Sophienlust Extra 9 – Familienroman - Gert Rothberg - E-Book

Sophienlust Extra 9 – Familienroman E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die neue Ausgabe Sophienlust extra wird alle Freunde und Sammler dieser Serie begeistern. Sämtliche Romane, die wir in dieser neuen Ausgabe veröffentlichen, sind Kelter-Erstdrucke. So haben alle Leserinnen und Leser die Möglichkeit, die Lücken in ihrer Sophienlust-Sammlung zu schließen. "Nein, nein, ihr könnt diesmal nicht mitfahren!", rief Andrea von Lehn lachend, als sich die vier Dackel Waldi, Hexe, Pucki und Purzel um sie drängten. "Nur Severin wird mich nach Maibach begleiten", fügte sie hinzu und öffnete die Autotür, damit die schwarze Dogge hineinspringen konnte. Stolz legte sich Severin auf den hinteren Sitz. Waldi legte die Ohren zurück und lief mit eingezogenem Schwanz davon. Die Dackeline Hexe wartete noch einen Augenblick in der Hoffnung, dass es sich ihr Frauli doch anders überlegen würde. Aber dann schien sie zu begreifen, dass sie ihr Köpfchen nicht durchsetzen konnte. Sie folgte nun ihrem Dackelmann. Die beiden jungen Dackel Pucki und Purzel sprangen bereits wieder vergnügt auf der Wiese umher. Dr. Hans-Joachim von Lehn kam aus dem Haus. "Andrea, hier habe ich noch eine Liste von Medikamenten, die du mir unbedingt mitbringen musst." "Das werde ich tun." Andrea erwiderte den Blick ihres Mannes verliebt. "Wirst du ohne mich in der Praxis zurechtkommen? Gerade heute ist das Wartezimmer voll von kleinen Patienten." "Keine Sorge, mein Schatz, ich werd's schon schaffen", erklärte er fröhlich. "Fahr bitte vorsichtig und parke richtig.

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Sophienlust Extra – 9 –

Ein Armvoll Seligkeit

Wie die kleine Heidi nach Sophienlust kam

Gert Rothberg

»Nein, nein, ihr könnt diesmal nicht mitfahren!«, rief Andrea von Lehn lachend, als sich die vier Dackel Waldi, Hexe, Pucki und Purzel um sie drängten. »Nur Severin wird mich nach Maibach begleiten«, fügte sie hinzu und öffnete die Autotür, damit die schwarze Dogge hineinspringen konnte. Stolz legte sich Severin auf den hinteren Sitz.

Waldi legte die Ohren zurück und lief mit eingezogenem Schwanz davon.

Die Dackeline Hexe wartete noch einen Augenblick in der Hoffnung, dass es sich ihr Frauli doch anders überlegen würde. Aber dann schien sie zu begreifen, dass sie ihr Köpfchen nicht durchsetzen konnte. Sie folgte nun ihrem Dackelmann. Die beiden jungen Dackel Pucki und Purzel sprangen bereits wieder vergnügt auf der Wiese umher.

Dr. Hans-Joachim von Lehn kam aus dem Haus. »Andrea, hier habe ich noch eine Liste von Medikamenten, die du mir unbedingt mitbringen musst.«

»Das werde ich tun.« Andrea erwiderte den Blick ihres Mannes verliebt. »Wirst du ohne mich in der Praxis zurechtkommen? Gerade heute ist das Wartezimmer voll von kleinen Patienten.«

»Keine Sorge, mein Schatz, ich werd’s schon schaffen«, erklärte er fröhlich. »Fahr bitte vorsichtig und parke richtig. Sonst bekommen wir wieder einen Strafzettel.«

»Ich werde daran denken«, entgegnete sie sorglos. »Um diese Jahreszeit ist der Fremdenverkehr nicht mehr so stark. Ich werde bestimmt einen Parkplatz bekommen.« Sie winkte ihm zu und stieg in den Wagen.

Lachend kehrte der junge Tierarzt ins Haus zurück. Natürlich würde Andrea ihm heute Nachmittag fehlen, denn sie war sehr beliebt bei seinen vierbeinigen Patienten und auch bei ihren Besitzern. Zudem war sie eine tüchtige Assistentin, die ihm eine unentbehrliche Hilfe geworden war. Hans-Joachim war sehr glücklich, und er würde alles tun, dieses Glück seiner Ehe auch zu erhalten. Er öffnete die Tür zum Wartezimmer und rief: »Der Nächste, bitte!«

Ächzend erhob sich eine rundliche Dame mit hochroten Wangen. Zärtlich presste sie einen dicken Mops an ihren mächtigen Busen. »Guten Tag, Herr Doktor«, begrüßte sie den Arzt. »Mein Liebling ist seit Tagen ohne Appetit und lehnt selbst jeden Leckerbissen ab. Hoffentlich ist er nicht ernstlich krank!«

»Das werden wir gleich feststellen, liebe Frau Heimann«, erwiderte Hans-Joachim und nahm ihr den Hund ab.

Andrea fuhr währenddessen die von alten Kastanienbäumen gesäumte Landstraße entlang. Noch weilten ihre Gedanken bei ihrem Mann. Hoffentlich wird er auch tatsächlich ohne mich fertig, überlegte sie. Er verlässt sich doch in vielen Dingen ganz auf mich und weiß oft nicht, wo die Medikamente liegen. Aber ich werde mich beeilen. Vielleicht kann ich schon in einer Stunde wieder zurück sein.

Die ersten Häuser von Maibach tauchten jetzt auf. Kurz darauf bog Andrea in die Straße ein, die zum Marktplatz führte. Vor einem der schönen alten Giebelhäuser fand sie noch einen Parkplatz mit Parkuhr. Sie steckte ein Geldstück in den Schlitz und rief dann nach Severin. Die Dogge kam sofort angesprungen und wedelte freudig mit ihrer langen spitzen Rute. »Bleib schön bei Fuß, Severin«, bat Andrea und fuhr dem Hund liebevoll über den Kopf. Brav blieb Severin vor jedem Geschäft sitzen, das Andrea betrat, um einzukaufen.

»Severin, sitz!«, rief Andrea vor der Löwenapotheke und wandte sich um. Die Dogge blieb jedoch stehen, streckte den Kopf vor und lauschte. Dann schoss sie davon, hinein in eine Seitengasse.

»Severin! Severin!«, rief Andrea verärgert. Sie pfiff, aber der Hund kam nicht zurück. »Na, so was«, murmelte sie erstaunt. »Sicherlich hat er den aufregenden Duft einer läufigen Hündin in die Nase bekommen und glaubt nun, ihren Spuren folgen zu müssen.«

Andrea nahm sich vor, Severin gründlich die Leviten zu lesen, und bog in die Gasse ein, in der er verschwunden war. Schon von weitem hörte sie die Dogge kläffen, doch sie konnte sie nirgends sehen.

Andrea eilte weiter und bog in eine andere Seitenstraße ein. Da entdeckte sie den Hund. Er stand mitten auf der Straße und gebärdete sich wie toll.

»Severin! Komm her!«, rief Andrea aufgebracht. Der Hund drehte sich um und kam auf sie zugerannt. Doch auf halber Strecke kehrte er wieder um und bellte von neuem.

Inzwischen waren einige Leute aus den Häusern gekommen. Sie erreichten das Loch, in das Severin hineinbellte, zur gleichen Zeit wie Andrea. Es war ein Gully. Der Deckel lag daneben. Bauarbeiter hatten vergessen, ihn wieder auf den Gully zu legen.

»Mein Gott!«, rief eine der Frauen entsetzt. »Da unten hockt ja ein Kind!«

Andrea beugte sich vor und entdeckte auf dem Grund des Gullys in Schlamm und Wasser ein kleines Mädchen. Auch die anderen Leute schauten hinunter. Ein Polizist befand sich unter ihnen. Er rief: »Ich hole sofort Hilfe.«

Wie gebannt blickte Andrea noch immer hinunter, dann rief sie: »Bleib ganz still! Du wirst sofort heraufgeholt.«

Die großen blauen Kinderaugen schauten nach oben. Entsetzen war darin zu lesen, Entsetzen und Todesangst.

Schon hielt ein Streifenwagen neben dem Gully, Polizisten sprangen heraus. Dann ging alles sehr schnell. Das zitternde und verschmutzte kleine Mädchen stand gleich darauf neben der Dogge, die sich an das kleine Wesen herandrängte.

»Ich kümmere mich um das Kind«, bot Andrea an.

»Die Dogge hat das Kind gefunden!«, rief ein halbwüchsiger Junge.

»Sie hat ihm das Leben gerettet.«

»Ja, so ist es!« Alle blickten nun bewundernd auf den riesigen schwarzen Hund.

»Kennt jemand das Kind?«, fragte Andrea. Doch niemand meldete sich. Da bat Andrea: »Vielleicht könnte ich die Kleine irgendwo etwas säubern?«

»Aber ja, Frau von Lehn!«, rief die Apothekerin. »Kommen Sie nur ins Haus.«

Andrea hob die Kleine ungeachtet ihres Zustandes hoch und trug sie ins Haus. Noch immer hatte das Kind kein Wort gesagt. Andrea schätzte, dass es drei Jahre alt war.

»Was für ein hübsches Kind«, stellte die Apothekerin fest. »Es muss seiner Mutter fortgelaufen sein.«

»Wie heißt du denn?«, fragte Andrea, als sie im Badezimmer waren.

Das Mädchen lächelte plötzlich. Doch mehr geschah vorerst nicht. Andrea reinigte ihren Findling, so gut es ging, und kämmte dann das schulterlange hellblonde Haar. »Ich werde die Kleine erst einmal mitnehmen. Meine Mutter wird schon Rat wissen.«

»Ganz bestimmt«, versicherte die Apothekerin sofort, denn der gute Ruf Denise von Schoeneckers erstreckte sich weit übers Land. Allen war bekannt, dass sie das Kinderheim Sophienlust verwaltete, in dem bisher alle Kinder glücklich geworden waren.

»Bitte, seien Sie so nett und geben Sie mir noch diese Medikamente«, bat Andrea und reichte der Apothekerin den Zettel, den Hans-Joachim ihr ans Auto gebracht hatte.

Severin saß vor der Badezimmertür, während Andrea die Kleine säuberte. Auch später wich er nicht von der Seite des kleinen Mädchens. »Soll ich vielleicht die Polizei anrufen?«, schlug die Apothekerin vor, als sie die Medikamente brachte. »Sicherlich ist das Kind schon als vermisst gemeldet.«

»Die Polizei weiß ja schon Bescheid. Ich habe den Polizisten die Adresse von Sophienlust gegeben.«

Die Apothekerin nickte und begleitete Andrea und das Kind bis zum Wagen. Severin setzte sich neben die Kleine und ließ kein Auge von ihr.

»Keine Sorge, mein Lieber«, sagte Andrea lachend, »sie wird nicht mehr in den Gully fallen.«

Auf dem Weg nach Sophienlust begann das Kind nach seiner Mutter zu rufen. Doch Andrea gelang es, die Kleine zu beruhigen. »Willst du mir denn nicht sagen, wie du heißt?«, versuchte sie es wieder. »Wenn ich deinen Namen weiß, können wir deine Mutti schneller finden.«

»Ich heiße Heidi«, entgegnete das Kind endlich.

»Heidi? Was für ein hübscher Name. Weißt du auch, wie du mit Nachnamen heißt?«

»Heidi«, erwiderte die Kleine lakonisch. »Ich will zu meiner Mutti!«

Severin leckte Heidi über die Wange. Zutraulich patschte das Kind auf den Hals der Dogge. Daraufhin wedelte Severin voller Begeisterung mit dem Schwanz.

Andrea fuhr auf dem schnellsten Weg nach Sophienlust und hoffte nur, dass ihre Mutti zufälligerweise dort war.

*

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne bahnten sich einen Weg durch die Fensterscheiben des Zimmers im Gasthof »Zum Bären«, in dem sich ein junges Paar befand. Die junge Frau stand mit dem Rücken zum Fenster und blickte auf ihren Mann, der auf dem Bett saß.

»Bitte, Axel, nimm doch Heidi und mich gleich nach Mannheim mit«, bat sie. »Du hast es mir doch fest versprochen.« In ihren schönen blauen Augen schimmerten Tränen. Aber der Mann zeigte kein Mitleid. Er sah auch nicht, wie hübsch seine Frau war. Das seidenweiche lichtblonde Haar war schlicht aus dem Gesicht gebürstet und im Nacken mit einer Spange zusammengehalten. Die kleine gerade Nase und die weichen vollen Lippen erhöhten noch den Liebreiz dieses Frauenantlitzes. Die junge Frau war groß und sehr schlank und trug einen hellbraunen Hosenanzug, der ihr vorzüglich stand. Doch all das bemerkte Axel Holsten nicht mehr.

Elisabeth war dagegen noch genauso verliebt in ihren Mann wie am ersten Tag ihrer Ehe. Er war ein schlanker stattlicher Mann mit aschblonden Haaren und graugrünen Augen. Er gehörte zu dem männlichen Typ, der die Frauen leicht schwachmachte. Schon längst bereute er, dass er seine Freiheit so früh aufgegeben hatte. Es störte ihn auch, dass Elisabeth so anhänglich war. Zugegeben, Elisabeth war bildhübsch. Aber sie langweilte ihn.

Seine dunklen Brauen zogen sich jetzt zusammen.

»Ich kann im Augenblick noch keine Familie in Mannheim brauchen. Erst einmal muss ich mich auf meinem neuen Arbeitsplatz als Werbeleiter einarbeiten. Außerdem habe ich ja auch noch keine Wohnung.«

»Aber ich könnte doch eine suchen. Ich …«

»Du!«, rief er. »Das ist unmöglich. Dich würde man nur übers Ohr hauen. Nein, nein, das mache ich.«

»Axel, ich war lange genug mit dem Kind allein in Ulm. Immer wieder hast du mir versprochen, mich nachkommen zu lassen. Auch diesmal. Hätte ich gewusst, dass du uns noch nicht haben willst, hätte ich doch unsere kleine Wohnung in Ulm noch behalten. Aber nun stehen Heidi und ich auf der Straße.«

»Unsinn!«, rief er ungeduldig und fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte Haar. »Sei doch nicht so lästig!«

»Lästig?«, fragte sie. Dabei liefen ihr die Tränen über die Wangen.

»Ja, lästig!«, schrie er unbeherrscht. »Das habe ich nun davon, dass ich dich so schnell geheiratet habe. Schließlich bist du Apothekerin und hättest etwas gegen deine Schwangerschaft unternehmen können. Aber nein! Du wolltest das Kind durchaus austragen. Nun habe ich euch beide am Hals!«

»Axel, bitte, sei doch nicht so gemein«, flehte sie. »Ich liebe dich doch. Und du? Hast du nicht immer gesagt, dass du mich liebst?«

»Natürlich liebe ich dich«, lenkte er ein. »Aber deshalb lasse ich mir doch nicht meine neue Stellung verpatzen. Ich brauche in Mannheim meine Freiheit, damit ich mich auf meinen neuen Posten konzentrieren kann. So eine Chance bietet sich mir nicht so schnell ein zweites Mal. Lange genug habe ich gesucht, bis ich endlich eine Stellung fand, in der ich mich als Werbefachmann voll und ganz entfalten kann. Willst du denn, dass ich wieder so wenig wie in Ulm verdiene?« Er zündete sich eine Zigarette an. »Häng dich doch nicht wie ein Klotz an mich«, redete er sich mehr und mehr in Zorn.

Seine Worte trafen sie wie Keulenschläge. Aber es war typisch für sie, dass sie sogleich nach einer Entschuldigung für sein Benehmen suchte. Sie sagte sich, man müsse Axel mit einem anderen Maß messen als andere Männer. Er zähle nun einmal nicht zum Durchschnitt. Sein unruhiges Blut sei sicher auf seine außerordentliche Begabung als Werbefachmann zurückzuführen. Deshalb falle es ihm wohl auch schwer, sich seinen weniger begabten Vorgesetzten unterzuordnen.

Das hatte Axel veranlasst, zu kündigen. Doch seine neue Stellung würde ihm die von ihm gewünschte Freiheit bieten.

»Warum sagst du nichts?«, fuhr er sie ungeduldig an. »Schau doch nicht wie eine Märtyrerin drein!«

Tief atmete sie ein und zwang sich zur Ruhe. »Axel, aber wo sollen Heidi und ich denn nun bleiben? Ich habe doch …«

»Hör endlich mit dem Gejammer auf, Elisabeth. Natürlich habe ich an euch gedacht. Heute früh habe ich mit dem Gasthofwirt gesprochen. Er vermietet ein Dauerzimmer an euch. Natürlich zu einem vernünftigen Preis. Du weißt ja selbst, dass ich nicht mit irdischen Gütern gesegnet bin.« Er zog die Brieftasche aus der hinteren Hosentasche und klappte sie auf. »Hier hast du erst einmal fünfhundert Euro. Damit musst du ein Weilchen auskommen. Sobald ich Vorschuss bekommen habe, schicke ich dir Geld.«

»Du hättest mir das alles nur früher sagen müssen. In Ulm hätte ich weniger Geld benötigt. Aber du hast mir geschrieben, ich soll den Mietvertrag auf keinen Fall verlängern und die Möbel einlagern lassen. Auch der Treffpunkt hier in Maibach war allein deine Idee«, hielt sie ihm sanft vor. »Trotzdem werde ich mich bemühen, so sparsam wie möglich zu wirtschaften.«

»Hör endlich mit deinen sanften Vorwürfen auf!«, rief er und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, um sich sogleich eine neue anzuzünden.

Elisabeth unterdrückte einen Seufzer. Manchmal war es wirklich sehr schwer, Axels Reaktionen zu verstehen.

Plötzlich vermisste Elisabeth ihre kleine Tochter. »Wo steckt denn Heidi?«, fragte sie. »Sie war doch eben noch hier.«

»Warum regst du dich nur so auf? Heidi ist groß genug, um auf sich selbst aufzupassen.«

»Das finde ich nicht«, erwiderte sie voller Angst. »Sie ist noch nicht einmal vier Jahre alt.«

»Sie ist bestimmt im Hof unten. Auch gestern hat sie mit den Kindern dort gespielt.«

Elisabeth öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus. »Nein, Heidi ist nicht bei den anderen Kindern. Ich muss sie suchen.« Sie eilte aus dem Zimmer und lief die Treppe hinunter. Unten traf sie die Wirtin. »Frau Weinert, haben Sie Heidi gesehen?«

»Nein, Frau Holsten. Aber sie kann ja nicht weit sein«, beruhigte die mütterliche Frau sie, denn sie hatte fünf Kinder großgezogen und genug aufregende Situationen mit ihnen erlebt, die sich letzten Endes doch meist als völlig harmlos herausgestellt hatten.

»Hoffentlich.« Elisabeth ging in die Gaststube. Aber auch dort war das Kind nicht. Schließlich lief Elisabeth auf die Straße und suchte verzweifelt nach ihrer Tochter. Aber vergebens.

Axel erschien. »Hast du Heidi gefunden?«

»Nein, Axel, sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Mein Gott, sie wird doch nicht mit jemandem im Auto mitgefahren sein? Heidi ist so vertrauensselig.«

»Elisabeth, mach dich doch nicht selbst verrückt. Wir werden sie schon finden«, meinte er lächelnd.

Seine Gelassenheit war ihr unverständlich.

»Ich gehe zur Polizei«, erklärte sie und eilte schon davon.

Auf dem Polizeirevier, das sich ganz in der Nähe des Gasthofs befand, erfuhr Elisabeth dann von dem Unfall, der Heidi widerfahren war.

»Wie entsetzlich!«, rief sie erbleichend. »Sind Sie auch ganz sicher, dass ihr nichts zugestoßen ist?«

»Bestimmt nicht, Frau Holsten«, erwiderte der Polizeibeamte gütig. »Bei Frau von Lehn ist das Kind in den besten Händen. Sie hatte vor, die kleine Heidi nach Sophienlust zu bringen. Das ist ein Kinderheim.«

»Bitte, geben Sie mir die Adresse. Ich fahre sogleich hin. Fährt ein Bus dorthin? Oder ein Zug?«

»Wenn Sie wollen, kann Sie ein Streifenwagen mitnehmen. Er fährt sowieso diese Strecke.«

»Vielen Dank«, entgegnete sie und folgte dann dem Beamten in den Hof.

Als Elisabeth in dem Polizeiwagen saß, wunderte sie sich über sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hatte, Axel zu bitten, sie mit seinem Wagen nach Sophienlust zu fahren.

Tiefe Traurigkeit erfüllte ihr Herz. Was war nur aus ihrer Ehe geworden, die sie voller Illusionen eingegangen war? Vom ersten Augenblick an hatte sie sich leidenschaftlich in Axel verliebt gehabt. Er hatte damals in Hamburg als Werbefachmann gearbeitet und ihr immer wieder versichert, wie sehr er sie liebe und dass sie die einzige Frau sei, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen könne. Von Heirat hatte er allerdings nicht gesprochen.

Ein bitteres Lächeln umspielte Elisabeths volle Lippen. Wie unerfahren sie damals noch gewesen war. Axels Fehler hatte sie nicht erkannt. Sie hatte in ihm das Idealbild eines Mannes gesehen.

Doch besonders in den letzten Wochen hatte sie Augenblicke gehabt, in denen sie klar erkannt hatte, dass Axel sehr unberechenbar war. Aber auch in dieser Zeit hatte sie ihn immer noch entschuldigt. Vielleicht hätte sie, nachdem Heidi geboren worden war, wieder in ihrem Beruf arbeiten sollen, als Apothekerin? Ob Axel sie überhaupt geheiratet hätte, wenn Heidi nicht unterwegs gewesen wäre? Das war eine Frage, die sie sich nicht zum ersten Mal stellte.

Zu der Zeit, als der Arzt ihr gesagt hatte, sie sei in anderen Umständen, war Axel beruflich unterwegs gewesen. Zuerst hatte sie sich riesig über ihre Schwangerschaft gefreut, doch je näher die Stunde des Wiedersehens mit Axel gekommen war, desto beklommener war ihr zumute gewesen.

Noch heute hörte sie seine gereizte Stimme. »Was sagst du da?«, hatte er wütend gefragt. »Was sollen wir mit einem Kind? Ich will es nicht haben. Versuch alles, um es loszuwerden.«

»Das ist doch nicht dein Ernst«, hatte sie wie betäubt gerufen. »Du verlangst von mir, dass ich das Kind nicht austrage? Das ist doch gleichbedeutend mit Mord!«

»Was für theatralische Worte!«, hatte er getobt. »Vielleicht willst du mich mit dem Kind erpressen! Vielleicht willst du, dass ich dich heirate!«

»Du brauchst mich nicht zu heiraten. Aber das Kind trage ich aus«, hatte sie erklärt und war davongelaufen in der Meinung, dass es zwischen ihnen aus sei. Doch dann war er zu ihr gekommen, hatte sie um Verzeihung gebeten und war so lieb zu ihr gewesen wie seit langem nicht. Dann hatten sie geheiratet.

Natürlich hatte sie gewusst, dass eine Ehe mit Axel voller Aufregungen sein würde, dass es ein unruhiges Leben sein würde. Denn er war viel unterwegs. Eine Freundin von ihr hatte einmal erklärt, Axel sei ein unverträglicher und rechthaberischer Mensch, deshalb halte er es nirgends lange aus. »Das stimmt nicht«, hatte sie ihn verteidigt. »Er ist der beste Ehemann, den es gibt.«