteten an den dreien vorbei, schleppten ihre Koffer oder schoben die Wägelchen mit dem Gepäck vor sich her. Mancher Mann schaute bewundernd die junge Frau in der schwarzen Trauerkleidung an, deren kastanienbraunes Haar sogar in der Bahnhofshalle wie Kupfer leuchtete. Esther reichte dem Arzt nun die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind, um sich von mir und Violetta zu verabschieden.« »Wir werden den Zug noch versäumen, Mutti!«, rief die Fünfjährige aufgeregt und wollte die Mutter zum Waggon ziehen. Das Gepäck der beiden war von Dr. Berger bereits in einem Abteil untergebracht worden. Dr. Hanspeter Berger lächelte die Kleine beruhigend an. »Ihr habt noch ganze zwei Minuten Zeit, Violetta.« »Die sind im Husch vorbei, und wir stehen hier, während meine Kinder davonfahren.« Violettas Kinder waren sieben Plüschtiere, von denen sie sich nie trennte. Sie nahm sie mit ins Bett, setzte sie beim Essen an den Tisch und unterhielt sich mit ihnen. Violetta reichte dem Doktor die Hand, wenn auch mit trotzigem Gesicht. Sie hatte ihm noch nicht verziehen, dass er ihr den Wunsch, ihr Kletterseile ins Gebirge mitzugeben, lachend ausgeschlagen hatte. »Dazu bist du noch viel zu klein, Violetta«

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Sophienlust Extra – 58 –

Ich bleibe bei dir, Mutti

Violetta glaubt ganz fest an ein Wunder!

Gert Rothberg

Esther Antek unterhielt sich mit Dr. Berger. Die fünfjährige Violetta trippelte währenddessen ungeduldig von einem Bein auf das andere. Reisende hasteten an den dreien vorbei, schleppten ihre Koffer oder schoben die Wägelchen mit dem Gepäck vor sich her. Mancher Mann schaute bewundernd die junge Frau in der schwarzen Trauerkleidung an, deren kastanienbraunes Haar sogar in der Bahnhofshalle wie Kupfer leuchtete.

Esther reichte dem Arzt nun die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind, um sich von mir und Violetta zu verabschieden.«

»Wir werden den Zug noch versäumen, Mutti!«, rief die Fünfjährige aufgeregt und wollte die Mutter zum Waggon ziehen. Das Gepäck der beiden war von Dr. Berger bereits in einem Abteil untergebracht worden.

Dr. Hanspeter Berger lächelte die Kleine beruhigend an. »Ihr habt noch ganze zwei Minuten Zeit, Violetta.«

»Die sind im Husch vorbei, und wir stehen hier, während meine Kinder davonfahren.« Violettas Kinder waren sieben Plüschtiere, von denen sie sich nie trennte. Sie nahm sie mit ins Bett, setzte sie beim Essen an den Tisch und unterhielt sich mit ihnen.

Violetta reichte dem Doktor die Hand, wenn auch mit trotzigem Gesicht. Sie hatte ihm noch nicht verziehen, dass er ihr den Wunsch, ihr Kletterseile ins Gebirge mitzugeben, lachend ausgeschlagen hatte. »Dazu bist du noch viel zu klein, Violetta«, hatte er erklärt und damit ihr kindliches Selbstbewusstsein verletzt. Nur widerwillig ließ sie nun zu, dass er sie hochhob und ihr einen Kuss auf die Nase gab.

Esther ergriff noch einmal das Wort. »Grüßen Sie Ihre Schwestern von mir, Dr. Berger. Und noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe, die über Ihre Pflicht als Hausarzt weit hinausging.«

»Früher war der Hausarzt auch der Freund der Familie, Frau Antek. In dieser Hinsicht bin ich altmodisch.«

Bleiben Sie es, Dr. Berger, sagte ihm ihr Blick und ihr wehmütiges Lächeln. Vor zwei Wochen erst hatte Esther ihren Mann zu Grabe getragen, der in der Fabrik bei einem Versuch seiner neuen Erfindung tödlich verunglückt war. Dr. Berger war sofort an die Unfallstelle geeilt und hatte Rolf die Augen zugedrückt. Ihm hatte er nicht mehr helfen können, aber ihr und Violetta. Auf seinen Rat fuhr Esther nun mit Violetta nach Gössl am Grundlsee, wo der Arzt selbst Jahr für Jahr während des Urlaubs in den Bergen herumkletterte und sich von seinem aufreibenden Beruf erholte.

»Sie werden selbst fühlen, welch beruhigenden Einfluss die Berge auf uns kleine Menschen haben, Frau Antek. Man fühlt sich weniger wichtig angesichts ihrer erhabenen Größe.« Dr. Berger errötete und lächelte über sich selbst. »Wenn ich von den Bergen spreche, gerate ich in Begeisterung und werde sentimental. Leben Sie wohl, Frau Antek!«

Violetta kletterte behend die Treppe des Waggons hinauf, Esther folgte ihr etwas langsamer. Sie hob noch einmal grüßend die Hand, lächelte Dr. Berger an und entschwand seinen Blicken. Violetta machte es sich sofort auf ihrem Fensterplatz bequem. Sie setzte ihre ›Kinder‹ ordentlich in Reih und Glied auf und ermahnte sie, sich gesittet zu benehmen. »Wenn ihr auf die Toilette müsst, dann sagt es mir rechtzeitig. Wir wohnen in Gössl in einem Hotel. Da kann ich nicht immer eure Sachen waschen. Habt ihr das begriffen?«

Die Kinderschar starrte mit Glasaugen ungerührt vor sich hin. Violetta störte das nicht. »Danke schön, dass ihr so vernünftig seid. Ihr seid sicher auch so müde wie ich.« Die Kleine gähnte laut und kuschelte sich in das Polster. Sie war an diesem Tag zu ungewohnt früher Stunde von der Mutter geweckt worden. Die Lider fielen ihr über die veilchenblauen Augen. Sie schlief ein.

Esther legte behutsam ihren Mantel über das Kind und lehnte sich selbst mit geschlossenen Augen zurück. Sie lauschte dem Gesang der rollenden Räder, die sie forttrugen von ihrer Vergangenheit, von Rolfs Grab, von der Wohnung, die ihr ohne ihren Mann wie ein Mausoleum erschien. Sie wusste, Dr. Berger hatte recht. Sie musste Abstand gewinnen, begreifen lernen, dass kein Mensch vor dem Tod sicher war, dass Rolfs Tod ein schneller und gnädiger gewesen war und dass ihr selbst eine große Aufgabe geblieben war. Die Aufgabe, Rolfs Kind, seine Violetta, in seinem Sinne zu erziehen. In ihr würde auch Rolf unvergänglich bleiben.

Esthers Gedanken wanderten zurück zu jener Stunde, da sie ihrem einzigen Kind das Leben geschenkt hatte. Rolf hatte entsetzt das Greisengesichtchen betrachtet und dann voller Stolz gesagt: »Schön ist sie nicht, aber sie hat die violetten Augen der Anteks.« Damit war der Name bestimmt gewesen, und schon wenige Tage später hatte er sein Töchterchen für das wunderschönste und entzückendste Wesen gehalten, das jemals geboren worden war. Auch die Nörgelei von Martha, der Frau seines Bruders Markus, die damals schwanger gewesen war, hatte seinen Vaterstolz nicht ersticken können. »Ich hoffe, ich bringe nicht auch so ein dürftiges Würstchen zur Welt«, hatte Martha gesagt … Kein Wunder bei dieser Figur. Esther hat Hüften wie ein Mann.«

Esther dachte an ihre Schwägerin. Sie wusste, Markus wäre sicher gern zum Zug gekommen, aber Martha hatte es ihm nicht erlaubt. Ob es mir gelingen wird, ihre Eifersucht auf mich endlich zu beseitigen, fragte sich Esther. Sie hat noch ihren Mann, ich aber bin Witwe. Welchen Grund hätte sie noch, mich zu beneiden?

*

Martha Antek hatte dafür viele Gründe. Sie dachte an ihre Schwägerin, während sie in der Küche stand und den Kaffee aufbrühte. Markus saß am Tisch und überflog die Zeitung.

»So schön wie Esther möchte ich es auch einmal haben«, nörgelte Martha. »Statt am Grab ihres Mannes zu bleiben, wie es sich für eine anständige Witwe gehört, fährt sie weg, um sich zu amüsieren.«

»Um zu vergessen«, begütigte Markus Antek seine Frau.»Ist der Kaffee bald fertig?«

»Wenn du mir endlich eine Kaffeemaschine kaufen würdest, ginge es schneller!«, begehrte sie auf und widmete sich den Spiegeleiern.

»Ich mag den Filterkaffee«, gab er zurück. »Auf die Eier könnte ich gern verzichten.«

»Ein Handwerker, der so schwer arbeiten muss wie du, braucht ein nahrhaftes Frühstück. Dein Bruder Rolf, der vornehme Herr Ingenieur, konnte es sich leisten, auf seine Figur zu achten. Abgesehen davon wäre Esther viel zu bequem gewesen, ihm morgens schon Eier zu braten.«

Markus Antek war ein gutmütiger Mensch. Er ging auf die Sticheleien seiner Frau selten ein, sondern bemühte sich, ihre Vorzüge anzuerkennen und ihre Fehler zu übersehen.

»Dr. Berger hat Esther diese Reise empfohlen, Martha.«

»Ich habe mich darüber gewundert, dass er sie weggeschickt hat. Er ist doch in sie verknallt. Das sieht ein Blinder. Ich wette, er fährt ihr bald nach.«

Markus seufzte. »Warum hast du nur an Esther immerzu etwas auszusetzen? Ist sie nicht eine gute Schwägerin und eine großzügige Tante unseres Susannchens?«

Martha stemmte die Fäuste auf die ausladenden Hüften. »Großzügig nennst du das, dass sie unserer Susanne zweitausend Euro aus dem Erbe deines Bruders geschenkt hat? Alles andere hat sie selbst eingesackt. Es war ein Almosen, das dich eigentlich beschämen müsste.

Schließlich hat Rolf studieren dürfen, während deine Eltern für dich nur eine Installateurlehre bezahlten. Immer wurde dein Bruder dir vorgezogen!«

Markus’ Kinnbacken mahlten. Bei der allzu reichlichen Ernährung seiner Frau hatte er zwanzig Kilo Übergewicht. Sein Atem ging schwer. »Hör mit dieser alten Leier auf, Martha! Tausendmal habe ich dir schon gesagt, dass Rolf immer der Klassenbeste war und ich das Schlusslicht. Er hatte das Recht auf ein Studium. Er war begabt und fleißig, ich liebte körperliche Arbeit und war bequem beim Lernen. Ich bin mit meinem Leben zufrieden, und du könntest es auch sein. Ich verdiene gut, sodass wir uns alles leisten können. Wir haben einen Luxuswagen, während Rolf sich mit einem Mittelklassewagen begnügte.«

»Dafür verkehrte er mit Professoren und …« Sie schwieg, als sie Markus’ finsteres Gesicht sah. Sie wusste, dass es gefährlich war, ihn weiter zu reizen. Er war gutmütig, aber wenn sie die Grenze überschritt, konnte er zu einem feuerspeienden Vulkan werden.

Martha stellte den Kaffeekrug auf den Tisch, ließ die Spiegeleier in den Teller gleiten und sagte hastig: »Ich will nach Susannchen sehen. Vielleicht hat das Kind sich aufgedeckt. Die feuchte Aprilluft kann Kindern leicht gefährlich werden.« Sie verschwand im Kinderzimmer.

Markus Antek beendete hastig sein Frühstück. Er hörte Martha nebenan mit seiner viereinhalbjährigen Tochter sprechen. Er hatte schon die Türklinke in der Hand, als er sich umwandte und zu Susanne ging. Was konnte sie für den Ärger, der in ihm wühlte? Er hob sie hoch, als sie ihm im Nachthemdchen entgegenwatschelte. Auch sie wurde von Martha gemästet und glich einem rosigen Ferkelchen mit ihrem runden Gesicht und den Grübchen auf den Wangen. Darüber strahlten die violettfarbenen Augen der Anteks. Jeder vergaß beim Anblick dieser Augen die Speckfalten am Hälschen des Kindes und dessen ungraziösen Gang. Markus hoffte sehr, dass Martha durch ihre Eifersucht und die bildhübsche Nichte Violetta und deren schlanke Mutter eines Tages dazu übergehen würde, weniger Butter und Speck in der Küche zu verwenden. Alles Zureden von seiner Seite hatte bisher nichts genützt. Martha konnte starrsinnig sein wie ein Esel, wenn man an ihre Grundsätze tastete. Und der wichtigste für sie hieß: Eine reichliche Nahrung ist gesund. Man muss Vorsorge treffen, damit der Körper bei Krankheit von seinen Reserven zehren kann.

Markus stellte die Kleine zurück auf den Boden, nickte seiner Frau zu und verließ die Wohnung. Susannchens Geplapper hörte er noch im Hausflur. Darüber vergaß er seinen morgendlichen Ärger und begrüßte freundlich seine zwei Gesellen, die ihn in der Werkstatt bereits erwarteten.

*

Esther Antek und ihr Töchterchen wurde im Enzian-Hotel in Gössl vom Portier erwartet und in ihr hübsches sonniges Zimmer mit Seeblick geführt. Es war sieben Uhr morgens, und die Sonne zauberte goldene Streifen auf die ruhig daliegende Wasseroberfläche des Sees. Hinter dem Hotel schoben sich die Berge, mächtigen Burgen gleich, in den wolkenlosen Himmel. Esther fielen die Abschiedsworte Dr. Bergers wieder ein: ›Man fühlt sich weniger wichtig angesichts ihrer erhabenen Größe.‹

Esther spürte es in ihrem Herzen, und auch Violetta schien stark beeindruckt zu sein. Mit großen Augen schaute sie abwechselnd den See und die noch vom Schnee bedeckten Gipfel an. »Ich glaube, der Herr Doktor hatte doch recht. Die sind ja viel größer als ich, Mutti.«

Ein zärtliches Lächeln huschte über Esthers Gesicht. »Wir werden auch ohne Kletterseile hinaufspazieren, Violetta. Es gibt überall Wege. Jetzt aber wollen wir erst noch einige Stunden Schlaf nachholen. Du bist sicher müde.«

»Kein bisschen, Mutti. Können wir im See baden?«

»Du würdest eine Gänsehaut bekommen«, entgegnete Esther lachend. »Es ist erst April. Die Gewässer im Gebirge sind sehr kalt. Komm, wasch dich im Badezimmer.«

Violetta legte zuerst ihre Plüschlieblinge ins aufgeschlagene Bett. Dann wusch sie sich gründlich und stieg danach in das hochbeinige Bett. Eine halbe Stunde später schliefen sie und Esther friedlich.

Später kamen die beiden gerade zum Mittagessen zurecht. Es waren erst wenige Gäste im Hause, sodass sie sehr aufmerksam bedient wurden. Esther zog die Blicke der Erwachsenen im Speisesaal auf sich, besonders die der Herren. Sie registrierten, dass es sich bei der schönen jungen Frau mit dem herrlichen Haar der schwarzen Kleidung nach um eine Trauernde handle. Mancher versuchte einen Blick auf ihre rechte Hand zu ergattern. Sie trug zwei Eheringe. Sie war also Witwe. Das bedeutete, sie durften der Einsamen die Zeit vertreiben helfen.

Gegen zwei Uhr spazierten Esther und Violetta zum kleineren Toplitzsee. Sie gingen vorbei an bunten Marterln, überquerten auf einem schmalen Steg einen schäumenden Wildbach, tauchten in den Dom des Waldes ein. Die Luft war frisch und rein, die Ruhe köstlich. Kein Mensch war zu sehen. Esther war mit ihrem Kind allein und fühlte, dass sie hier Rolfs Tod überwinden und wieder Freude am Leben finden würde. Sie war Hanspeter Berger dankbar, der sie beinahe gezwungen hatte, diese Reise zu unternehmen. Für Violetta war sie ein Erlebnis, für sie Balsam auf die Wunde, die der Tod ihres Mannes aufgerissen hatte. Sie musste nur Geduld aufbringen und die Wunde langsam heilen lassen.

»Woran denkst du, Mutti?«, unterbrach Violetta ihre Gedanken. »An Vati? Schade, dass er sterben musste. Es hätte ihm sicher hier genauso gefallen wie mir. Schau, da ist ein Loch. Ob ein Fuchs da drinnen sitzt, Mutti?«

»Da passt nur ein Mäuslein hinein«, antwortete Esther lachend.

»Wie heißt der Berg, auf den wir morgen kraxeln wollen, Mutti?«

»Feuerkogel, Violetta.«

»Heißt er so, weil dort oben immer ein Feuer brennt?«

Esther gab auf jede Frage eine Antwort, die der Fünfjährigen verständlich war. Nach einer Weile ließ sie sich mit Violetta auf einem morschen Baumstamm nieder, um sich auszuruhen. Dann gingen sie weiter zum kleinen Toplitzsee. Violetta warf flache Steinchen ins Wasser und jauchzte vor Freude, wenn diese über das Wasser sprangen.

»Warum gehen sie nicht unter, Mutti? Steine sind doch schwerer als Wasser.«

Esther suchte nach einer Erklärung.

»Aber ich würde doch glatt wegtauchen, wenn ich ins Wasser springen würde, Mutti?«

»Nicht, wenn du die Arme und die Beine bewegst, Violetta. Ich werde dir später das Schwimmen beibringen.«

»Fische und Frösche können auch schwimmen. Bringt das ihnen ihre Mutti bei?«

»Sie können es von sich aus. Sie werden damit geboren.«

»Dann bin ich dümmer als ein Fisch oder ein Frosch, Mutti?«

Und wieder suchte Esther nach einer passenden Antwort. Doch noch ehe sie diese gefunden hatte, war Violetta den Abhang hinuntergerutscht. Esther fuhr erschrocken hoch. Sie hörte ein Aufklatschen, sah eine Wasserfontäne und einen blonden Kopf und hörte den Schrei: »Mutti, ich ertrinke!« Dann war Violetta verschwunden.

Esther war für den Bruchteil einer Sekunde vor Angst erstarrt.

Endlich kam Leben in sie. Sie warf ihre Handtasche auf das Geröll und sprang in das eiskalte Wasser.

Die Brust schnürte sich ihr zusammen, sie rang nach Luft. Die Angst aber verlieh ihr Riesenkräfte.

Sie tauchte, sie suchte, schnappte nach Luft. Endlich hatte sie Violettas Kleid in ihren Händen, zog die Kleine hoch und bettete sie am Ufer auf das Geröll. Sie legte ihr Ohr auf das Herz, stellte fest, dass es nur schwach schlug, hob die Bewusstlose hoch, schüttelte sie und reizte den Magen zum Erbrechen.

Endlich schlug Violetta die Augen auf. Stotternd und leise sagte sie: »Ich bin doch dümmer als ein Fisch, Mutti. Ich muss mich schämen.«

»Mein kleiner törichter Frosch!« Esther weinte vor Erleichterung. Sie nahm das Kind auf den Arm und hetzte mit ihm zurück zum nächsten Haus. Der Besitzer, ein liebenswürdiger grauhaariger Herr, schaltete den elektrischen Ofen ein, reichte Esther und dem Kind zwei Bademäntel. Sie tranken einen heißen Tee und plauderten. Violetta schlief schließlich auf Esthers Schoß ein.

Der Hausherr sagte mit warmer Stimme: »Kennen Sie das Wort von Marie Ebner-Eschenbach über den Tod?«

Esther verneinte.

Ewald Weissenborn ging zum Bücherregal und griff nach einem blauen Heft. »Ich habe, als ich jung war, alle Sprüche aufgeschrieben, die mir nützlich erschienen. Der Spruch Marie Ebner-Eschenbachs erleichtert mir das Altern.«

Sie schaute ihn fragend an.

»Der Gedanke an die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge ist ein Quell unendlichen Leides und ein Quell unendlichen Trostes, sagte die Dichterin. Es ist eine große Hilfe für mich, mich mit dem Gedanken abzufinden, dass wir eines Tages alle sterben müssen.«

Esther schaute ihn voller Wehmut an. »Ich habe vor zwei Wochen meinen Mann verloren. Wir waren sehr glücklich mit unserem Kind. Es fällt mir schwer, Ihre seelische Reife zu erringen. Manchmal ist das Leben für mich unerträglich.«

»Und Ihr Kind?«

»Es bindet mich an das Leben.« Esther beugte sich über Violettas Köpfchen und küsste ihr Haar.

Wie viel Bedeutung diese wenigen Worte später gewinnen würden, wussten in diesem Moment weder Esther Antek noch der hilfsbereite alte Herr. Er brachte seine Gäste in seinem Wagen zum Hotel zurück und lud Esther ein, ihn wieder einmal zu besuchen.

Die Herren mittleren Alters, die in der Hotelhalle saßen, beneideten Ewald Weißenborn um das dankbare Lächeln, das die junge schöne Frau ihm beim Abschied schenkte. Zwei von ihnen rückten ihre Krawatte zurecht, einer versteckte seine etwas ungepflegten Hände hinter dem Rücken, der Forscheste unter ihnen aber marschierte auf Esther zu. »Sie scheinen ein unangenehmes Erlebnis gehabt zu haben, Gnädigste. Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein!«, erwiderte Esther frostig und fuhr im Lift hinauf in ihr Zimmer. Sie brachte Violetta zu Bett, saß dann bei ihrem schlafenden Kind und faltete dankbar die Hände. Sie wusste, hätte sie auch das Kind verloren, wäre ihr Leben sinnlos geworden. Dann hätte sie es abgestreift wie ein abgenutztes Kleid.

In dieser Nacht fand Esther keinen Schlaf. Sie lauschte tief in sich hinein. Der Schmerz um Rolf wuchs von Stunde zu Stunde, wurde überwältigend, unerträglich. Sie schlüpfte aus dem Bett, ging auf bloßen Füßen zum Fenster. Wie eine Gondel schwamm der Halbmond unter den Sternen dahin.

Gondel, dachte Esther. Sie hatte mit Rolf ihre Hochzeitsreise nach Venedig gemacht, wie unzählige andere junge Paare auch.

Die Erinnerung daran hatten sie sich bewahren wollen als Trost, wenn schwerere Stunden auf sie zukommen würden wie in jedem Menschenleben. Diese drei Wochen vollkommenen Glückes hatten das Kapital sein sollen, von dem sie beide hatten zehren wollen, wenn sie an ihrer Liebe zweifeln sollten. Doch Rolf war gegangen, ehe die Erinnerung daran getrübt worden war.

Esther stand am Bett, schaute auf das schlafende Kind hinab. Es war kurz nach fünf Uhr. Bald würde die Sonne aufsteigen wie damals in Venedig, als sie mit Rolf den Sonnenaufgang bewundert hatte. Sie dachte, ich werde zum Hüttenkogel hinaufsteigen. Wenn ich sehe, wie das Tagesgestirn sich erhebt, werde ich lernen, dass die Nacht stets dem Tage folgt, dass die Dunkelheit der Helle weicht. Ich werde reifen und die innere Ruhe erringen, die Herr Weissenborn besitzt.

Esther zog lautlos ihre Kleider über, beugte sich über die schlafende Violetta und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Sie stieg zum Feuerkogel hinauf, ließ den Hüttenkogel links liegen. Dem Nachtportier hatte sie zwar gesagt, dass sie den Sonnenaufgang bei der Zimitzhütte erleben wolle, doch die Erinnerung an Violettas Frage, ob auf dem Feuerkogel immer Feuer brenne, hatte sie ihren Vorsatz ändern lassen. Sie schritt zügig dahin, stieg am Wildbach empor, hörte das erste Zwitschern der Vögel. Als sie das Kanzlermoos erreicht hatte, schoss die Sonne ihre ersten roten Pfeile über den Himmel. Die Gipfel brannten. Rechts von ihr schien ein Rosengarten zu liegen. Esther näherte sich dem Abgrund. Fasziniert von dem wundervollen Schauspiel rings um sie achtete sie nicht auf die Gefahr. Sie vergaß Violetta, dachte nur noch an Rolf, an Venedig, an ihre Liebe – und kehrte nicht mehr zurück.

*

Gegen acht Uhr erwachte Violetta und rief nach ihrer Mutti. Aber sie erhielt keine Antwort.

Das Kind kletterte aus dem Bett, schaute im Badezimmer nach, öffnete die Tür zum Flur und rief leise: »Mutti, wo bist du?«