Sophienlust Jubiläumsbox 4 – Familienroman - Diverse Autoren - E-Book

Sophienlust Jubiläumsbox 4 – Familienroman E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren: Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Keine Leseprobe vorhanden.

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Inhalt

Du sollst Mutterliebe nicht vermissen

Jerry wünscht sich einen großen Bruder

Nun bist du daheim, Susan

Gaston, der Sohn des Diplomaten

Ich will keinen neuen Vati

Nathalie, das Schmeichelkätzchen

Sophienlust – 4–

6er Jubiläumsbox

17-22

diverse Autoren

Du sollst Mutterliebe nicht vermissen

Angelika wird für das Kind ihrer Schwester sorgen

Roman von Judith Parker

Leuchtend stieg die Sonne im Osten auf und vergoldete mit ihrem Leuchten die Wasserfläche des Genfer Sees. Wie gebannt blieb Angelika Berger an dem großen Fenster der Wohnhalle stehen und bewunderte fasziniert diesen zauberhaften Ausblick. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Der Abschied von der so herrlich gelegenen Villa fiel ihr doch bedeutend schwerer, als sie gedacht hatte.

Als die alte Standuhr sechs dumpfe Schläge ertönen ließ, wandte das junge Mädchen sich vom Fenster ab, um noch ein allerletztes Mal durch die Räume zu gehen, in denen sie so viele frohe, aber auch traurige Stunden verlebt hatte. In wenigen Minuten würde sie bereits unterwegs sein, um endlich ihre Halbschwester Monika, die sie eine kleine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, in Deutschland zu besuchen.

In dem Schlafzimmer ihrer verstorbenen Tante Lizzy hielt Angelika sich etwas länger auf. Hier hatte die alte Dame, die für sie mehr als ihre eigene Mutter war, ihre letzten Tage verbracht, hier hatte sie ihr die Augen zugedrückt.

»Liebe Tante Lizzy«, flüsterte Angelika ergriffen, »ich werde alles so tun, wie du es dir gewünscht hast. Noch einmal danke ich dir, dass du all die Jahre so unendlich lieb zu mir warst.« Sie trocknete hastig ihre Tränen, als sie Schritte hörte.

Frau Zwingli, die Haushälterin von Tante Lizzy, hatte ihre Koffer zum Auto getragen. Eben kehrte sie, mit vom vielen Weinen dick verschwollenen Augen, wieder ins Haus zurück. Arme Seele, dachte Angelika voll Mitleid, denn sie wusste, dass die alte Frau sich nur schwer mit den neuen Verhältnissen abfinden konnte. Der Tod ihrer Herrin, der sie ein Menschenalter gedient hatte, war für sie sehr schmerzlich.

Frau Lizzy Bürger war nicht unerwartet gestorben. Durch ein heimtückisches Leiden war sie fast zwei Jahre ans Bett gefesselt gewesen. Angelika hatte die geduldige Kranke mit aufopfernder Liebe betreut, auch Frau Zwingli hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen.

Frau Zwingli war in dem Testament von Frau Lizzy Bürger mit einem Legat bedacht worden, das sie in die Lage versetzte, ihren Lebensabend sorgenfrei zu verbringen. Angelika war ihre Haupterbin. Sie war nun sehr wohlhabend. Ganz plötzlich hatte sie sich entschlossen, die Villa zu verkaufen, als ihr ein Interessent ein mehr als großzügiges Angebot machte. Reibungslos waren die Formalitäten erledigt worden. Schon morgen übernahm der neue Besitzer den Park und die prunkvolle Villa, die für Angelika allein viel zu groß und kostspielig gewesen wäre.

Angelika stieg langsam die breite Treppe hinunter und lächelte Frau Zwingli traurig an. Nun hieß es Abschied nehmen. Die alte Frau übersiedelte zu ihrer verheirateten Schwester, und sie kehrte in ihr Heimatland zurück. Der Gedanke, Monika wiederzusehen, half ihr über den Abschiedsschmerz hinweg.

»Frau Berger, fahren Sie bitte vorsichtig«, ermahnte Frau Zwingli sie. »Heutzutage passiert doch so viel.«

»Keine Sorge, Frau Zwingli, ich fahre bestimmt vorsichtig. Sollte ich wieder in diese Gegend kommen, besuche ich Sie bestimmt.«

»Das wäre sehr lieb von Ihnen, Frau Berger.«

»Auf Wiedersehen, Frau Zwingli!« Angelika drückte herzlich die raue verarbeitete Hand der Frau und stieg dann in ihren Wagen. Er war das letzte Geschenk ihrer Tante.

Lautlos glitt das Auto über die asphaltierte Straße. Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über das Land und kristallisierte die leuchtenden Farben der üppigen Vegetation klar heraus.

Angelika dachte an ihre Schwester, die vor mehr als sechs Jahren den berühmten Pianisten Andreas Treßlow heiratete und Mutter von zwei reizenden Kindern war. So sonderbar es auch scheinen mochte, Angelika hatte ihren Schwager in all den Jahren noch nicht kennen gelernt. Immer war etwas dazwischengekommen.

Monika schien aber nicht so glücklich zu sein, wie sie es vermutet hatte. Daran war die blinde Eifersucht ihres Mannes schuld. Zwar hatte Monika ihn nie in ihren Briefen angeklagt, aber Angelika hatte zwischen den Zeilen gelesen, dass in dieser Ehe irgendetwas nicht stimmte. Jedenfalls brauchte ihre Schwester sie, und das allein war ausschlaggebend für Angelika.

Monika hatte in ihrem letzten Brief geschrieben, dass ihre Freundin Vera Rodensky und ihr Bruder die alte Mühle, die als Atelier und Wohnung ausgebaut worden war, verkaufen wollten. Sie lag in der Nähe des Ortes, in dem Monika mit ihrer Familie lebte. Ein glücklicher Zufall, denn sie hatte den Beruf einer Keramikerin erlernt und könnte sich dort eine Existenz aufbauen.

Den ganzen Tag hielt das herrliche Wetter an. Trotz der anstrengenden Fahrerei fühlte Angelika sich frisch, als sie die ersten Häuser des Ortes sah, der ihre neue Heimat werden sollte.

Angelikas Augen strahlten vor erwartungsvoller Freude. Endlich lernte sie nun ihren Neffen und ihre Nichte kennen, die sie bisher nur auf Fotos gesehen hatte. Der kleine Günther musste fünf und sein Schwesterchen Rosi vier Jahre alt sein. Am meisten jedoch beglückte sie das Wiedersehen mit Monika. Obgleich sie Halbschwestern waren, hatten sie sich stets verstanden.

Angelika musste oft fragen, bevor sie das hübsche Haus der Treßlows fand und vor dem niedrigen schmiedeeisernen Tor halten konnte. Im gleichen Augenblick stoppte hinter ihr ein zweiter Wagen. Im Rückspiegel konnte Angelika beobachten, dass ein junger Mann ausstieg und schnell auf das Tor zuging.

Da wurde auch schon die Haustür geöffnet, und ein älteres Mädchen, allem Anschein nach das Hausmädchen, kam mit hektisch geröteten Wangen angelaufen. »Gut, dass Sie da sind, Herr Doktor!«, rief sie aufgeregt. »Frau Treßlow geht es sehr schlecht.«

Angelika spürte plötzlich einen harten Druck im Herzen. »War Monika denn krank?«, fragte sie sich besorgt.

Die etwas zu laute Stimme des Mädchens war nicht zu überhören. »Frau Treßlow hat einen schweren Kreislaufanfall gehabt. Ich habe ihr die Tropfen gegeben, aber sie haben nicht gewirkt.«

»Machen Sie sich keine Sorge, Lotti«, beruhigte Dr. Wolfram das erregte Mädchen. »Gleich nach Ihrem Anruf habe ich mich mit Frau von Schoenecker in Verbindung gesetzt. Wir bringen Frau Treßlow nach Sophienlust. Dort wird sie ausgezeichnet gepflegt.«

»Oh, das ist gut, Herr Doktor. In Sophienlust wird sich die gnädige Frau bestimmt erholen. Alle werden dort wieder fröhlich. Wissen Sie, Herr Doktor, Frau Treßlow quält sich schrecklich ab. Ich glaube, ihr fehlt ganz einfach der Lebenswille … Nicht einmal mehr die Kleinen muntern sie auf, dabei liebt sie ihre Kinder abgöttisch.«

»Ich weiß, Lotti, darum habe ich mich ja an Frau von Schoenecker gewandt.«

Angelika war inzwischen ausgestiegen und hatte mit wachsender Besorgnis dem Gespräch der beiden zugehört. »Bitte«, sprach sie nun den Arzt an. »Ich bin Angelika Berger, die Schwester von Frau Treßlow. Was ist geschehen? Was fehlt meiner Schwester? Darf ich sie sehen?« Angelika war außer sich vor Sorge und Angst.

Dr. Bert Wolfram blickte die hübsche blonde Frau prüfend an. »Frau Berger? Ja, Frau Treßlow sagte mir vor einigen Tagen, dass sie Sie erwarte. Bitte, haben Sie Verständnis, Frau Berger, aber im Augenblick halte ich es für gefährlich, dass Sie zu ihr gehen. Denn in ihrem Zustand kann ihr die kleinste Aufregung schaden, selbst eine freudige.«

»Aber was fehlt ihr denn?«

»Sie erwartet ein Kind. Die Schwangerschaft schien anfangs völlig normal zu verlaufen, aber dann stellten sich unerwartete Komplikationen ein, hervorgerufen durch seelische Erregungen. Ihre Schwester ist übersensibel.«

»Ich weiß, Herr Doktor. Doch dass sie wieder ein Kind erwartet, das war mir nicht bekannt.« Sie überlegte. Warum hatte Monika ihr nichts von diesem freudigen Ereignis geschrieben? »Wann kommt denn das Kind?«

»In wenigen Tagen, Frau Berger. Wie ich sehe, sind Sie mit dem Wagen da. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie sich um die Kinder kümmerten. Es wäre mir sehr lieb, wenn sie nicht direkt mitbekämen, dass wir ihre Mutti wegbringen. Die daraus entstehende Aufregung könnte Ihrer Schwester Schaden.«

»Ja, Herr Doktor«, erklärte sich Angelika sofort einverstanden. Im Augenblick war sie noch so verwirrt von dem soeben erlittenen Schock, dass es ihr schwerfiel, das alles zu begreifen.

»Am besten fahren Sie mit den Kleinen schon voraus nach Sophienlust.«

»Sophienlust?«

»Sophienlust liegt nur wenige Kilometer von hier entfernt. Es ist ein Haus, wo man Frieden und Glück findet, einfach ein Ort der Nächstenliebe. Sophienlust gehört Denise von Schoenecker und ihrem Sohn Dominik.«

»Ach so.« Mehr wusste Angelika nicht zu sagen. »Wo sind denn die Kinder?«

»Sie spielen im Sandkasten hinter dem Haus«, mischte sich Lotti ein. »Dort bauen sie eine Burg und sind auf diese Weise abgelenkt.«

»Danke!«, erwiderte Angelika benommen. »Ich werde sie schon finden.« Als sie um das Haus ging, nahm sie all ihre Kraft zusammen, um den beiden Kindern ruhig gegenübertreten zu können. Schon von Weitem hörte sie die hellen Kinderstimmen. Nach der Lautstärke zu urteilen, schienen sie sich augenblicklich uneinig zu sein. Sie hatte sich nicht getäuscht.

Das kleine dunkellockige Mädchen schlug wütend mit einer Sandschaufel auf seinen blondhaarigen Bruder ein.

»Hör auf!«, schrie Günther zornig und drehte ihr gewaltsam die Schaufel aus der Hand.

Noch hatten die Kinder sie nicht gesehen, denn sie standen sich wie zwei kleine Kampfhähne gegenüber. Wieder wollte Rosi auf ihren Bruder losgehen, aber sie besann sich doch, als sie die fremde Dame entdeckte. Auch Günther drehte sich um und blickte sie überrascht an.

»Günther, Rosi, guten Tag«, sagte Angelika und ging auf die beiden zu.

»Wer bist du?«, fragte Günther und verschränkte seine Arme auf dem Rücken.

»Ja, wer bist du?«, echote sein Schwesterchen, dabei steckte sie den Daumen in den Mund. Dass sie sich soeben noch in der Wolle gehabt hatten, schien vergessen zu sein, denn sie fassten sich nun bei den Händen und bildeten so eine Front, die nicht gewillt war, sich sogleich zu ergeben.

»Ich bin …« Später wusste Angelika nicht, weshalb sie den Kindern verschwiegen hatte, dass sie ihre Tante war. Anscheinend hatte sie so etwas wie einen sechsten Sinn und bereits geahnt, dass Monika nicht wünschte, den Kindern mitzuteilen, wer sie war.

»Ich soll euch abholen«, erwiderte sie. »Wir fahren gemeinsam nach Sophienlust.«

»Ach so!« Günthers runde Stirn legte sich in Falten. Er dachte angestrengt nach. »Nun weiß ich es wieder«, sagte er dann erleichtert. »Mami hat mir neulich gesagt, dass Rosi und ich für einige Zeit nach Sophienlust sollen, weil sie ins Krankenhaus muss. Fährt Mami jetzt ins Krankenhaus?«, fragte er sorgenvoll, dabei glitzerten Tränen in seinen großen blauen Augen.

»Nein, Günther, noch nicht. Sie fährt auch nach Sophienlust.«

»Das ist fein. Dort sind viele Kinder! Ja, und Ponys! Und Hunde und Kaninchen. Auch ein Papagei ist dort. Das alles hat mir Nick erzählt. Ich habe ihn neulich beim Zahnarzt kennen gelernt. Es hat gar nicht wehgetan«, fügte er noch erklärend hinzu.

»Nun, dann wird es euch bestimmt in Sophienlust gefallen.«

»Vielleicht«, antwortete er nicht ganz so überzeugt. »Wie heißt du?«

»Angelika.«

»Das ist ein schwerer Name«, meinte Rosi und nahm den Daumen aus dem Mund. »Ich kann ihn nicht aussprechen.«

»Dann nennt mich Geli.«

»Geli finde ich auch hübscher«, bemerkte Günther.

»Kommt!«, bat Angelika, denn sie erinnerte sich an die Bitte des Arztes, die Kinder schnell fortzubringen.

Widerstandslos gingen die beiden mit.

Angelika fuhr los. Sie hatte sich die Ankunft hier und das Wiedersehen mit Monika anders vorgestellt. Und wo mochte ihr Schwager sein?

»Wo ist denn euer Vater?«, fragte sie die Kinder neben sich.

»Papa? Ich weiß nicht.« Rosi schüttelte den Kopf. »Mami weiß es auch nicht, darum weint sie so sehr. Aber mir ist es lieber, wenn Papa nicht zu Hause ist. Er ist manchmal so böse, und ich habe dann auch Angst vor ihm.«

»Rosi, man darf doch nicht klatschen«, ermahnte sie Günther.

»Es ist doch wahr!«, verteidigte sie sich trotzig. »Du hast selber gesagt, dass du manchmal Angst vor Papa hast. Als er das letzte Mal hier war, hat er so böse mit Mutti geschimpft, dass sie die ganze Nacht weinen musste.«

»Ja, das ist wahr«, gab nun Günther auch zu, der nur ungern an sein letztes Erlebnis mit seinem Vater zurückdachte. Rosi hatte recht. Wenn Papa nicht da war, war es hier viel schöner. Aber manchmal auch nicht, weil Mami dann immer so traurig war.

Arme Kinder, dachte Angelika und bereute, dass sie dieses Thema angeschnitten hatte. Arme Moni, dachte sie weiter, was mochte nur vorgefallen sein? Monika war zwar drei Jahre älter als sie, trotzdem fühlte sie sich als die Ältere. Monika war sehr zartbesaitet und wurde nicht mit dem Leben fertig.

Angelika bekam einen gerechten Zorn auf ihren unbekannten Schwager. Andreas Treßlow galt als ein begnadeter Künstler. Wie reimte sich das aber zusammen, fragte sich Angelika. Sie war stets der Überzeugung gewesen, dass ein großer Künstler auch ein guter Mensch sein müsse. Aber Andreas machte auf sie eher einen rücksichtslosen und gefühllosen Eindruck. Einmal würde sie ihren Schwager bestimmt kennen lernen. Dann konnte er sich auf etwas gefasst machen. Sie würde ihm schon gehörig die Leviten lesen. Mit ihr würde er nicht so umspringen dürfen wie mit seiner schwachen Frau.

Noch konnte sich Angelika keine rechten Vorstellungen von Sophienlust machen. Als sie dann aber das Haus erblickte, war sie ehrlich überrascht. Ein Schloss? Nein, eher ein Gutshaus, ein alter Herrensitz aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg.

Vor ihr fuhr ein Schulbus, in dem Kinder saßen. An einer übersichtlichen Stelle überholte Angelika ihn und las: Kinderheim Sophienlust. Also war Sophienlust ein Kinderheim.

»Ob das Auto zu uns kommt?«, fragte im gleichen Augenblick Dominik von Wellentin-Schoenecker.

»Bestimmt. Der Weg führt doch nur zu uns«, erklärte Wolfgang Rennert, der heute mit den Kindern im Schulbus einen Ausflug gemacht hatte.

»Man darf schließlich laut denken«, erwiderte Dominik und blickte dem Auto bewundernd nach. »Ein toller Schlitten ist das schon. Hast du die blonde Dame am Steuer gesehen und die beiden kleinen Kinder neben ihr? Wir bekommen bestimmt wieder Zuwachs.«

Schon von Weitem sah er den Wagen seiner Eltern vor dem Haus. Sicherlich war wieder eine Menge in Sophienlust los. Ihm konnte das nur recht sein, jede Abwechslung war ganz nach seinem Sinn. Manchmal allerdings brachte so eine Abwechslung auch Unangenehmes und tat weh. Besonders dann, wenn ein Kind, das man besonders gut hatte leiden können, von Sophienlust fortging, so wie erst Susi und dann Natascha.

»Na, wie war’s auf dem Schulausflug?«, fragte Denise von Schoenecker ihren Sohn, dann blickte sie auf den weißen Sportwagen, aus dem eine hübsche junge Dame mit zwei Kindern ausstiegen.

»Toll war es auf dem Schulausflug«, erwiderte Dominik. »Wo ist denn Papi?«

»Bei den Ponys.«

»Ach ja, Nofretete hat bestimmt schon ihr Fohlen bekommen. Mutti, ich laufe gleich mal zu den Ställen.«

»Ja, Nick, tue das«, antwortete ihm Denise liebevoll und schenkte dann ihr Interesse der fremden Dame und den Kindern, die zögernd näher kamen.

Angelika hatte sich Frau von Schoenecker und die Heimleiterin Frau Rennert älter und gesetzter vorgestellt, darum sagte sie: »Ich möchte gern zu Frau von Schoenecker, oder zu …«

»Ich bin Frau von Schoenecker«, unterbrach Denise sie freundlich.

»Sie? Verzeihen Sie mir bitte meine Überraschung, aber ich dachte, Sie seien eine ältere Dame. Herr Doktor Wolfram bat mich, Günther und Rosi Treßlow zu Ihnen zu bringen. Ich bin die Halbschwester von Frau Treßlow«, fügte sie leise hinzu. »Mein Name ist Berger.«

»Herzlich willkommen in Sophienlust, Frau Berger.« Denise streckte ihr die Hand entgegen. »Und ihr seid Günther und Rosi«, wandte sie sich an die verschüchterten Kinder.

Im gleichen Augenblick kam Dominik angelaufen. Seine dunklen Augen strahlten, und sein schwarzer Haarschopf war zerzaust. »Mutti, Mutti!«, rief er begeistert. »Das Fohlen ist da!«

»Das ist aber schön, Nick. Das ist mein Sohn«, fügte sie hinzu.

»Das sind doch die Treßlow-Kinder«, meinte Nick erstaunt.

Verblüfft musterte Denise ihren Sohn. »Du kennst sie schon?«

»Ja, Mutti, als ich neulich beim Zahnarzt war, haben wir uns kennen gelernt. Eine Lotti war mit den Kindern dort, und Rosi hat schrecklich geschrien, obwohl es ja nur eine Routineuntersuchung war. Günther hat mir von seinem Papa erzählt.«

Ernsthaft blickte Günther Dominik an. »Ja, das ist wahr«, gab er zu. »Du bist Nick. Wohnst du auch hier?«

»Halb und halb, Günther. Eigentlich wohne ich bei meinen Eltern in Schoeneich, aber Sophienlust gehört mir. Ich habe es nämlich von meiner Urgroßmama Wellentin geerbt. Willst du das Fohlen sehen?«

»O ja, das möchte ich schon.«

»Ich auch«, bat Rosi und griff ängstlich nach der Hand ihres Bruders.

»Mutti, dürfen wir?« Erwartungsvoll richtete Dominik seinen Blick auf Denise.

»Ja, Nick, aber später bringst du die Kinder bitte ins Haus!«

»Du kannst dich auf mich verlassen, Mutti. Kommt mit!«, forderte er dann die Kleinen auf.

Denise und auch Angelika waren über diese Lösung recht froh, denn gerade bot Dr. Wolframs Wagen in den Hof ein, und es wäre nicht gut gewesen, wenn die Kinder ihre Mutter so hilflos gesehen hätten.

»Kennen Sie meine Schwester gut?«, fragte Angelika, als sie für einen Augenblick mit Denise allein blieb.

»Nein, ich kenne sie bisher nur dem Namen nach. Aber Doktor Wolfram hat sie mir ans Herz gelegt. Er ist der Ansicht, dass ihr der kurze Aufenthalt hier bei uns vor ihrer Niederkunft guttun würde. Dann sind auch die Kinder in ihrer Nähe, ohne zu anstrengend für sie zu werden.«

»So etwas habe ich noch niemals erlebt.« Angelika war ehrlich verwundert über so viel Großzügigkeit. »Sophienlust muss ein wahres Paradies auf Erden sein«, meinte sie dann.

Denise wurde einer Antwort enthoben, weil Dr. Wolfram zu ihnen getreten war. Auch Dr. Baumgarten, den Denise vorsichtshalber angerufen hatte, traf ein.

Angelika begrüßte ihre Schwester, die mit Lotti im Wagen wartete. Ihr Anblick war für das junge Mädchen erschütternd. Als sie Monika zum letzten Mal gesehen hatte, war sie eine strahlende, bildhübsche junge Frau gewesen. In der Zwischenzeit schien sie um Jahre gealtert, die Augen hatten ihren Glanz verloren, und das herrliche kastanienbraune Haar war stumpf geworden. Und wie entsetzlich mager Monika war. Man merkte kaum, dass sie hochschwanger war.

»Moni, liebe Moni!« Angelika umarmte ihre geliebte Schwester.

»Ich bin sehr froh, dass du zu mir gekommen bist, Geli. Ich brauche dich so sehr. Vielen Dank, dass du meine Kinder nach Sophienlust gebracht hast! Nicht wahr, ich sehe erbärmlich aus?«, fragte sie dann matt und schloss erschöpft die Augen.

»Nein, Moni, du siehst sogar recht gut aus«, log Angelika tapfer, und es gelang ihr sogar, ein heiteres Gesicht zu zeigen.

»Ich weiß, dass du schwindelst.« Monika versuchte zu lächeln, was ihr aber misslang.

»Du brauchst nur ein paar Tage Entspannung, gute Luft und völlige Ruhe«, redete Angelika ihr gut zu.

»Vielleicht.«

Gemeinsam brachte man Monika Treßlow in ein wunderhübsches Zimmer mit einem großen Fenster, das von leuchtend blauen Vorhängen eingerahmt war. Ein schöner Rahmen für den weiten Ausblick in den herrlichen Park mit seinen alten Bäumen und seiner üppigen Vegetation.

»Ja, hier ist es schön«, flüsterte Monika dankbar und ließ sich dann willenlos beim Auskleiden helfen. Nach einem letzten Blick auf die Kranke nickte Denise Angelika zu. Sie verstand und folgte ihr hinaus, um Monika den Ärzten zu überlassen.

»Bitte, Frau Berger, machen Sie mir die Freude, eine Tasse Tee mit mir zu trinken«, sagte Denise. Ihr war der verzweifelte Zustand des jungen Mädchens nicht entgangen.

Angelika folgte Frau von Schoenecker dankbar in einen gemütlichen Biedermeiersalon. Ein junges Mädchen, das Denise ihr als Carola vorstellte, brachte Tee und Sandwiches. Bei dem appetitlichen Anblick verspürte Angelika, trotz ihrer großen Sorge um die Schwester, Hunger.

»Für mich kam das alles sehr überraschend«, begann Angelika. »Ich hatte ja von alldem nicht die geringste Ahnung. Irgendetwas muss passiert sein, das Monika nicht verkraften kann. Sicherlich hängt es mit meinem Schwager zusammen.«

»Ja, das meinte Doktor Wolfram auch. Kennen Sie Ihren Schwager gut?«, fragte Denise und schob ihrem Gast noch einmal die Platte mit den Sandwiches hin.

»Überhaupt nicht.«

»Wie ist das möglich? Soviel ich erfahren habe, ist Ihre Schwester über sechs Jahre mit ihm verheiratet.«

»Ja, Frau von Schoenecker. Als Moni heiratete, war ich in einem Internat in Genf, wo gerade die Windpocken ausgebrochen waren. Auch ich hatte Fieber, aber später stellte sich heraus, dass ich nur erkältet war. Darum durfte ich nicht zu der Hochzeit fahren. Später war Monika viel mit ihrem Mann unterwegs. Als sie wegen Günther, der nach einjähriger Ehe zur Welt kam, daheimbleiben musste, begleitete ich gerade meine Tante auf einer Weltreise. Tante Lizzy war die einzige Schwester meiner Mutter und liebte mich wie eine eigene Tochter. Sie war eine kinderlose Witwe, die sogar meine Eltern anflehte, mich adoptieren zu dürfen. Natürlich ging das nicht. Aber ich habe Tante Lizzy mehr als meine Mutter geliebt«, gestand Angelika spontan.

Frau von Schoenecker strahlte eine Herzlichkeit aus, die sie unwillkürlich dazu verleitete, Dinge zu sagen, die sie noch keinem Menschen anvertraut hatte.

»Meine Mutter ist eine sehr kluge Frau«, fuhr sie fort. »Doch sie lebt nur für ihren Mann und ihren Beruf. Mein Vater und auch sie sind Chemiker und leiten ein großes Labor. Ihre Arbeit nimmt sie voll und ganz in Anspruch. Erwähnte ich schon, dass Moni und ich Halbschwestern sind? Wir haben die gleiche Mutter. Monis Vater starb, als sie noch ein Baby war. Unsere Mutter hat bald darauf wieder geheiratet. Manchmal fühlten Moni und ich uns sehr einsam. Das hat uns wohl auch innerlich so fest verbunden.«

»Leben Ihre Eltern in Deutschland, Frau Berger?«, erkundigte sich Denise, um Angelika zum Weitersprechen zu ermuntern.

»Ja, in München. Aber sie sind viel unterwegs. Augenblicklich befinden sie sich auf einer Vortragsreise in Westeuropa. Ich glaube, momentan sind sie in Paris. Jedenfalls erhielt ich ihre letzte Post von dort. Tante Lizzy reiste mit mir durch die Welt. Ich habe viel gesehen. Ganz begeistert war sie von dem Orient. Sie kaufte sich sogar dort eine hübsche Villa, und wir blieben fast zwei Jahre im Orient. Es war eine wunderschöne, unvergessliche Zeit, in der ich meine Begabung für die Keramik entdeckt habe. Plötzlich begann Tante Lizzy zu kränkeln. Wir kehrten nach dem Verkauf der Villa wieder nach Genf zurück. Obwohl meine ganze Sorge Tante Lizzy galt, bestand sie in ihrer Güte darauf, dass ich den Beruf einer Keramikerin erlernte. Aber jede freie Minute widmete ich meiner Tante. Es war eine traurige Zeit für mich, und ihr Tod hat mich tief getroffen«, gestand sie, während Tränen über ihre Wangen liefen. »Deshalb sahen Moni und ich uns nicht, aber wir standen in lebhaftem Briefwechsel. Bis heute habe ich angenommen, dass ich alles von ihr weiß. Und nun kenne ich nicht einmal die Stadt, in der mein Schwager auf seiner Tournee weilt.«

»Wie mir bekannt ist, befindet er sich zurzeit in Südamerika.«

»Auch das schrieb mir Moni nicht. Selbst das Baby, das sie erwartet, hat sie mir verschwiegen. Sonderbar! Früher hat sie mir alle ihre Erlebnisse berichtet. Daher weiß ich, dass mein Schwager rasend eifersüchtig ist und Moni von allen Menschen fernhält. Als sie Günther bekam und dann Rosi, konnte sie ihn nicht mehr auf seinen Tourneen begleiten. Aber jedes Mal, wenn er heimkam, muss er ihr entsetzliche Eifersuchtsszenen gemacht haben. Moni nahm das am Anfang ihrer Ehe nicht allzu tragisch, weil das für sie ein Beweis seiner Liebe war. Später beklagte sie sich in ihren Briefen darüber und schrieb mir, dass diese Szenen ihre Nerven aufrieben. Er muss ein schlechter Menschenkenner sein, sonst müsste er doch merken, dass Moni unfähig ist, einen Treuebruch zu begehen.«

»Wenn das Vertrauen in einer Ehe fehlt, kann sie zur Hölle werden«, bemerkte Denise und dachte daran, wie viel Unglück die Eifersucht über die Menschheit brachte. Sie war wie eine Krankheit, die jedes Glück zerstörte. »Und nun haben Sie Genf für immer den Rücken gekehrt?«

»Ja, Frau von Schoenecker. Meine Tante war selbst dafür, dass ich die Villa nach ihrem Tod verkaufen sollte. Das Haus stammt noch aus der Gründerzeit und ist viel zu geräumig für eine Person, selbst eine große Familie würde sich in diesen hohen und vielen Räumlichkeiten verlieren. Außerdem würde die Villa Unsummen verschlingen. Der jetzige Besitzer will daraus eine Familienpension machen.«

»Hatten Sie wirklich vor, eine Weile bei Ihrer Schwester zu bleiben?«

»Ja, Frau von Schoenecker. Monika schrieb mir etwas von einer alten Mühle, die unseren Jugendfreunden Rodensky gehört hatte. Thomas Rodensky ist Bildhauer und hat sie umgebaut. Moni schrieb auch noch, dass die Rodenskys diese Gegend verlassen wollten, weil mein Schwager sich einbildete, dass Moni etwas mit Thomas hätte. Ein absurder Gedanke!«

Dr. Wolfram und Dr. Baumgarten waren mit ihrer Untersuchung fertig und kamen in den Salon. Ein Blick in ihre Gesichter versetzte Angelika in Angst. »Wie geht es ihr?«, fragte sie aufgeregt.

»Nicht so gut, wie es ihr in ihrem Zustand gehen sollte«, meinte Dr. Baumgarten. »Die Patientin braucht viel Ruhe, Liebe und Verständnis.«

»Darf ich jetzt zu ihr?«

»Ja, Frau Berger. Frau Treßlow möchte Sie sehen. Wir haben ihr erzählt, dass Sie noch hier sind.«

Angelika verabschiedete sich von den Ärzten und verließ mit Carola den Salon. Das junge Mädchen brachte sie bis zu Monikas Zimmer.

Denise geleitete inzwischen die Ärzte in den Hof des Gutes. Als die Wagen fort waren, kam Dominik angelaufen. »Mutti, das Fohlen kann schon stehen«, berichtete er begeistert.

Trotz ihrer Sorge um die Patientin, denn weder Dr. Wolfram noch Dr. Baumgarten hatten ihr allzu große Hoffnungen gemacht, musste Denise lächeln. Liebevoll fuhr sie ihrem Sohn über den Haarschopf. »Papi bringt dich dann nach Hause«, sagte sie.

»Gut, Mutti! Du kommst doch auch mit?«

»Nein, Nick, ich werde hier noch gebraucht.«

»O weh, dann ist etwas Trauriges los, Mutti. Soll ich nicht lieber bei dir bleiben?«

»Es wäre mir lieber, wenn du mit nach Schoeneich zurückfährst. Du musst morgen wieder in die Schule.«

»Wenn du meinst, fahr ich natürlich. Günther und Rosi wollen nicht essen. Schwester Gretli hat sich alle Mühe gegeben. Sag, Mutti, kannst du verstehen, dass man die Süßspeise von Magda einfach verschmäht?«, fragte er kopfschüttelnd.

»Manchmal schon.«

»Ich nicht. Ich glaube, ich könnte sie immer essen, selbst wenn ich gar keinen Hunger mehr hätte.«

Denise lächelte gerührt. Ein wirkliches Leid hatte Dominik noch nicht kennen gelernt. Gott möge ihm gnädig sein und verhüten, dass auch er einmal einen tiefen Schmerz erleben musste, wünschte Denise.

Aus dem Speisesaal hörte Denise Weinen. Schnell öffnete sie die Tür. Rosi hockte in einer Ecke, die Hände vor die Augen gepresst und schluchzte bitterlich. Günther stand vor ihr und blickte sein Schwesterchen hilflos an. Schwester Gretli zuckte ratlos die Schultern. »Mit Rosi ist nichts anzufangen. Sie will durchaus zu ihrer Mutter.«

»Lassen Sie nur, Schwester, ich übernehme das«, meinte Denise und hob das kleine Mädchen sanft hoch. »Komm, Rosi, jetzt hör erst einmal mit dem Weinen auf«, redete sie ihr gut zu. »Sonst darfst du deiner Mami heute nicht gute Nacht sagen.«

»Siehst du, Rosi, ich habe dir doch gesagt, dass wir heute Mami noch sehen«, bemerkte Günther erleichtert.

Rosi hörte zu weinen auf. Misstrauisch musterte sie die schöne Dame, dann wurde sie zutraulicher. Sie war überzeugt, noch niemals eine so hübsche Dame gesehen zu haben, außer ihrer Mami. Selbst Geli war nicht so hübsch. Das war bestimmt eine liebe Tante.

Rosi weinte nicht mehr. »Gehen wir jetzt zu Mami?« Sie streckte ihr Händchen aus und schien glücklich, als Denise es umschloss.

»Ja, Rosi. Komm, Günther!« Sie umfasste auch seine Hand. »Aber ihr müsst ganz lieb sein und sehr leise. Mami darf sich nicht aufregen.«

Etwas später öffnete Denise leise die Tür zu Monikas Zimmer. Angelika erhob sich bei ihrem Eintritt, und Monika streckte ihren Kindern die Hände entgegen. »Wie lieb, dass ihr mir noch gute Nacht sagt«, freute sie sich über den Besuch der beiden.

»Mami, wir sind ganz brav«, versprach Günther eifrig, der sich bemüßigt fühlte, das Wort zu führen.

Rosi und Günther umarmten ihre Mami und verließen dann mit Denise wieder das Zimmer.

Für Angelika war das Nebenzimmer hergerichtet worden, das mit dem von Monika durch eine Tür verbunden war. Sie war darüber sehr froh und bedankte sich später herzlich bei Denise. Nun lernte sie auch Frau Rennert kennen, die von den Kindern Tante Ma genannt wurde. Sie kümmerte sich noch darum, dass Angelika gut versorgt war und zog sich dann ebenfalls zurück.

Inzwischen hatte sich die Nacht wie ein dunkler Mantel auf Sophienlust gesenkt. Angelika hatte eben geduscht und schlüpfte in einen bequemen Morgenrock.

Monika schlief immer noch nicht und bat ihre Schwester, doch noch ein Weilchen bei ihr zu bleiben.

»Wird es für dich auch nicht zu anstrengend sein, Moni?«, fragte Angelika besorgt.

»Geli, ich muss dir vieles erzählen. Es erscheint mir wie ein Wunder, dass wir wieder beisammen sind. Erinnerst du dich noch an unsere Kindheit? Was waren das doch für schöne und sorglose Zeiten?«

»Ja, Moni, das waren sie, obwohl wir auch schon damals unsere kleinen Kümmernisse hatten. Aber was für Sorgen hast du?«

»Ach, Geli, ich will nicht, dass die Kinder erfahren, dass ich ein Baby bekomme.«

»Aber, Moni, später, wenn ihr wieder daheim seid, werden sie es doch sehen.«

»Später?« Monikas Blick verlor sich in der Ferne. »Später?«, wiederholte sie kaum verständlich. »Es wird kein Später für mich geben.«

»Bitte, Moni, sage doch nicht so was!«, bat Angelika mit tränenerstickter Stimme.

»Geli, ich werde sterben. So etwas fühlt man. Ich mag auch nicht mehr leben. Das Kind, das jeden Tag geboren werden kann, ist für Andreas ein unerwünschtes Kind. Du musst mir glauben, Geli, dass ich Andreas niemals betrogen habe. Er war der einzige Mann in meinem Leben. Ohne ihn ist jeder Tag für mich eine Qual. Ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihm ist jede Stunde für mich unerträglich. Kein Sonnenstrahl dringt mehr in mein Herz. Andreas kann in seinem Jähzorn furchtbar sein. Ich habe immer versucht, ihn zu verstehen, aber seine blindwütige Eifersucht zerstört alles zwischen uns.« Auf ihren Wangen zeichneten sich hektisch rote Flecken ab.

»Moni, du darfst nicht weitersprechen! Das regt dich viel zu sehr auf«, bat Angelika und umfasste zärtlich die Hand ihrer Schwester.

»Bitte, Geli, lass mich sprechen! Ich muss mir einmal alles von der Seele reden. Seitdem Andreas mich ohne Abschied verlassen hat, habe ich alles mit mir allein abmachen müssen. Ich bin manchmal fast erstickt an meinem Leid. Ich hatte keinen Menschen, dem ich mich hätte anvertrauen können.«

»Arme Moni! Vielleicht tut es dir wirklich gut«, meinte Angelika hoffnungsfroh. »Bitte, erzähle mir alles, was dich bedrückt!«

»Sechs Monate ist Andreas nun schon fort. Nicht ein einziges Mal hat er mir geschrieben. Alle finanziellen Angelegenheiten regelt sein Anwalt. Mein Schicksal ist ihm gleichgültig!«

Monika sprach sehr undeutlich, aber Angelika erfasste trotzdem die Zusammenhänge. Vor sechs Monaten hatte sich folgendes Drama zwischen dem Pianisten Andreas Treßlow und seiner Frau abgespielt:

Seit Langem war Andreas Treßlow die Anwesenheit der Geschwister Rodensky ein Dorn im Auge. Als Monika ihm ganz harmlos erzählt hatte, wie glücklich sie sei, dass Vera Rodensky und ihr Bruder Thomas die alte Mühle gekauft hatten, wurde sein Misstrauen immer größer. Monika merkte zuerst nichts davon, denn Vera und sie waren Schulfreundinnen, und Thomas war für sie stets wie ein älterer Bruder gewesen. Auch war ihr bekannt, dass er mit einer jungen Ärztin verlobt war, die vorläufig noch mit der Heirat warten wollte.

Andreas jedoch war der festen Überzeugung, dass Thomas sich Monikas wegen in dieser Gegend angesiedelt hätte. Als er Monika gegenüber zum ersten Mal eine Bemerkung darüber machte, war sie ehrlich entsetzt und versuchte, ihm seine Eifersucht auszureden.

Andreas blieb am Ende des Jahres für länger daheim, um die Weihnachtszeit im Kreise seiner Familie zu verleben. Monika war sehr glücklich darüber. Alles verlief harmonisch bis zu Silvester. Monika, die stets bemüht war, nicht Andreas’ Eifersucht zu wecken, fürchtete sich bereits vor dem Abend, an dem sie zu einem Ball bei einem Großindustriellen eingeladen waren. Sie hätte das Ende des alten Jahres und den Beginn des neuen Jahres am liebsten allein mit ihrem Mann verbracht, besonders, weil sie ihm endlich ihr großes Geheimnis anvertrauen wollte, denn sie erwartete wieder ein Kind und war bereits im dritten Monat. Noch sah man ihr nichts an. Nur ihr Hausmädchen Lotti, die bereits mehrere Jahre bei den Treßlows war, wusste davon.

»Bald lässt es sich aber nicht mehr verheimlichen«, hatte Lotti ihr gesagt, als sie ihr beim Ankleiden für den Ball behilflich war.

»Ich weiß das, Lotti«, hatte Monika heiter erwidert, »heute will ich aber nicht daran denken und tanzen. Ich freue mich sehr auf das Kleine, obwohl die letzten Wochen einer Schwangerschaft oft recht lästig sind.« Dabei hatte sie sich ausgiebig im Spiegel bewundert, ohne zu ahnen, dass ihre glücklichen Stunden gezählt waren.

Andreas war sehr verliebt in sie gewesen, als sie durch die weiße Winternacht langsam ihrem Ziel entgegenfuhren. »Moni, du bist die schönste Frau, die ich kenne, und das will etwas heißen, da ich auf meinen vielen Reisen vielen schönen Frauen begegne.« Dann hatte er den Wagen an den Bordrand gefahren, um sie zu küssen.

Eine erlesene Gesellschaft hatte sich an diesem Abend in der komfortablen Villa des Fabrikanten getroffen. Die Treßlows waren überall beliebt und wurden dementsprechend mit Beschlag belegt. Da Monika eine auffallend schöne und sehr reizvolle Frau war, blieb es natürlich nicht aus, dass man ihr Komplimente machte. Auch Andreas bekam über sein Klavierspiel viele Schmeicheleien zu hören, und man bewunderte ehrlich seine Begabung, die ihn, trotz seiner jungen Jahre, zu höchstem Ruhm emporgetragen hatte.

Auch die Rodenskys waren anwesend. Thomas Rodensky war ein angesehener Bildhauer und stand in seiner Begabung dem Pianisten in nichts nach. Er war an diesem Abend besonders froher Stimmung, weil seine Verlobte sich endlich damit einverstanden erklärt hatte, dass sie beide Anfang des nächsten Jahres heiraten würden. Leider hatte sie heute im Krankenhaus Nachtdienst, sie wollte aber versuchen, sofort nach ihrer Ablösung hierherzukommen.

Vera Rodensky war ebenfalls sehr fröhlich. Als sie Monika begrüßte, musterte sie ihre Freundin prüfend. »Nicht wahr, du bekommst wieder ein Baby«, hatte sie ihr zugeflüstert.

»Oje, dann sieht man es tatsächlich schon«, hatte Monika ihr glücklich zurückgeflüstert. »Heute Nacht, wenn wir wieder daheim sind, wird Andreas es erfahren.«

»Was? Er weiß es noch nicht?«, hatte Vera erstaunt gefragt.

»Nein, Vera! Du kennst Andreas ja. Er würde mich dann in Watte packen, weil er glaubt, dass eine Frau in diesem Zustand zerbrechlich wie Glas ist.«

Es blieb natürlich nicht aus, dass man auf einer derartigen großen Gesellschaft, die in einem Haus mit vielen Gesellschaftsräumen stattfand, sich hin und wieder aus den Augen verlor. Auch Andreas sah Monika nicht mehr. Als er sie endlich erblickte, tanzte sie selbstvergessen mit Thomas Rodensky, der glückstrahlend auf sie einredete.

Andreas spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, und seine Eifersucht gewann sofort die Oberhand in ihm. Monika schien seinen Blick zu spüren und wandte ihm ihr Gesicht zu. Seine Blicke, die sie nur zu gut kannte, wenn er sich in diesem Zustand befand, riefen in ihr eine Art Panik hervor. Ihre ausgelassene Laune war mit einem Schlag vorbei. Sie bat Thomas, sie zu ihrem Platz zu bringen, weil sie sich auf einmal müde fühlte.

Dann schlugen die Uhren Mitternacht, und die Glocken läuteten das neue Jahr ein. Übermütig und teilweise auch sehr ernst wünschte man sich gegenseitig viel Glück.

Verzweifelt suchte Monika nach ihrem Mann. Er war, als das neue Jahr eingeläutet wurde, nicht an ihrer Seite gewesen. Für sie war das ein schlechtes Omen. Aber sie konnte ihn nirgends entdecken und glaubte schon, er wäre ohne sie gegangen.

»Vera, hast du meinen Mann gesehen?«, hatte sie ihre Freundin unglücklich gefragt.

»Nein, Moni. Ist er wieder eifersüchtig? Fast vermute ich es, als Thomas und du zusammen getanzt habt. Ihr habt so glücklich ausgesehen.«

»Aber er hat doch nur von seiner Verlobten gesprochen.«

»Ich weiß genau, dass zwischen euch beiden alles harmlos ist, aber Andreas scheint anders darüber zu denken.«

Plötzlich stand Andreas neben ihnen. »Wir gehen«, hatte er in einem Ton befohlen, der Moni das Schlimmste befürchten ließ.

»Wenn du willst«, hatte sie sich widerstandslos seinem Wunsch gefügt.

Allgemein bedauerte man den frühen Aufbruch der Treßlows, Monika fiel es schwer, freundliche Abschiedsworte zu sagen, während Andreas sich nicht einmal mehr bemühte, besonders liebenswürdig zu sein.

Auf der Heimfahrt sprachen sie kein Wort miteinander. Ein heftiger Schneesturm hatte über das Land getobt, sodass sie ganz langsam fahren mussten. Erst wollte Monika Andreas beschwichtigen, aber sein finsteres Gesicht hatte sie so erschreckt, dass sie einfach kein Wort über die Lippen brachte.

Monika war sogleich ins Haus gelaufen und die Treppe hinaufgestiegen, um endlich ihren Tränen freien Lauf lassen zu können. Fassungslos saß sie auf dem Rand des breiten Doppelbettes, als Andreas ins Schlafzimmer trat.

»Monika, du hast dich unmöglich benommen!«, hatte er ihr wütend vorgeworfen.

»Aber, Andreas, warum denn? Gut, ich war ein bisschen ausgelassen, aber das waren alle anderen Frauen doch auch. Ein Ball ist doch etwas Fröhliches!«, hatte sie sich verteidigt und sich die Tränen fortgewischt, dabei hatte sie ängstlich gelauscht. Wenn Andreas zu viel getrunken hatte und eifersüchtig war, konnte er sehr laut werden. Dann nahm er nicht die geringste Rücksicht auf seine Kinder, deren Schlafzimmer sich auf der gleichen Etage befanden. Nicht zum ersten Mal waren die Kleinen durch einen heftigen Streit ihrer Eltern wach geworden. Oft war es sogar vorgekommen, dass sie in deren Schlafzimmer kamen.

»Bitte, Andreas, nicht so laut«, hatte sie gebeten, »sonst werden die Kinder wieder wach!«

»Kinder haben einen festen Schlaf«, hatte er zornig erwidert. »Mit jedem Mann hast du geflirtet, ohne Rücksicht darauf, dass du meine Frau bist. Man wird über mich lachen. Was weiß ich denn, was du während meiner Abwesenheit alles treibst. Dass du mich nicht mehr auf meinen Tourneen begleiten willst, wird schon seinen Grund haben«, hatte er sich immer mehr in seine Eifersucht hineingesteigert.

»Andreas, bitte, schrei doch nicht so! Auch Lotti wird wach. Ich kann jetzt doch nicht weg. Das musst du doch einsehen. Die Kinder sind noch zu klein. Sie brauchen Nestwärme.«

»Immer die Kinder! Wie oft habe ich dir vorgeschlagen, sie in ein Heim zu geben. Ganz in der Nähe befindet sich doch dieses Sophienlust, von dem man sich wahre Wunderdinge erzählt. Aber du hast alle meine Bitten in den Wind geschlagen, nur weil du bei deinem Liebhaber bleiben willst!«

»Andreas, bitte hör auf! Wenn du auf Thomas Rodensky anspielst, dann kann ich dir nur sagen, dass er verlobt ist und Anfang nächsten Jahres heiratet.«

»Wenn er es nicht ist, dann ist es ein anderer. Frauen sind hinterlistige Geschöpfe, sie verstehen es meisterhaft, ihre Männer hinters Licht zu führen.«

»Mein Gott, Andreas, wie kannst du nur so verblendet sein!«, hatte sie geflüstert, denn plötzlich wurde ihr übel, und sie dachte an das Kind, das in ihr wuchs. Sie musste ihm sagen, dass sie wieder schwanger war, das würde ihn beruhigen. Dann würde er bestimmt rücksichtsvoller sein und bereuen, dass er so ungerechte Dinge gesagt hatte.

»Wer ist es?«, hatte Andreas unbeherrscht geschrien. »Habe wenigstens den Mut, mir die Wahrheit zu sagen. Damit wir diesem quälenden Zustand ein Ende bereiten können.«

Monika lief ins Badezimmer, weil sie sich erbrechen musste. Als sie zurückkam, fühlte sie sich wie ausgehöhlt und so matt, dass sie sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte. »Verzeih, Andreas«, hatte sie gebeten, »aber mir war so schlecht.«

Plötzlich hatte er begriffen. Mit eisiger Miene hatte er sie gemustert. »Also das ist es. In welchem Monat bist du?«

»Im dritten, Andreas.«

»Im dritten schon. Und warum hast du mir deinen Zustand verschwiegen?« Drohend hatte er vor ihr gestanden.

Monika hatte dann hemmungslos geschluchzt. Diesmal überstieg seine Eifersucht ihre Kräfte. Alles drehte sich um sie, und sie fiel aufs Bett.

»Also, du willst nicht antworten. Ich verstehe. Dann ist das Kind nicht von mir. Vor drei Monaten war ich überhaupt nicht hier.«

»Doch, Andreas, du warst für drei Tage nach Hause gekommen, bevor du nach New York flogst. Erinnerst du dich denn nicht mehr daran?«, hatte sie verzweifelt gefleht.

Ein wildes Schluchzen schüttelte sie. Was hatte sie nur verbrochen, dass Andreas sie so behandelte? Sie liebte ihn doch! Und er liebte sie. Noch heute Abend hatte er ihr das gestanden. Niemals hatte sie einem anderen Mann gehört, niemals! Wenn sie ihm das doch endlich begreiflich machen könnte. Aber Andreas war in seiner jetzigen Verfassung unansprechbar. Seine Eifersucht war wie eine schlimme Krankheit, die ihm jede Kontrolle über sich raubte. Im Grunde genommen war er ein bedauernswerter Mensch, dachte sie ganz unglücklich.

»Niemals werde ich das Kind als meines anerkennen«, hatte er eisig gesagt und war gegangen. Noch wusste sie nicht, dass sie ihn zum letzten Mal sah, denn eine Stunde später hatte er das Haus verlassen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Dass er noch mit den Kindern gesprochen hatte, hatte Monika später von Günther erfahren.

Monika schwieg erschöpft. »Nun weißt du alles, Geli«, flüsterte sie am Ende ihrer Kräfte. »Seitdem sind sechs Monate verstrichen, die für mich wie sechs Jahre waren. In wenigen Tagen kommt mein Baby auf die Welt. Sein Kind, Geli. Was wird nur aus dem armen Würmchen werden.«

»Moni, es wird sich alles zwischen Andreas und dir wieder einrenken. Er wird sein Unrecht eingesehen haben und findet nur noch nicht den Mut, an dich zu schreiben.«

»Glaubst du das wirklich?« Ein Hoffnungsschimmer glomm in ihren Augen auf, doch schnell erlosch er wieder. »Nein, Geli, dran glaube ich nicht mehr. Ich werde Andreas niemals wiedersehen, ich spüre das genau. Ich habe auch keine Kraft mehr zum Weiterleben.«

»Moni, so darfst du nicht reden! Deine Kinder brauchen dich.«

»Meine Kinder? Ich liebe sie wirklich innig, doch meine Liebe zu Andreas ist stärker.«

»Aber du bist wegen der Kinder hiergeblieben und hast Andreas allein in die Welt reisen lassen.«

»Versteh mich bitte, Geli! Günther und Rosi brauchen viel Zärtlichkeit und Verständnis. Ein fremder Mensch kann ihnen nicht dieselbe Liebe schenken wie die eigene Mutter, die sie unter Schmerzen geboren hat.«

»Siehst du, Moni, darum musst du auch weiterleben wollen.«

»Ja, Geli, ja«, flüsterte sie. Dann fielen ihr die Augen zu. Angelika blieb noch ein Weilchen bei ihr, um sich zu überzeugen, dass sie auch ruhig schlief. Endlich erhob sie sich und ging auf Zehenspitzen in ihr Zimmer.

*

Gegen Morgen zogen die ersten schweren Wolken auf, und als Günther und Rosi ihre Augen aufschlugen, klatschte der Regen mit voller Kraft gegen die Fensterscheiben.

Verwirrt setzte Rosi sich im Bett auf. Die fremde Umgebung versetzte sie in Angst und Schrecken. Als sie gewohnheitsmäßig nach ihrem geliebten Äffchen Poppy griff, fasste sie ins Leere.

»Wo ist Poppy?«, fragte sie verschlafen und rieb sich die Augen. »Günther!«, rief sie dann aufgeregt und kletterte aus dem Bett. »Wach doch endlich auf! Rosi fürchtet sich.«

»Was ist denn los«, brummte er und schien nicht weniger verwirrt als sein Schwesterchen zu sein.

»Wir sind nicht daheim. Auch Poppy ist nicht da«, klagte die Kleine weinerlich.

»Ich weiß doch, dass wir in Sophienlust sind. Mami ist ja auch hier.«

»Ach ja, nun weiß ich es wieder. Komm, wir gehen zu Mami«, sagte Rosi und lief schon zur Tür. Sie stellte sich auf die Fußspitzen, um die Klinke herunterzudrücken. »Günther, komm doch. Ich will Mami guten Morgen sagen.«

»Ob wir das dürfen? Du musst dir erst die Hausschuhe anziehen. Sonst erkältest du dich, hat Mami gesagt.«

Folgsam ging das Kind zum Bett zurück, wo die kleinen Schuhe auf dem Bettvorleger standen. Sie hatte einige Mühe, sie anzuziehen.

»Also gut, jetzt gehen wir zu Mami«, erklärte sich Günther einverstanden und schlüpfte nun ebenfalls in seine Hausschuhe.

Hand in Hand verließen sie das Zimmer. Ängstlich lugten sie nach beiden Seiten. »Ich weiß aber nicht, wo Mamis Zimmer ist«, meinte er besorgt.

»Ich auch nicht. Ich habe es vergessen.«

In diesem Augenblick kam Angelika den Korridor entlang. Den beiden Kindern erschien sie wie ein rettender Engel. Das Mädchen lächelte die beiden freundlich an. Wie reizend die Kleinen waren. Rosi sah mit ihren verwuschelten dunklen Haaren und den großen Augen zum Anbeißen süß aus.

»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte sie leicht belustigt über deren Aufzug. »Ihr habt ja noch die Schlafanzüge an!« Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie ja hatte Lotti anrufen wollen, um sie nach dem Affen Poppy zu fragen.

»Zu Mami«, erwiderten die Kinder wie aus einem Mund.

Rosi blinzelte sie misstrauisch an. Noch war ihr nicht ganz klar, wie sie sich all den fremden Leuten hier gegenüber verhalten sollte. Gestern Abend war es ja recht hübsch gewesen. Nick hatte ihnen den Papagei Habakuk gezeigt, der ihren Namen kannte und immer wieder Rosi, Rosi gerufen hatte. Auch das beleuchtete Aquarium mit den schillernden Fischen hatte ihr gefallen. Ja, und am schönsten war das Ponybaby gewesen. Aber nun wollte sie wieder nach Hause. »Ich will zu meiner Mami«, sagte sie leise.

»Ich auch«, schloss sich Günther ihr an, mühsam seine Tränen zurückdrängend.

»Jetzt zieht ihr euch erst mal an! Dann frühstückt ihr, denn Mami schläft noch.«

»Ach so!« Günther nickte. Rosi war jedoch nicht mit Angelikas Vorschlag einverstanden, ihre Lippen begannen zu zittern. Schließlich fing sie an zu weinen.

»Rosi, nicht traurig sein!«, bat Angelika. »Weißt du noch, wie ich heiße?«

Kindertränen versiegen schnell. Ein spitzbübisches Lächeln erhellte die Züge des kleinen Mädchens. »Das weiß ich noch. Du heißt Geli. Ich merke mir alle Namen, aber Günther vergisst sie immer. Dafür ist er auch ein Junge«, fügte sie überlegen hinzu.

»Ich behalte die Namen ebenso gut wie du«, verteidigte sich der Junge.

Angelika musste trotz ihrer Sorge über den schlechten Zustand ihrer Schwester herzlich lachen. Kinder waren beneidenswerte Geschöpfe. Wie rasch vergaßen sie ihren Schmerz. Sie war erstaunt, wie schnell sie Kontakt zu den Kindern fand.

Beim Anziehen ging es recht lustig zu, und Rosi vergaß für ein Weilchen ihren Affen.

Nach dem Frühstück, das Angelika mit den Kindern gemeinsam einnahm, brachte sie die Kleinen zu Monika.

Monika schien es tatsächlich besser zu gehen. Angelika führte das auf die gestrige Aussprache zurück. Nun würde Monika wieder genesen, dessen war sie plötzlich ganz sicher.

»Wann stehst du denn auf, Mami?«, fragte Rosi, als sie ihre Mutter umarmt und geküsst hatte.

»Ja, Mami, du musst rasch gesund werden. Wir können dann im Park spazieren gehen. Und dann fahren wir wieder nach Hause, nicht wahr?«, fragte Günther gespannt.

»Ja, Günther.« Monika schenkte ihren Kindern ein zärtliches Lächeln, dabei war es ihr so schwer ums Herz. Auf einmal fürchtete sie den Tod. Sie war noch jung! Vielleicht würde doch noch alles zwischen Andreas und ihr gut werden. Sie atmete unregelmäßig. »Geli, gib mir bitte meine Tropfen«, keuchte sie mit bläulich verfärbten Lippen.

Angelikas Hoffnung auf Monikas Genesung bekam einen argen Dämpfer. »Gleich, Moni! Oh, Frau Rennert, gut, dass Sie kommen«, wandte sie sich an die Heimleiterin, »bitte, bringen Sie die Kinder hinaus!«

»Ja, Frau Berger. Die Krankenschwester ist eingetroffen. Sie wird gleich hier sein.«

Stumm gingen Rosi und Günther neben Frau Rennert her, die sie ins Spielzimmer brachte. »Arme Mami«, sagte Rosi. »Sie ist wieder krank.«

»Aber sie wird bald ganz gesund werden. Verlass dich drauf«, tröstete Günther sie zuversichtlich.

»Ja, Günther, das glaube ich auch.« Rosis Interesse wandte sich einem Trachtenpüppchen zu, das eines der kleinen Mädchen vor langer Zeit in Sophienlust vergessen hatte. »Ob ich die Puppe behalten darf?«, flüsterte sie nach einem schnellen Blick auf Tante Ma Günther zu.

Frau Rennert hatte ihre Frage gehört. »Ja, Rosi, das Püppchen darfst du haben.«

»Aber Poppy mag ich noch lieber. Heute wird Lotti ihn hierherbringen. Geli hat es mir versprochen. Lotti könnte doch auch in Sophienlust bleiben.«

»Das geht nicht, Rosi«, klärte Frau Rennert das Kind auf. »Jemand muss auf euer Haus aufpassen.«

»Ja, das ist wahr«, gab sie nachdenklich zu.

Als es Monika etwas besser ging und Schwester Paula bei ihr war, rief Angelika in der Treßlow-Villa an. Lotti versprach, den Affen und noch einige Kleidungsstücke der Kinder nach Sophienlust zu schicken.

Lange brauchte Rosi diesmal nicht zu warten. Zum Mittag war Poppy in ihrem Besitz. Als Angelika ihn ihr brachte, schrie sie vor Begeisterung. »Poppy ist da. Mein lieber Poppy.« Selig presste sie den Affen an sich. »Jetzt, wo du wieder bei mir bist, ist mir nicht mehr ganz so bange«, flüsterte sie ihm glücklich ins Ohr.

»Rosi ist doch noch sehr klein«, meinte Günther und genierte sich ein bisschen wegen ihres babyhaften Benehmens.

Angelika lächelte gerührt und strich den Kindern dann übers Haar.

»Wo ist eigentlich Nick?«, fragte Günther.

»Noch in der Schule. Er wohnt ja nicht hier.«

»Warum nicht? Ich mag ihn nämlich.«

»Er wohnt in Schoeneich mit seinen Eltern und Geschwistern zusammen. Aber sicherlich wird er heute hierherkommen«, tröstete Angelika.

Am späten Vormittag erschien Denise in Sophienlust. Sie schlug Angelika vor, sich einmal die alte Mühle anzuschauen.

»Ja, das ist ein guter Einfall. Monika braucht mich im Augenblick nicht, und auch die Kinder sind in guter Obhut.«

Angelika war ehrlich froh, etwas vorzuhaben, was sie ein wenig von ihrer Sorge ablenkte. Noch nie war sie derart nervös gewesen, selbst nicht vor dem Tod von Tante Lizzy, auf den sie sich innerlich lange hatte vorbereiten können.

»Vielleicht wenden Sie sich an Dr. Lutz Brachmann. Er ist ein ausgezeichneter Anwalt und kann Ihnen gewiss mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Oh, das ist eine gute Idee, Frau von Schoenecker«, bedankte sich Angelika und ließ sich die Adresse geben. »Sie sind so gütig zu uns allen«, fügte sie gerührt hinzu. »Ich bewundere Sie ehrlich.«

»Aber das ist doch selbstverständlich, Frau Berger.« Denise lächelte ein bisschen verlegen.

Angelika wurde sofort bei Dr. Brachmann vorgelassen. Der Anwalt empfing die von Denise telefonisch angemeldete Klientin überaus herzlich. Zufälligerweise hatte Thomas Rodensky ihn mit dem Verkauf der alten Mühle betraut, sodass sich keine Schwierigkeiten ergaben.

»Hier ist der Schlüssel«, sagte er. »Wenn Sie Lust haben, können Sie die Mühle noch heute besichtigen. Leider fehlt mir die Zeit, Sie zu begleiten.«

»Ich finde schon hin«, erwiderte Angelika und nahm den Schlüssel in Empfang. »Darf ich noch einmal in Sophienlust anrufen? Inzwischen war bestimmt Dr. Wolfram bei meiner Schwester, ich möchte mich gern erkundigen, was er gesagt hat.«

»Selbstverständlich, Frau Berger!« Dr. Brachmann schob ihr den Apparat hin.

Angelika erreichte nur Frau Rennert. »Wie geht es meiner Schwester?«, fragte sie gespannt.

»Ich glaube, es geht ihr besser. Doktor Wolfram meint, dass das Kind bald kommen wird. Wenn die Geburt normal verläuft, können wir wieder hoffen«, fügte Frau Rennert leise hinzu. Angelika ahnte nicht, dass das eine barmherzige Lüge war, denn Dr. Wolfram war keinesfalls zuversichtlich gewesen.

»Oh, das ist fein. Und wie geht es den Kindern?«

»Nick ist gekommen. Er kümmert sich rührend um sie. Der Junge hat ein Herz wie Gold.«

»Ich habe noch niemals so viel gütige Menschen auf einmal kennen gelernt«, sagte Angelika. »In ungefähr drei Stunden werde ich wieder in Sophienlust sein. Vielen Dank, Frau Rennert!«

Angelika legte auf. »Sophienlust ist ein Paradies auf Erden«, wandte sie sich an Dr. Brachmann.

»Ja, Frau Berger. Niemand klopft dort vergebens an die Pforte, für alle Bedürftigen gibt es Hilfe. Frau von Schoenecker opfert sich rührend für ihre Mitmenschen auf.«

»Ihr Sohn gleicht ihr sehr.«

»Nick ist ein großartiger Junge.«

Als Dr. Brachmann ihr den Weg nach der alten Mühle genau beschrieben hatte, verließ Angelika beschwingt die Kanzlei. Letzten Endes wendete sich doch noch alles zum Guten. Wie konnte sie auch ahnen, dass sie sich schon bald um ihre Hoffnungen betrogen sehen würde.

Es hatte zu regnen aufgehört, und als Angelika den Weg zu dem Dorf einschlug, wo sich die Mühle befand, kroch die Sonne hinter einer schwarzen Wolke hervor und verzauberte das Land mit ihren Strahlen. Dann erblickte Angelika die alte Mühle, für sie ein lieblicher und auch tröstender Anblick. Ein munteres Bächlein floss vorbei. Alte Weiden standen am Ufer und tauchten die Spitzen der Zweige ins Wasser. Auf den Wiesen, die das Dorf umgaben, weideten Kühe. Sie trugen große Glocken, die bei jeder ihrer Bewegungen fröhlich läuteten.

Zum ersten Mal seit dem gestrigen Tag, der ihr so viele traurige Überraschungen gebracht hatte, stieg in Angelika ein Glücksgefühl hoch. So schön hatte sie sich die Mühle nicht vorgestellt. Ja, hier würde sie ungestört schöpferisch arbeiten können und gute Ideen bekommen. Nach ihrer Genesung müsste Monika täglich zu ihr kommen, und wenn es ihr danach zumute war, könnte sie auch länger bei ihr wohnen bleiben. Sie würde dann auf die Kinder aufpassen, damit ihre Schwester sich entspannen konnte.

Diese herrlichen Zukunftspläne beflügelten ihre Schritte, als sie das letzte Stück Weg zu Fuß weiterging. Sofort erkannte sie, wie gepflegt das Anwesen war. Das Gebäude schien vor nicht allzu langer Zeit renoviert worden zu sein. Alles befand sich in einem tadellosen Zustand, sodass man vorläufig kein Kapital in den Besitz hineinstecken musste, überlegte Angelika.

Ein Teil des Mobiliars war zurückgeblieben und im Kaufpreis mit inbegriffen. Angelika ging durch die Räume, denen man ansah, dass eine liebevolle Hand sie in Ordnung gehalten hatte. Die Möbel waren teilweise aus Eichenholz und gediegene Tischlerarbeit. Sogar ein Bett war vorhanden.

Das Atelier begeisterte sie am meisten. Von allen Seiten flutete helles Licht herein. Ein Raum, wie geschaffen für ihre zukünftige Arbeit.

Morgen werde ich mir alles Nötige fürs tägliche Leben besorgen, dachte Angelika, und dann so bald wie möglich hier einziehen. Zufrieden mit ihrer Besichtigung, fuhr Angelika wieder zu Dr. Brachmann, um den Kaufvertrag zu unterschreiben.

Dann kehrte sie auf dem schnellsten Wege wieder nach Sophienlust zurück. Rosi und Günther begrüßten sie freudig, das war ein gutes Zeichen. Es schien so, als ob die Kleinen sie bereits anerkannten.

»Warum hast du uns nicht mitgenommen?«, wollte Günther wissen. »Ich fahre doch liebend gern mit deinem Wagen.«

»Ich auch!«, sagte Rosi und streichelte den Kopf ihres Affen. »Und Poppy auch«, fügte sie hinzu.

»Das nächste Mal dürft ihr mitfahren«, versprach Angelika.

»Frau Berger, Doktor Wolfram ist noch einmal gekommen und würde Sie gern sprechen«, unterbrach Frau Rennert ihr Gespräch mit den Kindern.

»Ja?« Angelika erblasste. Ob es Monika wieder schlechter ging? Beklommen folgte sie der Heimleiterin in den Salon, wo Dr. Wolfram auf sie wartete.

»Geht es meiner Schwester schlechter?«, fragte sie nach der kurzen Begrüßung.

»Im Augenblick kann ich leider nicht viel Gutes sagen«, gab er offen zu. »Ich würde Ihnen empfehlen, Ihre Eltern zu verständigen.«

Angelika spürte, wie ihr alles Blut aus dem Herzen strömte.

»Steht es denn so schlimm?«, fragte sie und sank auf den nächsten Stuhl.

»Bitte, beruhigen Sie sich, Frau Berger!«, bat der Arzt. »Ich halte es nur für besser, dass Ihre Eltern kommen.«

»Ja, Herr Doktor. Ich hoffe, dass ich sie erreiche. Ich werde in München anrufen und das Hausmädchen fragen. Es weiß bestimmt, wo sie sich im Augenblick aufhalten.«

»Und Ihr Schwager?«

»Ich habe keine Ahnung, wo er sich befindet. Aber seinen jetzigen Aufenthalt könnte man doch durch seine Agentur erfahren.«

»Ja, das ist ein guter Gedanke. Kopf hoch, Frau Berger! Wir Ärzte werden alles tun, was in unserer Macht steht«, versprach er, denn er wusste, wie schlecht es um die Patientin stand. Aber solange noch Leben in einem Menschen war, musste man hoffen.

Als Angelika allein zurückgeblieben war, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Sie fühlte sich unfähig, irgendetwas zu tun. Obwohl Moni und sie sich in letzter Zeit nicht gesehen hatten, würde die Welt ohne sie für sie entsetzlich leer sein.

Endlich raffte sie sich auf. Angelika erfuhr von dem Mädchen, dass ihre Herrschaft morgen Abend zurückerwartet wurde. Sie bat das Mädchen, ihnen auszurichten, dass sie sofort in Sophienlust anrufen sollten und nannte ihr die Telefonnummer. Danach rief sie die Agentur an, die die Verträge für Andreas Treßlow abschloss. Dort erfuhr sie, dass der Pianist Treßlow sich zurzeit in São Paulo aufhielt. Sie bekam die Adresse seines Hotels, sodass sie sofort telegrafieren konnte. Sie formulierte das Telegramm absichtlich ernster, weil sie hoffte, dass ihr Schwager sich nach dem Empfang sofort in die nächste Maschine setzen würde. Wenn Monika ihn sah, vielleicht geschah dann das Wunder, auf das sie alle so sehr hofften.

*

Dominik konnte nicht einschlafen. Zu vieles beschäftigte ihn. Seit Frau Treßlow und ihre beiden Kinder in Sophienlust waren, war es lange nicht mehr so lustig wie früher. Seine geliebte Mutti sah oft so bekümmert drein. Ja, und dann war da noch etwas anderes.

Dominik knipste die Nachttischlampe an, dabei fielen ihm die Worte von Oma Wellentin ein, die sich häufig über ihre Schlaflosigkeit beklagte. Als er sie gefragt hatte, weshalb sie eigentlich nicht schlafen konnte, hatte sie erwidert, erwachsene Leute, und besonders die älteren, hätten oft schwierige Probleme, die ihnen den Schlaf raubten.

Manchmal war das Leben doch zu schwer. Er hatte auf einmal ein so komisches Gefühl in der Magengegend. Bestimmt hatte er Hunger.

Dominik überlegte, wo er jetzt noch etwas zum Essen herbekäme. Mutti liebte es nicht, wenn ihre Kinder nachts in die Speisekammer gingen. Aber sein Magen tat richtig weh vor Hunger.

Vielleicht hatte Andrea noch Kekse. Sie hatte immer welche in der vergoldeten Keksdose aufbewahrt, die sie voriges Weihnachtsfest von Omi Wellentin geschenkt bekommen hatte. Ganz bestimmt waren darin noch Waffeln, die nach Zitrone schmeckten.

Sein Verlangen danach wurde so heftig, dass es ihn nicht mehr länger im Bett hielt. Barfüßig lief er zur Tür und öffnete sie geräuschlos. Auf Zehenspitzen schlich er den Korridor entlang. Als die alte Standuhr schlug, zählte er mit. Zehn, stellte er fest. Ob Andrea um diese späte Stunde überhaupt noch wach war, schien fraglich. Er drückte die Klinke ihrer Zimmertür hinunter und lugte hinein. Die beiden Fensterflügel standen weit offen und das helle Mondlicht zeichnete die Möbelstücke klar ab.

Dominik konnte Andrea im Bett liegen sehen und rief gedämpft: »Andrea, schläfst du schon?«

»Nick, was willst du denn?«, fragte das junge Mädchen überrascht und richtete sich ein wenig auf. »Fehlt dir etwas?«

»Ich weiß nicht, Andrea«, erwiderte er gepresst. »Ich habe so ein komisches Gefühl im Magen. Ich glaube, der Hunger nagt in meinen Eingeweiden.«

»Red nicht so geschwollen! Du hast heute Abend reichlich gegessen. Du wirst dir den Magen verdorben haben.«

»Nein, Andrea, bestimmt nicht«, widersprach er schnell, weil er befürchtete, dass sie ihm dann keine Kekse geben würde. »Ich habe nur Hunger. Ja, ich habe großen Hunger, weil ich so viel nachdenken muss und nicht einschlafen kann.« Er schloss die Tür und ging zu ihrem Bett. »Ich dachte, du würdest mir einen Keks geben, oder eine Waffel, die mit dem Zitronengeschmack.«

»Dort auf dem Regal steht die Dose, Nick«, sagte Andrea großzügig. »Nimm dir nur! Pass aber auf, dass du sie nicht hinunterwirfst.«

»Danke, Andrea! Es ist schon ein Glück, eine große Schwester zu haben«, bekannte er. Er liebte Andrea innig und vergaß, dass sie seine Stiefschwester war. Auch seinen Stiefbruder Sascha mochte er sehr und seinen Halbbruder Henrik ebenfalls. »Darf ich mich ans Fußende von deinem Bett setzen?«, fragte er dann.

»Selbstverständlich, lange kannst du nicht bleiben, sonst merkt es Mutti.«

»Darf ich die Kerze anzünden?«, fragte er. »Ich mag das Kerzenlicht so gern, das macht eine so schöne Stimmung. Findest du nicht auch?«

»Ja, Nick, das finde ich auch.« Andrea lächelte ihn verständnisvoll an.

Dominik suchte nach den Streichhölzern und zündete dann feierlich die rote Kerze auf der Kommode an, dann kroch er zu Andrea ins Bett und steckte seine Beine unter die Bettdecke.

»Du hast ja ganz kalte Füße. Bestimmt bist du wieder ohne Hausschuhe durch das Haus gelaufen.«

»Ja, Andrea, ich habe vergessen, sie anzuziehen, weil ich mit meinen Gedanken ganz woanders war.« Dominik biss aufatmend in einen Keks. Mit vollem Mund sagte er dann: »Ich habe Sorgen, Andrea.«

»Warum denn? Was ist denn passiert?«, fragte sie einfühlsam.

»Das ist es ja eben. Ich darf es dir nicht sagen. Es ist ein großes Geheimnis, das ich bei mir behalten muss. Du musst mir das glauben.«

»Aber wir hatten noch nie Geheimnisse voreinander«, meinte Andrea, denn sie war neugierig zu erfahren, was ihrem kleinen Bruder so viel Kopfzerbrechen machte.

»Bitte, frag mich nicht, Andrea! Mädchen können nämlich keine Geheimnisse für sich behalten. Das steht nun einmal fest.«

»Aber das ist doch ein ausgemachter Unsinn«, verteidigte Andrea ihr Geschlecht. »Männer können viel weniger schweigen. Neulich sagte unsere Lehrerin, dass …«

»Pst, Andrea, horch mal. Das Telefon! Um diese Zeit? Jetzt höre ich die Schlafzimmertür von Mutti und Papi gehen. Es ist bestimmt etwas Schlimmes los«, fügte er aufgeregt hinzu und dachte sofort an Frau Treßlow.

»Das befürchte ich auch. Sicherlich bekommt Frau Treßlow ihr Baby, und Mutti und Papi fahren zu ihr.«

»Dann weißt du das auch?« Maßloses Staunen war in seinen Augen zu lesen. »Dann ist es doch gar kein so großes Geheimnis mehr. Da bin ich aber froh!«, stieß er erleichtert aus.

»Natürlich ist es ein Geheimnis. Neulich hat Mutti sich verplappert, da habe ich sie einfach direkt danach gefragt. Aber sag, woher weißt du es denn? Hast du wieder einmal gelauscht?«

»Nicht so richtig. Ich hörte es nur zufällig. Ehrenwort, ich wollte nicht lauschen. Das kannst du mir glauben.« Er streckte ihr die Hand hin.