Sorgenpflanzen - Neslihan Minaz - E-Book

Sorgenpflanzen E-Book

Neslihan Minaz

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Nachhilfelehrer, der die Schülerin Jasmin in Mathematik unterstützen sollte, gestaltet seinen Unterricht beim zweiten Treffen anders. Ganz anders. Nämlich so, dass er seine Schülerin in große Verwirrung versetzt. Mit Worten, die mit der Zeit stark von Mathematik abweichen. Und mit Sorgenpflanzen. Warum? Sie weiß es nicht und diese Frage verfolgt sie wie ein Schlüsselanhänger, der sich vom Bund nicht mehr lösen lässt. Sein außergewöhnlich verrücktes Verhalten lässt sogar vermuten, dass er ein Einzelgänger ist. Irgendwann schafft Samuel jedoch, ein freundschaftlicher Lehrer für sie zu sein und Jasmin hätte nie gedacht, dass sie ihre Eltern eines Tages belügt, nur um den Hobbygärtner nochmal zu treffen. So kommt Samuel einen Schritt näher zu seinem Ziel.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Impressum

Copyright © 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Neslihan Minaz, Wien

Cover: Canva

Kapitel 1

Während der ganzen Nacht träumte er so schön, dass sogar sein Wecker ihn nicht wachrufen konnte. Er kann sich nicht mehr erinnern, wann er zum letzten Mal so tief und lebendig träumte. Eine verborgene Stimme in seinem Inneren möchte ihm aus irgend einem Grund wachrütteln. Nicht der Wecker. Dieser hat seine Pflicht bereits erfüllt, jedoch ohne Erfolg.

Helles Licht, welches seine müden Wangen berührt, bringen seine schweren Augenlider sanft in Bewegung. Er genießt die Sonnenstrahlen, die zwischen den schwebenden Schneeflocken durch das Fenster auf sein Gesicht zielen. Jetzt erinnert er sich. Ein Vorstellungsgespräch, welches genau zu diesem Zeitpunkt stattfinden sollte. Die kuschelige Bettdecke bestätigt, dass er in diesem Moment nicht dort ist, wo er sein sollte. Ups.

Er schlüpft aus seiner gemütlichen Bettdecke und schlendert durch den bescheidenen Wohnschlafraum ins Badezimmer, dessen Ecken eine mit durchsichtigem Vorhang umgebene Duschkabine, eine Toilette und ein altmodisches Waschbecken ins Blickfeld rücken. Als er das Waschbecken passiert, erblickt er aus dem Spiegel sein munteres Gesicht mit einem freundlichen Zwinkern. Naja, die nächste Gelegenheit wird schon kommen.

Wie bei vielen anderen Menschen ist auch bei ihm die Toilette der erste Ort nach dem Aufstehen. Das ist eines der wenigen Tätigkeiten, die er als normaler Mensch ausübt. Nach dem Aufstehen die Blase leeren. Ist doch völlig normal. Ja, und dann begibt er sich wie jeder normale Mensch zum Waschbecken, um mögliche Bakterien auf seinen Händen zu entfernen. Dabei dreht er die kalte Seite des kleinen Wasserhahns auf. Ist das auch normal? Er weiß es nicht. Es ist ihm egal.

Sein Gesicht schreckt er mit kaltem Wasser ab. Seine Zähne putzt er lieber vor dem Fenster, um die Herrlichkeit des heutigen Wetters zu genießen. Schön, dass man den Schnee noch erleben darf. Er erinnert sich an seine jungen Jahre, wo er im Winter große, kugelrunde Schneemassen auf einem Haufen sammelte und diese dann in einen molligen Schneemann verwandelte. Einen Schneemann ohne Augen, Mund und Nase. Diese Jahre sind vorbei.

Auf dem Rückweg zu seinem kompakten Badezimmer überlegt sich der Nachhilfelehrer mit geschäumter Zahnpaste im Mund eine Strategie für seine neue Schülerin, die er heute zum zweiten Mal besucht. Unter seinen vielen Schülerinnen und Schülern, die er in Mathematik betreut, empfindet er bei der jungen, sechzehnjährigen Jasmin die größte Hoffnung für einen dauerhaften Erfolg. Sie ist aufmerksam, neugierig und legt viel Wert auf ihre Leistungen.

„Eigentlich bestand ich darauf, mit einer Lehrerin zu arbeiten, aber meine Eltern waren der Meinung, dass Männer für Mathe besser geeignet wären." Und sie ist vor allem ehrlich. Der Nachhilfelehrer schätzt Menschen, die sich nicht vor der Wahrheit scheuen.

„Das freut mich zu hören, aber ich sehe das nicht so. Du anscheinend auch nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, meintest du bei der letzten Einheit, dass du mit der Nachhilfe zufrieden warst." Während Jasmin ihre Schulhefte und Stifte auf dem Ecktisch in ihrem Zimmer bereitstellt, packt Samuel zwei glänzend grüne Äpfel und ein kleines, weißes Keramikmesser aus seiner Stofftasche. Hängende Freundschaftsfotos gewinnen beim Lehrer keine besondere Aufmerksamkeit.

„So ist es. Sie haben mir bei meinen Hausaufgaben sehr geholfen", antwortet Jasmin verwundert über Samuels Gegenstände. Ist das seine Jause?

„Oh verzeih' bitte, habe ich mich noch nicht vorgestellt? Ich bin Samuel, oder kurz Sam und möchte bitte per Du kommunizieren, sonst fühle ich mich so alt. Was ist dir lieber, Du oder Sie?" Jasmin erinnert sich daran, wie sich Samuel die Woche davor mit fast der exakten Wortwahl vorstellte.

„Sorry, hab' ich vergessen. Ja, wir können per Du sein." Irgendwie findet Jasmin keinen Gefallen an den zwei Äpfeln und dem scharfen Messer.

„Das letzte Mal hattest du übrigens deine Hausaufgaben selbst gelöst." Aus seiner Stofftasche holt er ein rechteckiges Holzbrett und legt es neben den zwei Äpfeln. Jasmin kratzt sich fragend am Kopf.

„Wie meinst du das?" Die junge Schülerin blickt ihn verwirrend an. Warum hat er diese Dinger mit?

„Genau so wie ich es sagte. Ich habe dich nur mit Fragen begleitet, die du selbständig beantworten konntest. Heute bringe ich dir etwas Neues bei." Dabei deuten seine hellen Augen auf die vorbereiteten Gegenstände auf dem Tisch. Jasmin blickt ihn forschend an, um eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten zu finden. Brünett, schlank, fast schon zu schlank, freundliches, unschuldiges Gesicht. Gefährlich aussehen tut er nicht.

„Ähh … wir hätten zu Hause auch Messer und Schneidebrett g'habt", informiert sie den Lehrer, der sie fast ignorierend anlächelt, „wollen wir nicht lieber den Schulstoff durchgehen?", schlägt sie schüchtern vor. Samuel blickt seiner neuen Schülerin fragend in die verwirrten, dunkelbraunen Augen.

„Möchtest du das wirklich?" Er wendet seinen schmalen Sehwinkel seufzend wieder zu den Äpfeln, als ob er eine besondere Beziehung mit ihnen hätte, aber die Hoffnung auf einmal verlor. Jasmin merkt, wie die Motivation des Lehrers langsam nachgibt. Die Sprachlosigkeit hat sogar die Welt ihrer Gedanken erreicht.

„Na gut, wir können auch einen anderen Stoff durchgehen. Aber die Hausübung muss ich auf jeden Fall erledigen." Sie will ja nicht unhöflich sein. Die Augen der beiden mit Spannung gefüllten Gesichter treffen sich.

„Müssen. Mhm. Müssen. Dazu kommen wir noch, aber nicht heute." Samuel versetzt Jasmin tiefer in Verwirrung. Ihre Gedanken wieder wach. Was läuft hier eigentlich ab?

„Was meinst du damit? Ich muss die Hausaufgaben heute wirklich erledigen!", verdeutlicht die Schülerin. Er schiebt die Äpfel in die Mitte des Ecktisches und wundert sich über Jasmins verdutzten Blick.

„Natürlich, natürlich. Die Aufgaben erledigen wir in den letzten zehn Minuten. Das Müssen meinte ich verschieben wir auf ein anderes Mal. Aber jetzt lernen wir das Addieren." Jasmin weiß noch immer nicht, ob sie sich in einem falschen Film befindet. Hat er vollkommen den Verstand verloren?

„Aber, ich kann doch schon addieren!", lacht Jasmin den Lehrer aus. Oh, Mann. Muss ich mir das wirklich antun?

„Da bin ich mir nicht so sicher", meint Samuel. Jasmin starrt den merkwürdigen Lehrer entsetzt an. Sag' doch gleich, dass ich dumm bin! Samuel nimmt die Irritation seiner Schülerin deutlich wahr.

Jasmin versucht ihren Senf dazuzugeben: „Ähh …" Samuel unterbricht sie dabei: „Doch bevor wir zur Addition kommen, möchte ich dir einige Fragen stellen, wenn ich darf." Fragen? Was für Fragen? Gespannt wartet Jasmin auf die kommenden Worte. Was will er von mir? „Darf ich?", fragt Samuel breit grinsend nach. Mit offenem Mund ihn anstarrend, gibt sie ihm ein stotterndes „Okay."

Jasmin beobachtet die wackelnden, nachdenkenden Augen, die auf das Fenster zeigen. Seine Stirn zieht die Augenbrauen hinauf, während der Mund eine kleine Portion Luft einatmet, damit das erste Wort ertönen kann. Doch die Lippen pressen sich zu einer waagrechten Linie, welches mit dunklen, dichten Stoppelhaaren beschmückt ist, zusammen und die hellen Augen wandern blinzelnd zur Schülerin, deren Nasenspitze erwartungsvoll zum Lehrer hinauf zeigt. Samuel findet großen Gefallen an der Neugier seiner neuen Schülerin.

„Was denkst du ist meine Hauptaufgabe, hier in diesem Moment?" Samuel versetzt die Schülerin erneut in Konfusion. Wie wenn ihre Mutter sie an einem stink normalen Tag plötzlich fragen würde: „Bist du dir denn auch sicher, dass ich deine Mutter bin?" Nach wenigen Atemzügen ziehen sich ihre rechte Schulter und ihr rechter Mundwinkel gegenseitig an.

„Naja, du bist hier, um mir in Mathe zu helfen." Der Lehrer scheint nicht zufrieden zu wirken mit dieser Antwort. Warum fragt er mich das?

„Warum soll ausgerechnet ich dir in Mathe helfen und nicht die Putzfrau des Stiegenhauses?" Samuel amüsiert sich an Jasmins oval förmigem Kopf, der ihn so anstarrt, als ob er den größten Idioten sehen würde.

„Na, weil du Mathe studiert hast und die Putzfrau nicht." Die Selbstverständlichkeit dieser Aussage hält den Lehrer von weiteren Fragen nicht ab.

„Warum bist du dir so sicher, dass die Putzfrau nicht Mathe studiert hat?" Jasmin kann sich kein lautes Lachen verkneifen. Das ist echt wie in einem falschen Film!

„Ähm … also …" Die Schülerin versucht ihr Gelächter zu beruhigen, während Samuel ihr Verhalten genau beobachtet. „Weil sie durch das Putzen Geld verdient, gehe ich davon aus, dass sie nicht Mathe studiert hat. Sonst würde sie was anderes machen. Vielleicht studiert sie nebenbei, das kann natürlich auch sein." Die Zufriedenheit im Gesicht des Lehrers verwundert die Schülerin noch mehr. Was hat der Typ geraucht?

Seine Euphorie lässt er nun hören: „Genau so ist es! Das ist nämlich logisch, nicht wahr?" Das Wort logisch dabei deutlich betonend. Wieder muss Jasmin ihr Gelächter aus ihrer Brust pusten. Diesmal versteckt sie ihr Gesicht hinter ihren zarten Händen. Okay, will der mir jetzt das logische Denken beibringen?

„Ja, logisch", gickelt die Sechzehnjährige. Oh, Mann. Sowas hab' ich echt nicht erwartet. Der Lehrer zeigt vollstes Verständnis für ihre Reaktion. Hilfe! Ich hab' einen Vollidioten im Haus! Jasmin schätzt Samuel als einen unerfahrenen Nachhilfelehrer ein. Letzte Woche wirkte er aber seriöser. Ist er vielleicht unter Drogen?

Die aus dem Gedankenbild verschwundenen Gegenstände auf dem Tisch hebt Samuel mit seinem Zeigefinger wieder hervor. „Genau so wie diese zwei Äpfel hier. Diese Äpfel sind hochgiftig und du bist nicht Schneewittchen." Jasmin wischt ihre Tränen aus dem Gesicht und fragt sich, warum er nun diese Märchenfigur erwähnt. Er wirft einen hastigen, fragenden Blick zu seiner Schülerin: „Bist du Schneewittchen?" Jasmin, gefangen im vermutlich schlechtesten Theaterstück, schüttelt vorsichtig ihren Kopf und versucht sich zu beruhigen. Sie möchte nicht unhöflich wirken, denn immerhin konnte er ihr letztes Mal bei den Hausaufgaben sehr gut helfen. „Deshalb essen wir diese Äpfel heute nicht. Diese sind so professionell manipuliert worden, dass man kaum einen Unterschied zwischen den beiden Äpfeln sieht. Bis heute habe ich nämlich keine zwei identischen, unverfälschten Äpfel gesehen. Diese zwei passen zum heutigen Unterricht." Ohje, dieser Typ meint es wirklich ernst.

Samuel nimmt die zwei glänzenden Früchte und versteckt eine unter dem Tisch. Den anderen Apfel legt er auf die Mitte des Tisches und zeigt mit dem Finger darauf. „Was siehst du hier?" Nun fragt sich Jasmin, ob daraus vielleicht ein Zaubertrick wird.

„Einen Apfel." Samuel holt die zweite glänzende Frucht und legt sie direkt neben ihrem Doppelgänger hin.

„Was siehst du jetzt?" Jasmin bleibt fassungslos. Langsam realisiert sie, dass sie tatsächlich einen dummen Menschen vor sich hat. Oh Mann, will er mir jetzt wirklich das Rechnen beibringen?

„Zwei Äpfel." Was kommt als nächstes? Samuel legt das Holzbrett unter die beiden, runden Glanzfiguren. Mit dem Messer halbiert er eines der beiden, wobei er auf einen sauberen, exakten Schnitt achtet.

„Was siehst du jetzt?" Jasmin blinzelt die Gegenstände vor ihrer Nase an.

„Ich sehe einen Apfel und zwei halbe Äpfel." Die Schülerin versteht die Begeisterung ihres Lehrers nicht. Wenigstens ist die Nachhilfe nicht langweilig.

„Eine letzte Frage habe ich noch. Warum siehst du nicht drei Äpfel? Es liegen doch drei Apfelstücke auf dem Tisch." Samuel merkt, wie sich die Irritation bei seiner Schülerin meldet. Mit ihrer Hand stützt Jasmin ihr Kinn und lässt ihren Ellbogen auf dem Tisch verwurzeln.

„Weil es zwei ganze Äpfel sind und nicht drei. Du hast einen auseinander geteilt, trotzdem sind es insgesamt nur zwei Äpfel." Nun sieht er die Gelegenheit mit dem eigentlichen Unterricht zu beginnen.

„Darf ich dir meine Ansicht über deine Ansicht mitteilen?" Wenn's unbedingt sein muss. Jasmin lässt ihre rechte Schulter zucken.

„Ja, aber bitte nicht auf die Hausaufgaben vergessen." Der Lehrer klatscht freudevoll in die Hände.

„Selbstverständlich. Schauen wir uns diese Früchte etwas genauer an." Er richtet seine Wirbelsäule auf und zeigt zu den Äpfeln. Jasmin spitzt ihre Ohren. Sie kann es einfach nicht fassen, dass er ihr das Addieren beibringen möchte. Das gibt's nicht. Da steckt sicher mehr dahinter. Sonst wird das heute wirklich die letzte Stunde mit ihm. Das kann's doch nicht sein. Hallo? Addieren lernt man in der Volksschule! „Wissen wir, dass ein Apfel und ein anderer Apfel zwei Äpfel ergeben, oder definieren wir die Addition so, dass wenn wir einen Apfel und einen weiteren Apfel sehen, wir insgesamt zwei Äpfel sehen und schließen daraus, dass immer eins plus ein Weiteres die Zahl Zwei ergibt?" Überrascht hebt Jasmin ihre beiden Augenbrauen. Was?

„Nochmal, bitte." Samuel freut sich über Jasmins Reaktion. Sie will ihn also noch ein Mal hören. Darauf hat er abgezielt. Jetzt muss er nur noch dranbleiben und darf ihre Aufmerksamkeit nicht verlieren. Na bitte. War doch einfacher, als gedacht.

„Warum ergibt eins und eins zwei?" Jasmin blinzelt ihn fragend an. In ihrem Inneren verschwindet die Spur vom Gelächter.

„Weil das einfach so ist", antwortet sie selbstbewusst.

„Hmm … da bin ich mir nicht so sicher", äußert er sich. „Ich behaupte, das Wort Eins ist vom Menschen erfunden. Die Zahl Eins ist eine Perspektive." Aha. Er versteckt die halbierten Äpfel unter dem Tisch und zeigt auf die ganze Frucht. „Der Mensch lernt so die Zahl Eins kennen. Er sieht nur ein Objekt." Jasmin betrachtet aufmerksam den sprechenden Lehrer und den Apfel auf dem Tisch. Samuel holt die halbierten Stücke, presst sie zu einem Ganzen zusammen und stellt sie neben dem anderen Apfel hin. „Legen wir nun einen weiteren Apfel, der dem anderen Apfel identisch ist in den selben Raum, dann lernt der Mensch die Zahl Zwei kennen. Er sieht nun zwei identische Objekte und schließt daraus: eins und eins ergibt zwei. Es ist allerdings nicht der Mensch, der diesen Entschluss fasst, es ist nur ein Teil von seinem Ganzen, nämlich sein Gehirn." Samuel deutet mit dem Zeigefinger auf seine rechte Stirnseite.

„Ja, und?", möchte Jasmin wissen.

„Welches die Fähigkeit besitzt, logische Schlüsse zu ziehen", lächelt Samuel sie an. „Deshalb gehst du davon aus, dass die Putzfrau keine Akademikerin ist, weil sie sonst nicht putzen würde. Das sagt zumindest dein logischer Verstand." Der Lehrer deutet auf den Vorderkopf seiner Schülerin. Irgendwie versteht sie seine Worte, aber irgendwie auch nicht. Sie sieht vor allem nicht, worauf er mit seinen Wörtern hinaus will. Doch wenigstens ist ihr nun klar geworden, dass er nicht das Addieren beibringen möchte. Was genau, liegt noch in der Luft. Und er hat nichts Böses mit dem Messer vor. Das beruhigt sie.

„Nun liegt es an dem Menschen, ob er diesen logischen Entschluss seines Denkapparats bewusst wahrnimmt und wegen seiner Bewusstheit über diesen logischen Entschluss eigenständig nachdenkt, oder ob er unbewusst den Folgerungen seines Verstandes folgt und diese unbewusst als Information abspeichert. Wissen ist nämlich nichts anderes als im Gehirn gespeicherte Information, aber dieses Thema verschieben wir noch." Jasmin kann dem Lehrer nicht ganz folgen. Samuels Zeigefinger streicht über seine glatte Stirn. „Der unbewusste Mensch geht seinen Weg weiter mit der gespeicherten Information: eins plus eins ergibt zwei." Samuel gewann hiermit die vollkommene Aufmerksamkeit von Jasmin. Diesen Erfolg feiert er innerlich. Bingo! Jetzt fehlt nur noch ihre aktive Mitarbeit. „Ein gelernter Mathematiker kritisiert diese klassische Addition überhaupt nicht, denn er hat sich die Information über die bedingte Gültigkeit dieser Summe bereits im Kopf gemerkt, oder anders ausgedrückt: er hat gelernt, dass eins plus eins nicht immer zwei ergeben muss. Für den ausgebildeten Mathematiker gilt diese Aussage nicht für das sogenannte Dualsystem, auch bekannt als Binärsystem."

„Okay, aber wen interessiert das?", fragt die Schülerin.

„Mich zum Beispiel", erwähnt Samuel. Oder? Er presst nachdenkend seine Augenbrauen zusammen. „Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob mich das wirklich interessiert. Aber darum geht's hier eigentlich auch nicht." Samuel holt aus seinem Rucksack einen Stift, welcher sich an einem quadratförmigen, kleinen Zettel klammert und schreibt die Ziffern Null und Eins hin. „Ein Dualsystem, ist ein Zahlensystem und besteht aus zwei Zahlen, nämlich aus der Null und der Eins. Das heißt also eins plus eins kann gar nicht zwei ergeben, weil in diesem System die Zahl Zwei nicht existiert. Hier gilt nämlich, dass eins plus eins null ergibt. Mathematiker sprechen auch von Modulo rechnen. Das lässt sich sehr einfach mit der Uhr erklären." Aus seiner Stofftasche holt Samuel eine alte, abgenützte Armbanduhr mit braunem Band heraus. Langsam meldet sich die Langeweile bei Jasmin. Vielleicht sollte ich mir doch einen neuen Nachhilfelehrer suchen. „Wenn wir den Uhrzeiger von der Zahl elf um genau drei Stunden im Uhrzeigersinn bewegen, landen wir auf der Zahl Zwei. Somit sehen wir, dass elf plus drei nicht Vierzehn, sondern Zwei ergibt. Die Definition und die Logik der Addition ist zwar die selbe, nicht allerdings die Zahlenmenge. Erst definiert der Mathematiker also eine Zahlenmenge, dann behauptet er, dass er weiß was die Summe aus zwei Zahlen aus dieser Zahlenmenge ergibt. Kommst du mit?" Der Lehrer erlaubt seiner Schülerin eine kurze Zeitspanne, um die Informationen sickern zu lassen. Unsicher lächelt sie die Früchte auf dem Tisch an.

„Naja, ich weiß nicht so recht. Eins plus eins ergibt zwei. Das ist einfach so." Samuel lässt sich von ihrer leichtgläubigen Sicht nicht bremsen.

„Ein bewusster Mensch nimmt die logische Schlussfolgerung seines Gehirns bewusst war und falls er möchte, sieht er sich das Bild mit den zwei Äpfeln genauer an. Nehmen wir an, dieser bewusste Mensch experimentiert gerne. Er holt ein scharfes Messer und halbiert einen der beiden im Raum stehenden Äpfel. Durch eigene Erfahrung besitzt er bereits die Fähigkeit, ein Messer so zu nutzen, ohne sich dabei zu verletzen." Der Lehrende lässt die halbierten Früchte auseinander fallen. „Nun sieht er ein Objekt und zwei weitere identische Objekte. Er sieht keine zwei Äpfel mehr, sondern einen Apfel und zwei halbe Äpfel." Samuel presst die halbierten Äpfel zusammen und lässt sie wieder auseinanderfallen. „Aus Eins wird Zwei. Vorher sah er aber …" die halbierten Früchte ergänzen sich wieder, „Eins und eins ergibt zwei. Nachdem er allerdings einen Apfel halbiert, der vorher ein Ganzes war und so die Zahl Eins repräsentierte, sieht er die Zahl Zwei." Nun lässt Samuel die glänzenden Früchte auf Dauer los. „Wenn ihm zusätzlich die Form der Objekte gleichgültig ist, sieht er auch die Zahl Drei. Aus Eins wurde nun Zwei, oder sogar Drei. Der bewusste Mensch sieht allerdings noch mehr. Er sieht kleine, braune Samen in der Mitte der halbierten Äpfel. Siehst du sie auch?" Jasmin nimmt die Samen der Früchte wahr und nickt. Samuel presst seine Augenbrauen zusammen. „Ein Wunder, dass diese Giftstücke überhaupt Samen produzieren."

Wandernde Wolken lassen die Sonnenstrahlen durch das Zimmer scheinen, sodass die Helligkeit das künstliche Licht überschreitet. Jasmins Gehirn konnte die letzten Überlegungen mit den Äpfeln besser aufnehmen. Fast wäre sie gedanklich beim Binärsystem ausgestiegen. Sie hat auch keine Lust auf mathematische Systeme.

„Wie auch immer. Er sieht diesen halben Apfel als Teil von einem Apfelbaum und dieser Baum entstand aus einem Samen. Theoretisch könnte er einen Samen säen und vielleicht viele weitere Äpfel ernten. Nun sieht er: Aus Eins werden Viele. Welche Behauptung ist nun wahr?" Jasmin empfängt das erwartungsvolle Gesicht des Lehrers. Unsicher zuckt sie ihre Schultern und berührt ihre juckende Nasenspitze. Mathe Aufgaben erledigen wär' mir doch lieber. „Sofern wir zwei Äpfel in einem Raum sehen und unserem logischen Verstand gehorchen, behaupten wir, dass eins und eins zwei ergibt. So definiert der Mensch nicht nur das Zählen, sondern allgemein die Addition. Und das ist der Samen, den der Mensch gesät hat und der die Mathematik erschaffen hat." Jasmin kratzt sich am Kopf. Worum geht's eigentlich?

„Klar! Ich kann alle Gegenstände hier im Raum zählen, dann komm ich auch auf eine andere Zahl", äußert sie sich. Samuel schnippst mit seiner rechten Hand.

„Bingo! Du sprichst gerade vom zählen. Aber du zählst diesmal keine Äpfel, sondern Gegenstände", lobt Samuel, „Wenn ich dich frage, wie viele Schneemänner sind hier im Raum, was würdest du dann sagen?" Er wartet auf Jasmins Reaktion. Nichts. Er deutet zu sich. „Ich bin kein Schneemann", zwinkert er.

„Das seh ich", versichert Jasmin. „Null", antwortet sie schließlich.

„Wenn wir zählen, dann brauchen wir etwas, eine Definition. Du sagtest vorhin Gegenstand. Aber was ist ein Gegenstand? Bin ich ein Gegenstand? Oder bist du vielleicht ein Gegenstand. Ist die Luft hier im Raum ein Gegenstand?“

„Nein."

„Und das ist genau der Punkt. Mathe ist nämlich nichts anderes als ein System aus Definitionen und Beweisen. Zuerst braucht die Mathematik eine Definition. Ohne Definition liefert sie keinen Beweis. Deshalb repräsentiert sie nichts anderes als die Fähigkeit der logischen Denkweise. Warum aber behaupten wir, dass eins plus eins zwei ergibt, wenn die Mathematik vom Menschen selbst definiert wurde?" Samuel fordert seine Schülerin zum Nachdenken auf. „Die Zahlen existieren nämlich nicht auf diesem Planeten, sie repräsentieren nur eine Menge." Jasmin erinnert sich an die Erklärung mit der Uhr. Wenn ich von der Uhrzeit Elf drei Stunden dazu zähle, erreiche ich nicht die Vierzehn, weil sie auf dem Uhrzeiger nicht existiert.

„Die Addition scheint also doch was kompliziertes zu sein", gibt sie schließlich zu, während ihre Schultern sich hoch heben. Samuel vergnügt sich über die Mitarbeit der jungen Frau. Der Spaß kommt auch noch … hoffentlich.

„Wissen ist nur eine Informationsspeicher im Gehirn. Der Mensch könnte auch behaupten - Ich erinnere mich, dass eins und eins zwei ergibt. Weil der Mensch zu 99 Prozent unbewusst lebt, gibt er sich der logischen Denkweise seiner Gedanken unbewusst hin und spricht deshalb nicht nur von Wissen, sondern heute sogar von Wissenschaft." Der halb offene Mund und die erstarrten Augen von Jasmin verstärkt die Motivation des Lehrers.

„Das heißt also, wir lernen alles umsonst?" Diese Frage überrascht den Lehrer und er gibt sich blinzelnd einen kurzen Moment, um eine passende Antwort zu finden.

„Eigentlich möchte die Schule ja nur Wissen vermitteln, nicht wahr?" Jasmin lässt erneut ihre zuckenden Schultern sprechen und stimmt ihm nickend zu. „Ich weiß. Was bedeutet das eigentlich? Ich weiß. Wie ist das Wissen entstanden? War es schon immer Teil des Lebens, oder ist es eine freie Erfindung? Wissen wir zum Beispiel, dass die Wiese grün ist, oder sehen wir, dass die Wiese grün ist und meinen deshalb, dass wir wissen, dass die Wiese grün ist, nachdem wir diese Farbe als grün definiert haben?" Jasmin zeigt einen Schmollmund. Okay, wir haben einen Philosophen hier. Sie erinnert sich an ihren letzten Philosophie Test, den sie mit einem Genügend zurückbekam, weil sie die Antworten zwar inhaltlich, aber nicht wortwörtlich aus dem Lehrbuch zitieren konnte.

Eine große, dichte Wolke bedeckt die Sonne und das künstliche Licht im Zimmer hilft dabei, eine minimale Helligkeit aufrecht zu erhalten. „Theoretisch könnten wir diese Farbe auch hirup nennen und dann behaupten, die Wiese sei hirup. Vielleicht fällt dir ein schönerer Begriff ein, der das Wort Grün ersetzt." Jasmin findet keinen Gefallen an dem neu erfundenen Wort, findet ihn aber lustig. „Ein Wort ist der vom Menschen gesäte Samen und dieser Samen hat sich zu einem Baum entwickelt, den wir Kommunikation nennen." Samuel lässt seine Hand zwischen der Schülerin und ihm schwingen. Dabei fällt ihm auf, dass er schon wieder einen Samen gesät hat. „Ich bin Hobbygärtner, weißt du? Ich mag diese Idee vom Samen setzen und Pflanzen pflegen und wachsen lassen. Diese Metapher nutze ich einfach zu gerne." Jasmin weiß nicht ganz, wovon er spricht. Samuels Gedanken erinnern ihn an sein heutiges Vorhaben. „Wo waren wir? Ah ja! Die Vermittlung von Wissen ohne Wörter und ohne Kommunikation ist ein schwieriger Weg, denn oft entsteht Wissen durch das Wort und folglich durch die Definition." Jetzt wird Jasmin neugierig.

„Ich kann aber auch wissen, wie man kocht. Dafür brauche ich keine Definition", äußert sich Jasmin.

„So ist es!", stimmt der Lehrer mit weit geöffneten Augen zu. „Wissen braucht nicht immer eine Definition, sie entsteht auch durch Erfahrung. Sobald wir das Gehen lernen, wissen wir zwar wie wir gehen, allerdings handelt es sich hierbei mehr um eine Fähigkeit, als das Wissen. Deshalb sagen wir nicht - Ich weiß, wie man geht, sondern üblicherweise nützen wir das Wort können. Ich kann gehen, zum Beispiel." Samuel möchte den Faden nicht verlieren. Er atmet tief ein. „Bleiben wir bei der grünen Wiese."

Jasmin fragt sich, warum er ihr das alles erzählt. „Das hat aber alles nichts mit Mathe zu tun", merkt sie an.

„Absolut richtig!", stimmt Samuel zu. „Bleiben wir trotzdem bei der grünen Wiese." Jasmin presst ihre Lippen zusammen. Wenn's unbedingt sein muss. Nur ihre Neugier verschärft ihre Aufmerksamkeit. Von der Addition sind sie zur grünen Wiese gelangt. Sie wusste, dass da mehr dahinter steckt. Und da kommt auch noch mehr. „Sie hat für viele Lebewesen eine grüne Farbe." Der Lehrer wendet seinen Sehwinkel von seiner Schülerin ab und lässt die wandernden Wolken genussvoll in seinen Augen reflektieren. Jasmin wundert sich, was er dort wohl Bemerkenswertes anhimmelt. „Jemand behauptet nun, er sehe die Wiese nicht in grün. Der wissenschaftlich orientierte Mensch ist von einer Farbenblindheit überzeugt, denn die grüne Farbe der Wiese lässt sich wissenschaftlich hinterlegen. Die als farbenblind abgestempelte Person darf sich also anhören, dass sie die Wahrheit nicht sieht. Aus ihrer Perspektive ist die Wiese nicht grün. Aber warum sind wir uns so felsenfest sicher, dass die Mehrheit die Wahrheit sieht? Kann der Farbenblinde trotzdem behaupten ‚Ich weiß, dass die Wiese grün ist‘, weil die Mehrheit dies behauptet?" Diese Frage überfordert die nachdenkende Schülerin. Ja, was soll ich jetzt sagen. Ich bin keine Wissenschaftlerin.

„Naja, wenn die Wissenschaft die grüne Farbe bestätigt …", und schon kommt ihr ein zum Nachdenken verführender Impuls, worauf Samuel sehnsüchtig wartete. „Aber irgendwie hast du ja auch Recht. Die Farbe ist nur grün, weil wir sie grün nennen. Wir könnten auch ein anderes Wort dafür erfinden." Die nächsten forschenden Gedanken beginnen sich tanzend in ihrem Kopf auszutoben. „Aber auch wenn wir keine Wörter dafür erfinden. Die Farbe selbst ist so wie sie ist und wenn ein Farbenblinder die Farbe nicht sieht, dann …"

Das Herz des Lehrers saugt die Mitarbeit seiner Schülerin wie ein Schwamm auf und hilft ihr bei ihrem Gedankenspiel: „Er selbst sieht die Farbe nicht, deshalb kann er die Aussage nicht als Wissen behaupten. Welche Farbe wir immer auch sehen, wir sehen sie durch die Linsen und das Gesamtbild gelangt in unser Inneres. Das Äußere nehmen wir stets im Inneren wahr. Wenn wir mitten in der Nacht auf einer Wiese spazieren gehen, dann sehen wir auch keine grüne Farbe."

Jasmin gibt ihm Recht. „Stimmt."

„Sofern kein künstliches Licht scheint, sehen wir weder die Wiese, noch andere Pflanzen in grün. Warum sprechen wir dann von einer grünen Wiese? Sie erscheint doch nur dann grün, wenn das Licht darauf scheint. Licht scheint jedoch nicht ewig auf die Wiese, weil die Sonne täglich untergeht. Somit ist die Behauptung, die Wiese sei grün, nur bedingt wahr. Denn spätestens zu Mitternacht ist die grüne Farbe ohne künstlichem Licht nicht zu sehen. Was der oder die Farbenblinde nicht sieht ist vielleicht gar nicht die Farbe selbst, sondern das Licht." Jasmin hört aufmerksam zu und sieht ihn fragend an. Im Moment wünscht sie sich ihn als Philosophielehrer. So stellt sie sich Philosophie vor. Keine trockene Theorien über Philosophen, die Vernunft und Moral definieren. Samuel hebelt seine Unterarme hoch. „Zumindest weiß ich nicht, was dem Farbenblinden wirklich fehlt, oder was er genau nicht sehen kann. Das spielt aber auch keine Rolle." Die Schülerin sieht ihn verdutzt an.

„Wie?"

„Naja", sagt Samuel, „du sollst nicht dem Gelaber glauben, was dir dieser Verrückte erzählt." - dabei zeigt er auf sich selbst. „Wo waren wir? Ah, ja!" Gelassen setzt Samuel seine Gedanken fort: „Wir sehen also, dass Farben nicht dauerhaft anhalten und somit die Wahrheiten sich immer wieder ändern." Jasmin überlegt. Wegen der Drehung der Erde sehen wir die Farben zu Tageslicht hell und in den Abendstunden dunkel.

„Bist du dir sicher, dass die Farben sich ändern?", merkt sie an.

„Keineswegs", entgegnet er.

„Ich glaube, dass die Farben schon so bleiben wie sie sind. Nur das Licht verändert ihre Helligkeit", äußert sich die Schülerin.

„Ich habe aufgehört zu glauben", zwinkert Samuel ihr zu. „Aber ein hilfreicher Ansatz wäre zu überlegen, wie Farben eigentlich entstehen." Jasmin will mehr hören. Wachsame Augen starren Samuel an.

„Und wie entstehen sie?", reagiert Jasmin.

„Ich kann dir nur meine eigenen Beobachtungen dazu vermitteln", informiert der Lehrer, „Stellen wir uns einen dunklen Raum vor, in dem wir nur schwarz sehen. Alles schwarz um uns herum. Kein Funken Licht. Wenn wir nachts im Bett liegen, schenkt uns das Fenster doch ein bisschen Helligkeit und wir können trotz Dunkelheit etwas sehen. Aber diesmal stellen wir uns wirklich vor, dass wir absolut gar nichts sehen. Nur schwarz. Okay?" Eine gruselige Vorstellung für Jasmin.

„Okay."

„Stellen wir uns weiter vor, wir halten ein Feuerzeug und zünden dieses an. Wir sehen plötzlich Farbe. Wenn wir nicht blind sind. Nicht nur die Farbe des Feuers, sondern vermutlich auch die unserer Hautoberfläche. So funktioniert auch die Belichtung der Sonne auf ihre Planeten." Samuels Sicht wandert zu den Fenstern im Zimmer. „An einem herbstlichen Tag sind mir die wunderschönen Farben der Bäume ins Auge gestochen. Da fragte ich mich: Warum verlieren die Blätter an den Bäumen ihre Farbe? Als Antwort fiel mir folgende plausible Erklärung ein: Weil die Erde im Herbst ihren Abstand zur Sonne vergrößert. Das heißt also, dass Pflanzen ihre grüne Farbe durch Sonnenlicht gewinnen. Und ihre Farbe bei Mangel an Licht sich verfärben. Die Beschaffenheit der Sonne ist heiß und feurig. Deshalb das Beispiel mit dem Feuerzeug." Nachdenkend presst er seine Augen zusammen. „Das genaue wissenschaftliche bla bla lernt man glaube ich im Physikunterricht." Jasmin fasst Samuels Überlegungen gedanklich auf. Macht schon Sinn. Aber steckt da nicht mehr dahinter?

„Die Wissenschaft sucht nämlich seit ihrer Existenz nach der Wahrheit, weißt du? Doch sie ignoriert gerne, dass die Wahrheiten nur bedingt gültig sind." Samuel bittet seine Gedanken um hilfreiche Bilder und Wörter. „Ist es eigentlich das Wissen, oder die Entdeckungen, das unser heutiges Leben schafft, oder ist es doch ein Gott, der unser Leben erschuf?" Fragende Sätze sind immer nützlich für den erwachsenen Erzähler. Er möchte seine Zuhörerin beim aktiven Mitdenken erleben. „Vielleicht gibt es ja überhaupt keinen Unterschied zwischen Wissen-schafft und Gott-schafft. Vielleicht gibt es keinen Unterschied zwischen - Ich weiß - und - Ich glaube." Jasmin spitzt ihre Ohren, weiß aber nicht worauf Samuel momentan abzielt. Ohje, wird das jetzt zu einer Religionsstunde?

„Ich behaupte nun, dass es regnet. Du brauchst nur einen Blick auf das Fenster werfen, um die Wahrhaftigkeit meiner Aussage zu prüfen." Jasmin folgt seinem Ratschlag und stellt die Richtigkeit seiner Behauptung bedauernd fest. Nein! Ich wollte heute noch hinausgehen! „Ein Freund von mir, der sein Leben gerade in Kuala Lumpur verbringt, behauptet nun, dass in seiner Stadt ein stürmischer Regenschauer herrscht. Wissen wir nun, ob er die Wahrheit spricht?" Jasmin lässt ihre Schultern zucken.

Reflexartig kommt ihr eine Idee und sie schlägt vor: „Wir können das Internet befragen." Samuel verdreht seine Augen.

„Das Internet ist ein richtiges Wissensmonster geworden. Deine Idee ist einfach und das gefällt mir sehr gut. Dr. Google spuckt immer die Wahrheit aus." Samuel muss kurz innehalten. Seine Gedanken werfen ihm Stolpersteine. „Fast immer." Sein Daumen und Zeigefinger lassen mit einem Griff seines Kinnes den ganzen Kopf hinuntersenken. „Können wir die Behauptung meines Freundes wirklich als Wissen annehmen? Wir selbst erleben das Wetter in Kuala Lumpur nicht. Das ist der Moment, in dem wir nicht mehr wissen, sondern nur noch glauben. Entweder wir glauben an die vermittelte Information, oder wir prüfen durch Recherchetätigkeiten nach, ob die Behauptung wahr ist. Aber auch dann erleben wir selbst nicht das Wetter in einer anderen Stadt. Deshalb wissen wir nicht, ob in einem gewissen Kontinent Niederschlag herrscht. Wir dürfen allerdings daran glauben. Wir vertrauen schlicht jenen, die diese Aussage - es regnet - behaupten." Achso, deshalb sprach er vom Glauben. Gott sei Dank, ich habe nämlich keine Lust auf Religion. Aber irgendwie spannend, was er da labert.

„Wir wissen außerdem, dass der Regen uns nicht dauerhaft bewässert, denn unser Kopf hat sich die Information über das Ende jedes Niederschlags gemerkt. Irgendwann kommt der Moment, wo keine Regentropfen mehr zu sehen und zu fühlen sind. Wenn wir unser Wissen ignorieren, dann werden wir dauerhafte Regenschauer, die uns bis zu unserem Tod begleiten, nicht ausschließen. Weil wir allerdings bis heute immer ein Ende des Niederschlags erlebt haben, gehen wir davon aus, dass es auch diesmal so sein wird." Jasmin fragt sich immer noch, warum er ihr Dinge erzählt, die nichts mit Mathematik zu tun haben. Ihre Disziplin erinnert sie an ihre Hausaufgaben. „So denken leider viele Wissenschaftler heute. Sie erlauben sich nicht, die eigene Denkfähigkeit zu entdecken." Die junge Schülerin nimmt ein Bedauern in Samuel wahr. „Lieber unterwerfen sie sich der logischen Denkfähigkeit ihres Gehirns. Wenn du also mal eine gute Wissenschaftlerin sein möchtest, dann empfehle ich dir, dich von der Unmöglichkeit zu verabschieden. Derjenige, der Möglichkeiten in jedem und überall sieht, hat bessere Chancen, Neues zu entdecken." Langsam wirkt der neue Nachhilfelehrer immer sympathischer für Jasmin.

„Hier meine erste Aufgabe für dich: Denke bitte an etwas, das deiner Meinung nach für immer der Wahrheit entspricht. Beachte dabei die bisherigen Überlegungen über Wetteraussagen, die grüne Wiese und die Addition." Ihre Augenbrauen hoch hebend zeigen Jasmins forschende Augen auf das Fenster. Sie sieht den Regen. Die Wassertropfen fallen nicht für immer, deshalb überlegt sie sich ein anderes Beispiel. Ihre Gedanken verlassen jedoch nicht den Himmel, die Wolken und den Regen.

„Die Sonne geht täglich auf und unter. Das ist immer so, weil sie täglich auf und unter geht." Samuels Augen verbreiten sein Erstaunen durch das ganze Zimmer.

„Ist das so? Oder sehen wir den Sonnenaufgang nur aus unserer Perspektive? Der Sonnenuntergang existiert nur aus der Sicht der Lebewesen auf der Erde, behaupte ich. Bewegen wir unsere Perspektive ins Weltall und zwar so, dass sich alle Himmelskörper unter unserer Sicht bewegen. Dann sehen wir die Sonne ständig strahlen und es gibt weder einen Sonnenaufgang, noch einen Sonnenuntergang. Weil die Erde sich ständig um die eigene Achse dreht, erleben wir Erdlinge täglich Licht und Dunkelheit. Akzeptieren wir nach dieser Überlegung beide Behauptungen als Wahrheit? Gibt es nun einen Sonnenuntergang, oder nicht?" Mist! Jasmin war sich so sicher, eine passende Antwort gefunden zu haben. Samuel beobachtet wie die Enttäuschung ihre Schülerin umhüllt. „Allerdings hast du mich mit deiner Überlegung schon überrascht. Bei deinem Beispiel hängt die Wahrheit nicht nur von Zeit, sondern auch von Ort ab. Versuche noch ein weiteres Beispiel für eine dauerhaft gültige Wahrheit zu finden." Die Irritation in Jasmins Gesicht ist nicht übersehbar. „Wenn du möchtest."

Jasmins Gedanken bleiben immer noch bei den Himmelskörpern und diesmal ist sie von ihrer Überlegung überzeugt: „Die Erde kreist um die Sonne." Diese Antwort hört Samuel nicht zum ersten Mal.

„Recht hast du! Zumindest lernen wir diese Tatsache bereits in der Schule. Wir sehen jedoch das absolute Gegenteil. Wir sehen nämlich die Sonne um die Erde kreisen. Früher wussten die Menschen sogar, dass die Sonne um die Erde kreist." Jasmin sieht den Lehrer verstört an. Ein Gelächter schallt durch den Raum. „Naja, sie behaupteten, dass die Sonne um die Erde kreist. Das nahmen sie als Wissen an." Jasmin erinnert sich an den Geschichtsunterricht, in der das geozentrische und heliozentrische Weltbild gelehrt wurde. „Bis ein Physiker, der nicht nur Büchern und Lehren folgte, sondern seine eigene Denkfähigkeit nutzte, auf den Entschluss kam, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt."

Samuel wirft einen hastigen Blick auf die Uhrzeit. Er war nie ein Fan von ihr. Verdammte Erfindung! Gelassen setzt er seine Rede fort, während Jasmin lerneifrig zuhört: „Und nur deshalb, weil wir eben diese Information aus der Schule gelernt haben, behaupten wir, die Sonne kreise nicht um die Erde. Warum aber sind wir uns so sicher, dass die Erde dauerhaft kreist? Könnte nicht zu jedem Moment ein Meteor die Erde zerschmettern? Dann würde die Erde nicht mehr um die Sonne kreisen." Nein! Schon wieder daneben. Diesmal war Jasmin überzeugt, eine dauerhaft gültige Wahrheit gefunden zu haben. „Ist eine Ausbreitung der Sonne und anschließende Verbrennung aller Planeten möglich? Das mag für einen Astronomen sehr unwahrscheinlich sein, doch auch im Weltall passieren unerklärliche Phänomene. Unser schlauer Kopf weiß allerdings, dass die Erde ohne zerstörerische Einflüsse um die Sonne kreist. Für eine dauerhaft gültige Aussage ist also wieder eine Bedingung notwendig. Stimmst du dieser Überlegung zu?" Jasmin lässt ihren Kopf seitlich fallen. Ihre braunen, glatten Haare schaukeln mit. Ein paar Strähnen hängt sie hinter ihr Ohrläppchen.

„Ich weiß nicht so recht." Gleichzeitig verwundert sie die absolute Zufriedenheit des Lehrers, der die Nachhilfestunde scheinbar sehr genießt.

„Das freut mich zu hören. Ich mag Menschen, die weder naiv zustimmen, noch sturköpfig ablehnen. Aber bleiben wir doch bitte bei deinem letzten Beispiel." Jasmin findet Gefallen an Samuels Kompliment. Sie lächelt ihn an. Hmmm, … „Die Bewegung der Erde um die Sonne und um sich selbst verwandelt also den Tag in die Nacht und umgekehrt, nicht wahr?" Jasmin nickt zustimmend, wartet gespannt auf die Fortsetzung seiner Erzählung. „Und genau das ist der Grund, warum keine dauerhaft gültige Wahrheit existiert. Denn alles Lebendige, wie zum Beispiel die Erde, das Wetter, die Pflanzen, Tiere und Menschen sind stets im Wandel. Jetzt gerade dreht sich die Erde, wir spüren ihre Drehung jedoch nicht. Mit der Zeit verwandelt diese Bewegung den Tag in die Nacht, die hellen Farben in dunkle, die Aktivität in Passivität. Wobei nachtaktive Tiere erst in den Abendstunden ihr Leben auf ihre eigene Art verbringen." Jasmin möchte seine Überlegungen nicht in der Luft hängen lassen. Das kann doch nicht sein, ich muss ein Beispiel finden, um diesen armen Teufel von seinen Klugscheißer Reden zu befreien.

„Es gibt männliche und weibliche Körper." Ein sanftes Lächeln ertönt aus Samuels zierlicher Brust.

„Diese Wahrheit löst sich auch in Luft auf, falls die Erde zerstört wird." Verdammt! „Aber guter Punkt", zwinkert Samuel. „Die Wahrheit ist immer nur bedingt gültig. Sie hängt ab von Ort, Zeit und äußerlichen oder innerlichen Einflüssen. Für mich besteht auch die Möglichkeit, dass die Erde von innen explodiert. Alles ist stets im Wandel. Das ist vermutlich die einzige bedingungslose und allgemeingültige Wahrheit. Alles ist im Wandel. Und nun erledigen wir die Hausübung. Das war übrigens die schönste Nachhilfestunde, die ich je hatte." Die Motivation für Rechenbeispiele hat Jasmin komplett verloren. Ihre Disziplin steht ihr jedoch immer wieder loyal zur Seite.

Normalerweise genießt Samuel die fallenden Wassertropfen während eines Spazierganges ohne Schirm. Doch an diesem Tag begleiten dichte und feine Schneeflocken die Regenschauer mit deutlich spürbarem Wind. Da er eine Erkältung vermeiden möchte, setzt er sich die Kapuze seiner Winterjacke auf. Die Krankheit ist nämlich sein größter Feind. Seine Leidenschaft besteht darin, jeden Tag so zu verbringen, als ob er der letzte wäre.

Auf seinem Weg zur U-Bahn erschweren ihm die hektischen Bewegungen der Menschen und des öffentlichen Verkehrs, seinen Spaziergang mit vollem Genuss zu erleben. Er bedauert die Lebensweise der Stadtbewohner, die auf einer abgesicherten, dafür eintönigen Art ihre Zeit verbringen. Neben der tanzenden Hektik sticht dem Beobachter auch die Flucht der Realität in Ohrstöpseln und Smartphones ins Auge. Wie wär' wohl euer Leben ohne intelligente Elektropartner?

Nach der heutigen Nachhilfeeinheit kommt es ihm auf seinem Spazierweg vor, als ob er vom Himmel in die Hölle absteige. Ein schwarzer Schirm, dessen Besitzerin mit dem starken Wind kämpft, junge und ältere Rucksackträger, die in Gedanken versunken ihren Weg gehen, eine erwachsene Dame, die ihren Parfümduft durch die Straße verteilt, ihre Stöckelschuhe flott und im Takt auf den gepflasterten, feuchten Boden klatschen lässt und eine mit Menschen gefüllte Straßenbahn stechen ihm ins Auge. Besonders die Lebendigkeit der Farben, die Samuels Pupillen in verschiedenen Wäldern durchkosten, vermisst er in der Stadt. Beschäftigt und doch leblos erlebt er das Geschehen auf der Straße an diesem düsteren Tag. Ja, wer will schon so ein Wetter, stimmt's? All dies hält den mit Hoffnung gefüllten Einzelgänger nicht von weiteren Beobachtungen ab. Schon gar nicht in der U-Bahn. Das ist seine Art die Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Langeweile zu verbringen. Während der durchschnittliche Mensch Kleinigkeiten des Alltags in den Hintergrund schiebt, befüllt Samuel sein Herz genau mit diesen für den Durchschnittsmensch uninteressanten Momenten. Viele definieren nur wenige Ereignisse in ihrem Leben als Höhepunkte. Erfolgreiche Zeugnisse, Auszeichnungen, Nominierungen, Gewinn bei Wettbewerben, Hochzeit, Geburt der eigenen Kinder und Enkelkinder … Gibt's noch mehr? Samuel betrachtet diese Sorte von Menschen als arm. Viel zu wenige Höhepunkte für ihn. Er hingegen genießt viele Momente an nur einem Tag und legt auch großen Wert darauf. Aus seiner Sicht ist jeder Tag ein lehrreicher Tag.

„Komm setz dich da hin", hört er eine dunkle Stimme auf seiner rechten Seite. Eine kräftige Hand deutet mit allen Fingern auf den von Samuel gegenüberliegenden freien Sitzplatz hin und schon wirft ein kleiner Junge sein Gesäß auf den harten Sessel. Er betrachtet den unbekannten Mann, der ihm gegenüber sitzt und ihn aus irgend einem Grund anstarrt. Ein kurzer Blick zu seinem Vater hilft dem Jungen auch nicht, sich von der Beobachtung des Unbekannten zu befreien. Samuel weicht vom Kind ab und betrachtet die weiteren Fahrgäste. Nun fühlt sich der Junge besser.

Die Alterseinschätzung während seinen Beobachtungen in der Öffentlichkeit war für Samuel immer schon eine Herausforderung. Dafür sieht er kristallklar, ob jemand deutlich weniger oder mehrere Jahre als er lebte. Der Begleiter des kleinen Jungen zeigt einen eindeutigen Altersunterschied von mindestens zehn Jahren. Die kräftige Hand wandert zu den zarten Beinen des Heranwachsenden, während die dunklen Iris unter den dichten Augenbrauen auf Samuels Hose hindeuten. „Pass bitte mit deinen Füßen auf, ja?" Der junge Lehrer begrüßt die Ignoranz des Kindes, welches die Worte seines Vaters scheinbar nicht wahrnimmt und dafür das Leben mit neugierigen Blicken durch das Fenster der rasenden U-Bahn erforscht, während seine Füße sich immer wieder zu Samuels Hose strecken.

„Die Füße, Peter! Schau, da sitzt jemand. Du machst seine Hose dreckig", wiederholt die dunkle Stimme diesmal mit einer kräftigeren Lautstärke. Obwohl Samuel sich immer wieder gern in das Leben andere Leute einmischt, zeigt er selten und auch diesmal absolut keine Reaktion, denn er erlebte schon oft, dass die Meinung andere Leute unerwünscht ist und das stellt ihn zum Teil auch zufrieden. Der Anblick des Kleinen auf Samuel mit leicht gesenktem Kopf drückt aus, wie sehr er sich nicht über die Anwesenheit seines unbekannten Sitznachbarn freut und trifft Samuels sensibles Herz. Es tut mir so leid, liebes Kind. Der Mitfühler breitet seinen Fokus wieder auf den ganzen Waggon und hört: „Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie wie spät es ist? Ich habe mein Handy vergessen." Bei diesem Satz kommen ihm gleich mehrere Ideen für seine neue Schülerin Jasmin. Er entschließt, sich seinen Mitfahrgenossen anzupassen. Dabei packt er sein Telefon aus seinem Rucksack, lässt seinen Kopf wie ein ewiger Trauernder zu Boden senken und beginnt zu tippen, mit der Hoffnung, eine weitere Lektion zu erteilen:

„Liebe Jasmin, die heutige Nachhilfestunde hat mir großen Spaß bereitet. Ich bin übrigens ein Hobbydichter und möchte dir ein Gedicht schenken:

Was bedeuten die Worte 'Ich weiß'¸?

Ist das Wissen eine Erfindung der Menschheit,

oder eine Erschaffung von Gott

wo liegt der Beweis?

Zum Lernen ist der Mensch stets bereit

Sobald sein Gehirn Informationen abspeichert

ist das sogenannte Wissen ihm zugesichert

Er erfindet Worte

und nennt es Addition

beobachtet und erfindet

das Wort Elektron

sucht weiter, findet weiter

und erfindet Biologie

beobachtet weiter, misst weiter

und nennt es Astronomie

Er sieht eine Farbe

und nennt sie grün

sieht eine Blume und sagt:

'Ich habe es gewusst, sie wird blüh'n!'

Hungrig und durstig nach mehr Wissen

sucht der Mensch nach logischen Schlüssen

Vergisst gerne auf das was bereits ist

und beobachtet den, der

das Leben mit Zahlen bemisst

So sagt der Mensch 'Ich weiß'

so sagt der Mensch 'Das ist der Beweis.'"

Jasmin bekommt ein mulmiges Gefühl bei dieser Nachricht. Creepy.

„Brauchst du eine extra Einladung, oder möchtest du heute verhungern?", hört sie plötzlich ihren Vater in ihrer Zimmertüre.

„Ich komm‘ ja schon", entgegnet sie genervt. Eigentlich hat Jasmin keine Lust mit den Gästen das Abendessen zu verspeisen. Am liebsten würde sie ihren Hunger alleine in ihrem Zimmer stillen. Warum muss ich unbedingt dabei sein? Ihr Hunger ist so stark, dass sie nicht auf das Essen verzichten möchte.

Während sie sich seufzend zum gedeckten Esstisch begibt, hofft die Jugendliche, dass sie das Getratsche der Erwachsenen irgendwie ignorieren kann. „Ja hallo, hübsche Dame! So lang' ist's her, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie geht's dir denn? Erzähl mal was von dir, sonst hör‘ ich immer die selben G'schichten deiner Mutter." Oh nein. Mit einem versuchsweise höflichen Lächeln antwortet Jasmin einer alten Freundin ihrer Mutter: „Bei mir gibt’s auch nichts Spannendes." Simones neuer Freund Helmut versucht seine Zeit mit elektronischen Zeitungsartikeln verstreichen zu lassen.

„Was erzählst du da? Gerade in deinem Alter gibt's einiges zu erzählen!", versucht Simone gebannt, die junge Frau in ein Gespräch zu locken. Okay, ich muss mir etwas Langweiliges aussuchen.

„Heute hatte ich Mathe Nachhilfe. Ist das spannend?" Jasmins Mutter sieht ihre Tochter vorwurfsvoll an. Was habe ich jetzt bitte falsch gemacht?

„Wenn der Lehrer gut ausschaut, klingt die Geschichte schon spannender." Simones leuchtende Zähne blenden Jasmins Gesicht. Boah! Das sieht auch nimmer schön aus.

„Woher weißt du denn, dass es ein Lehrer ist und keine Lehrerin?" Vielleicht sollte ich die beiden miteinander verkuppeln. Der neue Freund wird sowieso bald der hundertste Ex-Freund.

„Deine Mutter hat mir schon etwas davon erzählt." Jasmins Eltern servieren die Teller mit Rindergulasch.

„Mein Typ ist er nicht." Aber ihr werdet bestimmt gut miteinander klar kommen. Er ist mindestens so verrückt wie du.

„Oh, da schau her Helmut. Heute gibt es wieder Fleisch!" Jasmin hört diesen Satz zu gerne. Juhu! Sie hat ein neues Gesprächsthema! Helmuts Blick klebt auf der elektronischen Zeitung.

„Ich rieche es!", versichert er.

„Bist du denn Vegetarier?", fragt ihn Jasmins Vater.

„Nein, nein", antwortet der Fokussierte.

„Wir hatten heute eine Diskussion über die Notwendigkeit von Fleisch. Er meint nämlich, dass wir zu viel Fleisch essen", erklärt Simone.

„Das steht zumindest in der Zeitung so. Laut einer Studie reduziert ein übermäßiger Fleischkonsum die Lebenserwartung", erklärt Helmut.

„Lies nicht so viele Zeitungsberichte! In Büchern von ausgebildeten Akademikern wirst du die wirkliche Wahrheit finden", schlägt die Redegewandte seinem neuen Freund vor. Beim Stichwort Wahrheit muss Jasmin an die heutige Nachhilfe denken. Die ganze Rede von Samuel ergibt plötzlich einen Sinn. Doch wie geht man vor, wenn sich zwei Menschen einer Behauptung nicht einig sind? Die Nachdenkende erinnert sich an den Vergleich mit dem Farbenblinden und versucht eine Antwort auf ihre Frage zu finden. Wie viel Wahrheit steckt tatsächlich in Büchern, Dokumentarfilmen oder Berichten? Diese Frage hebt sich Jasmin für die nächste Nachhilfestunde auf.

Sein Gedicht fällt ihr wieder ein. Ihre Gedanken beunruhigen ihren Atem. Samuels Gedicht hat die junge Frau zum einen sehr verunsichert. Zum anderen zeigt sein verrücktes Verhalten keine Spur von einem aufdringlichen Mann, der das Herz einer jungen Frau manipulieren möchte. Was will er von mir? Geschichten von perversen Männern, die es um jeden Preis auf junge Frauen abgesehen haben, hat Jasmin schon oft gehört. Ihre Mutter war bei jeder Nachhilfeeinheit zu Hause. Deshalb konnte er mir nichts antun. Eine weitere Stimme versucht ihre vorwurfsvollen Gedanken zu bremsen. Geh' nicht immer gleich vom Schlimmsten aus. Sicherheitshalber sucht sie für die nächste Einheit einen Tag aus, an dem ihre Mutter wieder zu Hause ist.

Kapitel 2

„Das ist doch ganz einfach. Erinner' dich an den Regen in Kuala Lumpur. Du sagtest, dass wir das Internet befragen können. Ja, klar. Aber trotzdem erleben wir den Regen im anderen Kontinent nicht selber und können deshalb nicht von Wissen sprechen. Also, zu deiner Frage: Wissen wir nun über die menschliche Verdauung Bescheid, nachdem wir eine Lektüre darüber gelesen haben?" Jasmins braune Augen durchwandern das Fenster, welches für ausreichend Licht auf ihrem Arbeitsplatz sorgt. Ja, ist mir schon klar, aber … Ihre Gedanken wollen Samuels Meinung nicht teilen. Sie denkt an Schulbücher.

„Ich mein …" Sie deutet auf das Mathematikbuch, welches auf dem Tisch schlummert, „das sind doch ausgebildete Leute, die diese Bücher geschrieben haben. Das kann doch nicht alles falsch sein." Wieder freut sich Samuel über die kritische Denkweise. Naive Zuhörer sind ihm einfach zu langweilig.

„Darum geht's auch nicht. Es geht nicht um richtig oder falsch. Wir sprechen von Wissen und Glauben. Wenn ich etwas weiß …" Jasmin beobachtet ihn, wie er mit seinen Händen auf sich deutet. Sein väterliches Lächeln erlebt sie bei ihm zum ersten Mal. „… dann hab' ich es selber schon mal erlebt. Ich weiß, dass du eine sehr gute Schülerin bist, zum Beispiel. Ich habe deine Neugier und deinen kritischen Geist persönlich erlebt und erlebe sie zum Glück immer noch. Jetz' kann ich zu einem Freund gehen und behaupten, dass du eine sehr gute Schülerin bist. Er wird es mir glauben, oder auch nicht." Jetzt kommt er schon wieder mit so blöden Beispielen. „Kommen wir nun zum Buch. Was für Bücher auch immer. Wenn der Autor eine entsprechende Ausbildung hat, können wir seinen Worten nur folgen, wenn wir seine Behauptungen aus eigenen Erfahrungen kennen. Andernfalls lassen wir uns naiv überzeugen, werden vielleicht sogar zu Fanatikern und führen dadurch eine dauerhafte Diskussion mit anderen naiven Personen, die andere Behauptungen über die menschliche Verdauung gelesen haben. Menschen diskutieren oft über Ernährung, das wirst du noch erleben. Vor allem, wenn du dich vegetarisch ernährst. Oder gar vegan. Dann wird's noch lustiger" Ja, aber was ist mit den Wissenschaftlern? Jasmins Finger streifen durch ihre kastanienbraunen Haare, um dem plötzlich auftretenden Juckreiz ihrer Kopfhaut entgegenzuwirken. Sie erinnert sich an Samuels Erklärung über Wissen und Wissenschaft.

„Wissenschaftler wissen also gar nichts?" Sie bringt Samuel zum Lachen.

„Das ist eine sehr schöne Formulierung. Aber ja, so sehe ich es zumindest. Die Meisten lesen aus Lehrbüchern Unmengen an Informationen, ohne sie kritisch zu betrachten. Zumindest passiert das in den Universitäten." Er blickt in ihre neugierigen, runden Augen. „Deshalb macht es Spaß mit dir zu plaudern." Skeptische Gedanken verfolgen die junge Schülerin seit dem Gedicht. Nun rücken sie wieder in den Vordergrund. Sie bemüht sich jedoch, cool zu bleiben. Vielleicht mache ich mir ein falsches Bild von ihm. Samuel präsentiert vielmehr eine Verrücktheit, als ein aufdringliches Verhalten. „Ich zum Beispiel habe nur eine mathematische Ausbildung. Drum würd' ich meinen eigenen Wörtern nicht glauben. Glauben tu ich sowieso lange nicht mehr. Damit hab' ich aufgehört."

„Aber du nutzt deine eigene Denkfähigkeit", erinnert sich Jasmin. Samuel zeigt sich zufrieden.

„So ist es!", bestätigt er mit einem sanften Lächeln in seinem jung gebliebenen Gesicht.

„Bin ich eine naive Zuhörerin?", fragt Jasmin. Samuel feiert Jasmins selbstkritische Frage.

---ENDE DER LESEPROBE---