Soulful Scars - Lisa Gibbs - E-Book

Soulful Scars E-Book

Lisa Gibbs

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Beschreibung

Theo Naville, genannt Navy, war leidenschaftlicher Marine, bis sein Hilfskonvoi bei einem Einsatz in Syrien unter Beschuss genommen wurde. In feindlicher Gefangenschaft wurde er gefoltert und kehrte ohne rechten Arm zurück. Gezeichnet und im Kampf mit seinen inneren Dämonen, bekommt er ein alles veränderndes Angebot: Er wird Mitglied des BLACK CORPS, einer verdeckt operierenden Einheit für Rettungseinsätze, ausgestattet mit individuell angefertigten Nano-Prothesen. Im ersten brandgefährlichen Auftrag geraten die vier außergewöhnlichen Kämpfer Navy, Copper, Teal und Violet an den Abgrund des Todes. Die Journalistin Hayden Seller soll samt ihrem Team aus den Fängen einer Miliz in Afghanistan befreit werden. Inmitten der tödlichen Gefahr im Fokus eines gnadenlosen Feindes entflammt zwischen Hayden und Navy eine tiefe Verbindung, die nicht sein darf, und trotzdem beide in einen erotischen Sog zieht. Ein sinnliches Kaleidoskop von Emotionen entführt sie in eine fremde Vertrautheit, inmitten von Schmerz und Lust. Doch im erbitterten Gefecht um Leben und Tod droht für Hayden und Navy der Hoffnungsschimmer auf die einzig wahre Liebe zu zerbrechen. Sie fordern das Schicksal heraus und kämpfen. Denn erst wenn dir alles genommen wurde, bist du bereit, alles zu geben.

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Soulful Scars

Black Corps 1

Lisa Gibbs

Copyright © 2018 Sieben Verlag, 64823 Groß-UmstadtUmschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864438189

ISBN eBook-mobi: 9783864438196

ISBN eBook-epub: 9783864438202

www.sieben-verlag.de

Inhalt

NAVY

COPPER

VIOLET

TEAL

NAVY

COPPER

VIOLET

NAVY

TEAL

VIOLET

COPPER

NAVY

Über den Autor

NAVY

Es war ein seltsames Gefühl, in dem Haus zu stehen, in dem er aufgewachsen war, und sich trotzdem fremd zu fühlen. Als wären die Fotos, die Einrichtung, all das Erinnerungen eines anderen Menschen und nicht Navys eigene.

„Komm nach unten. Er ist da“, hörte er Mary, seine Mutter aufgeregt flüstern.

„Jack“, wiederholte sie in einem flehenden Tonfall.

Navy war heimgekommen, weil sie ihn darum gebeten hatte. Nicht aus einem eigenen Impuls heraus. Und jetzt stand er hier im Obergeschoss und bereute es. Einerseits hätte er sofort abhauen können, andererseits war er wie gebannt. Als wäre jetzt der unvermeidliche Augenblick gekommen, sich mit seinem früheren Wesen auseinandersetzen zu müssen.

Er stand in seinem alten Zimmer. Seine Eltern hatten es so gelassen, obwohl er seit fast einem Jahrzehnt ausgezogen war.

Pokale von gewonnenen Sportwettbewerben standen auf dem Regal. Abgestaubt, als würde seine Mutter jeden Tag in Navys altem Zimmer stehen und putzen. Als könne man mit genug Putzerei die Realität verwischen.

Navy starrte die Fotos an, die an der Wand hingen.

Auf einem stand er mit seinem ganzen Footballteam auf dem Platz, er hatte die Arme in Siegerpose gen Himmel gehoben und grinste breit.

Kurz versuchte er, sich an diesen Moment zu erinnern, doch sobald er in Gedanken versank, flackerte ein Fragment auf.

Ein Lichtreflex, der sich in Sekundenbruchteilen in seinen Verstand bohrte. Stechend grell blitzte die Klinge auf, als der vermummte Mann mit der Machete auf Navy zugekommen war. Navy glaubte, die Fingerkuppen wieder zu spüren, die sich in sein Fleisch gekrallt hatten und ihn auf die sandige Erde pressten, damit er still hielt. Sein eigenes leises Flehen drang zurück in seinen Kopf. Es machte die Erinnerung grausam real.

Zum ersten Mal in seinem Leben war er jemandem ausgeliefert gewesen. Damals war ihm schlagartig bewusst geworden, dass die Option, zu sterben, die bessere gewesen wäre.

Als die Klinge auf seinem Arm ansetzte, erstarb in Navy jede Hoffnung auf Rettung. Und als sie mit ihm fertig waren, war es mehr als der Schock, der ihn wie festgefroren in der Blutlache liegen ließ.

Es war, als wäre er unter einer Eisdecke gefangen, in vollem Bewusstsein, dass er nie wieder an die rettende Oberfläche gelangen konnte.

Der Mann, den er hier auf den Fotos sah, war damals gestorben.

Navy drehte sich um und verließ das Zimmer.

Schritt für Schritt ging er den Flur entlang, bis er vor der Tür des Elternschlafzimmers stehenblieb.

Das fremde, unangenehme Gefühl wurde stärker, je näher er dem Raum kam, in dem sein Vater Jack war.

Mary gab sich Mühe, zu flüstern, doch Navy hatte sich an Stille gewöhnt. Mittlerweile erschienen ihm die leisen Töne umso klarer.

„Bitte, Jack. Er war so lange nicht hier. Wir verlieren ihn, wenn du nicht kommst“, flehte Mary.

Navy erinnerte sich daran, dass Jack einmal mit Mary zu Besuch im Krankenhaus gewesen war, nachdem Navy aus Syrien ausgeflogen worden war.

Marys und Jacks perfekte Seifenblasenwelt war abrupt geplatzt, als sie ihren Sohn besucht hatten.

Sogar Mary hatte der Situation hilflos ergeben vor Navys Bett gestanden, und gehadert, ihn in die Arme zu nehmen. Weil Navy diese Geste nicht mehr so wie gewohnt erwidern konnte, weil sein rechter Arm fehlte. So war die Katastrophe spürbar.

„Er hat sie noch“, hörte er seinen Vater Jack murmeln.

„Was?“, flüsterte Mary verzweifelt.

„Er hat die Marke noch, aber er ist kein Marine mehr“, sagte Jack verbissen. Wie ein Terrier, der sich lieber beißen ließ, als den Knochen loszulassen.

Navy spürte, wie sich sein Kiefer anspannte.

Sein Großvater war bei der Army und Jack bei den Marines gewesen.

Diesen Dienst zu leisten war für Jack mehr als ein Job. Es war seine Passion, sein Erbe. Soldat gewesen zu sein, erfüllte ihn mit Stolz. Darüber definierte er Ehre und Standhaftigkeit.

Die Erkennungsmarken und Abzeichen wurden wie Diamanten gehütet. Jack hatte sie auf einem Regalbrett in seinem Arbeitszimmer ausgestellt.

Navy war aufgewachsen mit den Parolen, darauf gedrillt, ebenso zur Army zu gehen. Und genau das hatte er getan.

Er hatte trainiert und gelernt, doch seine Motivation – Anteil an einem Prozess zu haben, der die Welt zum Besseren verändern konnte – war von seinem Vater belächelt worden.

Navy hatte nie vorgehabt, seine Marke oder seine Abzeichen zu hüten, geschweige denn sie zu präsentieren. Für ihn ging es um etwas anderes.

Ja, die Erkennungsmarke war wichtig, weil derjenige, der sie fand, das in den Händen hielt, was der Soldat bis zu seinem Tod am Leib getragen hatte. Das letzte Zeichen dafür, dass es diesen Menschen gegeben hatte, um den Hinterbliebenen die Gewissheit zu geben, dass es sich bei dem Soldaten um ihren Bruder, ihren Sohn, ihren Mann oder ihre Frau handelte, egal, in welchem Zustand der Soldat gefunden wurde. Es war ein Zeichen für jemanden.

Aber solange er Marine gewesen war, hatten für Navy andere Dinge viel mehr gezählt.

Das Adrenalin, das rasende Herzklopfen, die Angst – alles hatte ihm das Gefühl gegeben, wirklich am Leben zu sein und die Welt zum Guten zu verändern. Wenn so etwas mit Waffen überhaupt möglich war. Sein Verstand, sein Körper und seine Kraft waren im Feld sein Kapital gewesen. Er hatte trainiert, sich topfit gehalten und an etwas geglaubt. Daran, dass Krieg keine Zukunft hatte, wenn es genug Soldaten gab, die Ehre kannten und Ehrfurcht vor dem Leben besaßen.

Somalia, Teheran, Syrien – von grenzenloser Zerstörung gebeutelte Länder, deren Bewohner eine Chance auf ein friedliches Leben verdient hatten.

Es ging um aktive Hilfe und nicht um das Fortsetzen der Kriegsmaschinerie.

Töten war leicht, wenn man eine Waffe hatte.

Ein Schuss – eine namenlose Leiche. Ein Feind weniger. So propagierten es Soldaten, die in den Krieg gingen und sich einen darauf runterholten, eine Knarre zu tragen. Vorher waren sie mit Feindbildern geimpft worden. Dort, wo ihr hingeht, werden Frauen und Kindern Bomben um den Körper gebunden, damit sie zu den gottlosen GIs laufen und sich mit euch in die Luft jagen.

So wurde jeder Zivilist zu einem Risiko, das man schnell und sauber beseitigen konnte, bevor überhaupt etwas passierte.

Viele Kameraden härteten ab, nutzten es, dass sie ihre Verantwortung hinter einer Uniform verstecken konnten und sahen in den Gegnern nicht mehr als Kollateralschäden eines unvermeidlichen Kampfes.

Ja, im Krieg konnte jeder deinen Arsch wegpusten, man musste vorsichtig sein, um zu überleben. Aber man hatte verdammt noch mal auch einen Eid auf Leben geleistet. Navy hatte sich angewöhnt, seinem Gegner in die Augen zu sehen, wenn es ihm möglich war. Um sich bewusst zu machen, dass es hier um Leben ging. Um seines, um das seiner Kameraden und um das der Menschen, die ihnen gegenüberstanden.

Wie gesagt, Töten war leicht – Überleben war schwer, vor allem für die Menschen, denen kein Ausweg offenstand.

Damals … die Erinnerung an den Mann, der er einmal gewesen war, kam ihm vor wie ein Film, den er vor sehr langer Zeit gesehen hatte. Es waren verwackelte, zusammenhangslose Szenen, die ihn verfolgten.

Alles endete abrupt bei dem Einsatz, für den er sich einem UN-Hilfskonvoi in Aleppo angeschlossen hatte.

„Man kämpft als Marine, man stirbt als Marine“, sagte Jack verbittert.

Navy rieb über seine Augen, weil er wieder das Aufblitzen der Klinge zu erahnen glaubte.

„Jack, dein Sohn lebt. Er ist da.“ Mary versuchte an ihren Mann heranzukommen, aber Jack war kein gefühlvoller Mensch. Niemand, von dem man Einfühlungsvermögen erwarten konnte.

Für Navys Vater kam die Tatsache, dass sein Sohn als Invalide aus dem Krieg zurückgekommen war, einem Versagen gleich.

So etwas gab es in dieser Familie nicht – es gab keine Krüppel.

Leichter wäre es für Jack gewesen, wenn Navy in einem Sarg zurückgebracht worden wäre. Dann hätte er stolz abschließen können. Stattdessen war Navy stumm und ohne seinen rechten Arm zurückgekehrt. Gefoltert und gebrochen.

Navy drehte sich um und ging die Treppe hinunter.

Dass Jack ihn nicht sehen wollte, war tröstlich.

Es war wie der letzte unabdingbare Schnitt, der ihn von dieser Familie löste.

Nicht mehr mit Jack Naville verglichen zu werden, nicht der beste, schnellste, stärkste Marine der Truppe sein zu müssen. Keine Erwartungen mehr zu erfüllen, weil es schlicht unmöglich geworden war, diesen gerecht zu werden – das war in dem ganzen Scheiß ziemlich hilfreich.

Navy öffnete die Haustür mit der linken Hand, was immer noch ungewohnt war und sich falsch anfühlte.

Als hätte er nur einen Gips oder eine Armbinde und wenn er nach unten sah, würde da sein Arm sein.

Doch Navy sah nicht mehr nach unten, weil da kein rechter Arm mehr war, sondern ein hässlicher Stumpf. Weil sie ihm den Arm bei vollem Bewusstsein abgetrennt hatten.

Scharf wie eine Viper schoss das Ziehen in seinen Körper.

Die Erinnerung an den Schmerz, der ihn fast ohnmächtig hatte werden lassen.

Navy atmete tief durch.

Auch wenn ihm sein Körper manchmal vorgaukelte, dass der Arm noch da war und er ihn zu spüren glaubte. Auch wenn sich der Stumpf in die Richtung bewegte, es war nur ein alter Reflex, ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit. Die Nerven hatte er zum letzten Mal gespürt, als sie durchtrennt worden waren.

Ein Rudiment, nicht mehr.

Er hörte, dass Mary die Treppe hinunter eilte, deshalb hielt er inne.

„Geh noch nicht“, sagte sie sanft.

Er drehte sich zu ihr um und sah sie an.

Ihre blauen Augen schauten gütig und verzweifelt zugleich.

Er ging ihr entgegen und nahm sie in den Arm.

Mary liebte ihn, daran hatte er keine Zweifel. Trotzdem hatte er den Eindruck, sie von sich befreien zu müssen. Die Situation überforderte das geregelte Leben seiner Eltern und er brauchte seine Energie für sich selbst, weil ihn dieser wahrgewordene Albtraum sonst hemmungslos überrollen würde.

Er drückte sie an sich und spürte, dass sie weinte.

Innerlich ließ er sie frei.

Er wollte sie nicht belasten und schon gar nicht unglücklich im Arm halten.

Entschlossen ließ er los, drehte sich um und verließ das Haus.

Kurz vor zehn. Es regnete leicht, die Tropfen fielen auf den brüchigen Straßenbelag. Der Regen gab dem Abend einen angenehmen Geruch. Als würde man den Tag mit allen Eindrücken von den Straßen waschen und darunter war etwas Neues.

Navy mochte Regen. Konnte an dem Geruch liegen oder an der Tatsache, dass sich bei so einem Wetter die meisten Menschen verzogen und es still wurde.

Mit der linken Hand schlug er den Kragen seiner Jeansjacke hoch. Der rechte Ärmel hing schlaff herunter.

Navy ging die Straße entlang und warf einen kurzen Blick zurück auf den schwarzen Jeep, der ihm seit zwei Blocks folgte.

Seit er außer Dienst war, kämpfte er mit Albträumen und Wahnvorstellungen. Posttraumatische Belastungsstörung war die Bezeichnung, die der Psychologe in Navys Akte geschrieben hatte. Wie auch immer man es nannte, den Wagen bildete er sich nicht ein. Der war da. Und der Fahrer gab sich keine Mühe, seine Verfolgung geheim zu halten. Er hielt den Abstand kontinuierlich ein und fuhr seelenruhig hinter Navy her.

Wut schlich in Navy hoch. Der Wagen beunruhigte ihn nicht. Er fühlte sich schlicht provoziert.

Als Navy in der Seitenstraße vor dem Eingang des Clubs angekommen war, drehte er sich zu dem Wagen um. Die Scheiben waren getönt, aber die verfluchte Karre hielt keine zehn Meter entfernt an. Die Scheinwerfer blendeten Navy ein paar Sekunden, dann machte der Fahrer den Wagen aus, nur das Standlicht blieb an.

Niemand stieg aus.

Ruppig öffnete Navy die Tür des Stripclubs und ging hinein.

Freddy, der Besitzer des schäbigen Schuppens, stand mit zwei der Tänzerinnen vor dem Tresen. Als er Navy sah, rief er durch den ganzen Club: „Da bist du ja, Arschloch. Ich dachte, bei den GIs bringt man euch Pünktlichkeit bei.“ Wütend kam Freddy auf ihn zugestapft.

Navy blieb stehen, wartete und beobachtete stoisch, wie Freddys Wampe bei jedem Schritt auf- und abwippte. Je näher er kam, desto zögerlicher wurde sein Gesichtsausdruck. Als er direkt vor Navy stehenblieb, musste er nach oben sehen, weil Navy einen Kopf größer war.

„Du hast hier keinen Sonderposten, Wichser.“ Mit seinem Zeigefinger fuchtelte er vor Navys Nase herum.

„Ich bezahl dich dafür, dass du die Tür bewachst. Du bist nicht mehr als ein beschissener Wachhund. Aber für die Kohle hast du hier zu sein, wann ich es will.“

Freddys Stimme verhallte in seinen Ohren.

Navy ließ den Blick durch den Club schweifen. Niemand war ihm bislang durch die Tür gefolgt. Eine kleine Brünette in Bustier und Tanga lächelte ihn an. Er fixierte ihren Blick, bis sie sich keck grinsend umdrehte und hinter der Bühne verschwand.

„Haben wir uns verstanden?“ Freddy starrte ihn mit hochrotem Kopf an.

Navy stellte sich einen Augenblick lang vor, wie es sich anfühlen würde, Freddy einen linken Haken zu verpassen.

Er sah Freddy in die Augen, worauf der einen Schritt zurückwich.

Dann drehte sich Navy um und ging nach draußen.

Der Jeep stand immer noch da.

Navy lehnte sich neben der Tür an die Wand und starrte auf die abgedunkelte Windschutzscheibe.

Mit einem kurzen Quietschen öffnete sich die Tür des Clubs und der Bass der schleppenden Soulmusik wurde lauter. Eine Stripperin schlüpfte durch die Tür. Er roch es an dem auffälligen Jasmin-Parfum, sein Blick blieb auf dem Wagen haften.

„Ich bin Candy“, säuselte sie leise. „Na ja, eigentlich heiße ich Amber, aber Candy ist sowas wie mein Künstlername.“

Er warf ihr einen Blick zu. Die kleine Brünette von eben. Sie hatte sich einen Mantel umgelegt, der weit aufklaffte und ihr knappes Outfit kaum verhüllte.

Sie biss sich auf die Unterlippe und wippte nervös auf ihren High-Heels.

Navy konzentrierte sich wieder auf den Wagen.

„Wir sind uns hier schon öfter begegnet“, fuhr sie fort.

Er sah ihr in die blaugrauen Augen, nicht auf die nackte Haut.

„Ich finde Soldaten sexy, weißt du?“

Navy wandte sich wieder dem Wagen zu.

„Vielleicht lädst du mich ja später auf einen Drink ein?“

Sie wartete einen Augenblick, dann strich sie selbstbewusst über die Knöpfe seiner Jacke.

Gejohle wurde laut.

Vier Männer kamen von der Hauptstraße auf den Eingang zugeschlendert.

Einer rempelte gegen eine Hauswand, lehnte sich dagegen und sackte zusammen. Laut lachend zogen ihn seine Kumpels wieder auf die Beine und zerrten ihn mit zum Eingang.

„Hey“, lallte einer der Kerle. „Wie viele Mädchen gibt‘s in dem Schuppen? Sind sie so heiß wie die da?“

Mit dem Finger deutete er auf Amber, die ihn anlächelte.

Navy starrte den Kerl an.

„Bist du taub, oder was?“, lallte er weiter, während er seinen Fokus wieder auf Navy verlagerte.

Navy machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen oder die Typen in den Club zu lassen.

„Der ist nicht taub, dem fehlt ein Arm“, sagte ein anderer, während er sich vor Lachen krümmte.

Navy kannte verdammt viel menschlichen Abschaum und er lebte seit über einem Jahr ohne seinen rechten Unterarm.

Beherrsch dich.

„Du hast recht“, lallte der Kerl. „Die haben einen einarmigen Türsteher.“

Navy verfolgte stoisch jede Bewegung, speicherte ab, dass der Kerl Rechtshänder war und wie genau die anderen um ihn herumstanden.

„Lass uns rein“, sagte der Typ.

Navy sah ihm in die Augen und schüttelte den Kopf.

Verpisst euch.

„Willst du mich verarschen?“ Plötzlich fand der Kerl das nicht mehr lustig.

„Lass uns da rein“, er deutete auf die Tür, dann kam sein Zeigefinger Navys Brustkorb näher.

Navy schüttelte den Kopf. Er spürte, wie sich die Muskeln in seinem Körper anspannten. Das Adrenalin, das wie Elixier durch ihn strömte und die gespeicherten Programme abrief.

Er wusste, dass der Kerl vor ihm mit rechts ausholen würde. Er legte mehr Körpergewicht auf seinen rechten Fuß.

Fahr runter, der Kerl ist ein Arschloch, mehr nicht.

Fieberhaft versuchte Navy, sein Inneres vor der bestialisch aufkeimenden Wut zu schützen.

Doch das war das Problem. Wenn man sich kaum mehr spürte, war schon der Keim eines heftigen Gefühls wie Zorn, wie eine verflucht packende Droge. Es war wie ein Rausch und wenn er dem erlag, dann setzte das Hirn aus.

„Er war Soldat“, sagte Amber, als würde sie ihm damit einen Gefallen tun.

Sie stemmte die Hände in die Hüften und schob so den Mantel auseinander.

Der lallende Kerl pfiff durch die Zähne und musterte Ambers Körper.

Zuerst war es nur ein leises Rascheln. Das schabende Geräusch wurde in Navys Gedanken lauter und präsenter, bis er sich in dieser Erinnerung verlor.

Ein Körper, der vor ihm gefesselt und geknebelt aufgehängt war. Füße, die verzweifelt auf dem Sand Halt suchten. Hektische, abgehackte, angsterfüllte Atemzüge unter einem erbarmungslos festgezurrten Knebel.

„Süße, mein Wagen steht da hinten, lass uns eine Nummer schieben. Komm schon.“

Die Stimme des Kerls klang wie aus einer fernen Welt.

„Ich denke, ihr solltet erst ein bisschen runterkommen“, versuchte Amber, die Situation zu entschärfen.

„Komm Sweety, ich kann dich bezahlen, so läuft das doch bei euch.“

Mit einem Arm machte der besoffene Kerl Anstalten, Amber an der Schulter zu packen.

Navy pflückte das Handgelenk des Typen aus der Luft und schloss die Finger fest wie ein Schraubstock darum, bevor er Amber berührte.

Kurz war der Arsch irritiert.

Amber schlüpfte hinter Navy durch die Tür.

„Wichser“, flüsterte der Kerl vor ihm, während er mit dem anderen Arm ausholte.

Krachend donnerte die Stirn des Arschlochs an Navys Kopf. Sekundenbruchteile nach der Kopfnuss riss Navy den Nacken des Typen zur Seite, sodass dessen Körper wie ein nasser Sack ausgeknockt auf den Boden krachte.

Navys Körper war angespannt, jeder Muskel bereit. In diesem Moment fühlte er sich ruhig und gelassen, als wäre ein Ventil geöffnet worden. Und damit hatte er seinen normalen Zustand erreicht.

Kurz ließ er den Typen Zeit, zu verschwinden, aber sie machten genau das Gegenteil. Der Eine ließ seinen besoffenen Kumpel los. Dann stürmten beide auf Navy zu.

Navy duckte sich unter einem Schwinger weg und trat einem der Typen gezielt seitlich gegen das rechte Kniegelenk. Im Boxtraining hatte er die Linke immer zur Abwehr eingesetzt, er war Rechtshänder gewesen und so hatte er die Rechte als Angriffsfaust genutzt. Jetzt setzte er den Schwung seines Oberkörpers ein und nutzte die Kraft seiner Beine. Der Verlust hatte ihn skurrilerweise schneller gemacht.

Und wütender.

Bei jeder Bewegung war ihm bewusst, dass ihm ein Teil genommen worden war. Als wäre er nicht mehr vollständig.

Polternd donnerte der letzte Typ zu Boden, nachdem er sich einen linken Haken eingefangen hatte.

Jetzt lagen die Kerle sich krümmend und stöhnend auf dem Asphalt.

Navy atmete stoisch weiter und lockerte seinen Körper.

Sein Blick fiel auf den parkenden Wagen, der immer noch mit Standlicht dastand, als wäre das hier ein verdammtes Autokino.

Navy schlug den Kragen seiner Jacke hoch und ging an den auf dem Boden liegenden Typen vorbei auf den Jeep zu.

Den Job bei Freddy konnte er vergessen, nach der Aktion. Sonderlich daran gehangen hatte er sowieso nicht. Er hatte kaum Auswahl gehabt.

Vor dem Wagen blieb er stehen.

Er hatte keine Ahnung, ob er erwartete, dass jemand ausstieg, oder ob er gehofft hatte, durch die Scheibe mehr zu erkennen. Jetzt blickte er auf das alles verschluckende, glänzende Schwarz der Front und wartete ein paar Sekunden.

Seltsam. Es gab niemanden, der eine Rechnung mit ihm offen hatte. Zumindest keinen, der ihm in einem abgedunkelten Jeep folgen würde.

Vielleicht ein Zufall, sein Bauchgefühl konnte falsch sein.

Die Flashbacks hatte er schließlich auch nicht im Griff.

Ein paar Mal hatte er die Erinnerung zugelassen, weil er hoffte, mit der Auseinandersetzung einen Weg aus dem Chaos zu finden. Aber so war es nicht. Es war eher so, als wäre er in einem Labyrinth und hinter jeder Tür wartete nur das Spiegelbild des letzten Ganges. Verzerrt und brutal stürmten die Bilder weiter auf ihn ein. Unkontrollierbar und verstörend.

Prüfend warf er einen intensiven Blick auf die Scheibe, dann wandte er sich ab und ging.

Er ging die Straße entlang und bewegte die Fingerknöchel seiner linken Hand. Sie bluteten. Den einen Kerl musste er an den Zähnen getroffen haben. Sein klarer Verstand hatte ausgesetzt und die Rage hatte die Kontrolle übernommen. Langsam nahm das Adrenalin ab, der Rausch wich einer grausamen Realität, die unerträglich war.

Früher war er einer der koordiniertesten Nahkämpfer gewesen. Jeder Schlag kontrolliert. Egal, ob aus dem Karate oder einer anderen Kampfkunst. Er hatte es geliebt, die Körperbeherrschung, auch die Philosophie des Respekts seinem Gegner gegenüber.

Navy schüttelte den Gedanken ab, wie ein lästiges Insekt.

Der Wagen folgte ihm nicht, deshalb ging er schnurstracks zu seinem Ein–Zimmer-Appartement in der dreiundzwanzigsten Straße. Das Schloss quietschte, der Wasserhahn der kleinen Küche tropfte und der Lautstärkepegel der Straße vor dem Haus klang wie ein dumpfes Surren, als vibrierten die Wände.

Er setzte sich vor das Fenster, in dem die Leuchtreklame des Ladens im Erdgeschoss blinkte.

Wie jeden Abend zog Navy einen Schreibblock auf seine Knie.

Es war wie ein Zwang geworden, weniger Übung, als Sucht.

Er nahm den Kugelschreiber in die linke Hand und setzte die Mine auf den Block. Wenn er die aufgerissenen Fingerknöchel anspannte, konnte er seine gelb hervortretenden hellen Sehnen unter dem frischen Blut erkennen.

Der Punkt auf dem Papier begann, zu zittern, weil Navy mit voller Kraft aufdrückte.

Es war in seinem letzten Einsatz geschehen, als eine Miliz den Hilfskonvoi, dem er angehört hatte, angegriffen hatte. Feindliche Kämpfer hatten den Hauptteil des Kommandos getötet und drei Geiseln mitgenommen.

Er war mit Messern gefoltert und gefangen gehalten worden.

Bevor sie ihm den rechten Unterarm abgehackt hatten.

Navy wurde speiübel.

Er presste den Kuli so stark aufs Papier, dass der Block sich nach unten wölbte.

Seither hatte er kein Wort mehr gesprochen.

Weil er sich nicht an seine Schreie erinnern wollte und weil es keinen Grund mehr gab, mit jemandem zu sprechen.

Er versuchte auf seine Weise, einen Weg zu sich zurückzufinden. Deshalb saß er jeden Abend hier und kritzelte unleserlich auf den verdammten Block.

Zumindest seinen Namen wollte er schreiben können, nur seinen verfluchten Namen.

Es war zu einer fixen Idee geworden, dass, wenn er es schaffte, mit links schreiben zu lernen, er dann wieder ein Stück Menschlichkeit zurückgewinnen konnte.

Aber jeder Buchstabe, den er mühevoll kritzelte, sah aus, als wäre er von einem Vierjährigen geschrieben worden.

Keine Chance.

Verzweifelt sudelte er wild das ganze Blatt voll, bevor er den Stift samt Block in die Ecke pfefferte.

Er stand auf und lehnte die Stirn gegen die Wand. Nach ein paar kontrollierten Atemzügen starrte er auf die roten Spuren, die seine verwundeten Fingerknöchel auf dem beigen Putz hinterlassen hatten.

Dann schlug er mit der Faust auf die Wand ein.

COPPER

Frapp, frapp … Schleppend schnitten die Rotorenblätter des Hubschraubers durch die Luft, um Auftrieb zu bekommen.

Sekundenlang hielt dieses Geräusch Copper gefangen. Wie in Zeitlupe brannte sich die Szene in sein Hirn, dort verknüpfte sich das Bild mit einer Erinnerung.

Chief Officer Luke Bryant, leitender Kommandant des Teams SEVEN der US SEALS.

Überzeugt davon, seinen Dienst für sein Land zu leisten und stolz darauf, eine Einheit anzuführen im Kampf für Frieden und Hoffnung.

Dort, wo die Luft brannte, weil die Projektile sie wie prasselnder Regen zersiebten, hatte er den Sinn seiner Existenz gefunden.

Frapp, frapp …

Panisches Gekreische hallte dumpf durch seine Gedanken. Krachend schlichen die Detonationen zurück. Er bildete sich ein, die Fetzen der Blätter und der Erde wieder auf seinem Gesicht zu spüren.

Eine Szene, gefangen in seinem Unterbewusstsein, versuchte, sich an die Oberfläche zu kämpfen, aber er ließ es nicht zu. Er ertränkte die Erinnerung in dem tiefen Moloch seines Verstandes.

Das war Geschichte, bloße Erinnerung an eine Zeit, in der er Kommandant gewesen war – bevor …

Copper wandte sich ab und sah zu den Stümpfen, die knapp unter seinen Kniegelenken endeten. Anstelle der Unterschenkel und seiner Füße hingen dort dicke Knoten, die er in seine Hosenbeine gemacht hatte.

Der metallische Geruch von Blut stieg in seine Nase.

Der Ruck, der gnadenlos durch seinen Körper gepeitscht war.

Er erinnerte sich, wie er nach unten gesehen hatte, als er an einem Arm am Träger des Helis gehangen hatte. Zuerst hatte er nicht erkannt, woher der rote Sprühnebel kam, kurz nachdem er diesen heftigen Ruck an seinen Beinen gespürt hatte. Selbst als er mit eigenen Augen sah, dass ein Teil seines Körpers fehlte, hatte er nicht begriffen, was geschehen war.

In seinem Kopf hatte der wahnsinnige Gedanke geherrscht, dass das alles nicht real war. Blut troff aus seinem Körper, aber er fühlte nichts. Die Geräusche verstummten, nur die Rotorenblätter über ihm zogen kontinuierlich ihre Kreise.

Der Schmerz hatte erst eingesetzt, als seine Kameraden ihn an Bord des Helis gezogen hatten und die Stümpfe unter seinen Knien eine rote Spur hinter ihm herzogen. Doch selbst da war ihm der Schmerz seltsam schwach vorgekommen. Als hätte sein Körper unter Schock gestanden. In bisherigen Kämpfen hatte er sich drei Kugeln eingefangen. Er trug Narben davon, eine auf der rechten Schulter, eine in der Brust und eine am Oberschenkel.

Aber dieser Schmerz hatte nichts mit dem zu tun, was er bislang erlebt hatte. Dumpf, wie in Trance, hatte er beobachtet, wie sein Blut kleine Seen in der Walz des Bodenbleches gebildet hatte.

Die Granatwerfer hatten nichts übriggelassen, sie hatten seine Unterschenkel zerfetzt und ihn zum Krüppel gemacht.

Dieser Einsatz in Mogadischu war zwei Jahre her.

Copper fuhr mit der rechten Hand über sein Gesicht und den dunklen Vollbart. Als könnte er so die Geisterbilder in seinem Verstand vertreiben.

Der Hüne, der neben ihm im Hubschrauber saß, war Emmet Carter. Ein Vorzeige-SEAL, dem er bei ein paar Einsätzen vor Mogadischu begegnet war.

Von keinem anderen Menschen hätte sich Copper zu einer Aktion bringen lassen, die ihn wieder in Verbindung mit dem Militär brachte.

„Wo zur Hölle sind wir?“, rief Copper gegen den Rotorenlärm an, als sie auf einer grünen Lichtung in einem Waldstück landeten.

Emmet sprang aus dem Hubschrauber und hievte Copper huckepack aus dem Heli, bevor er ihn zu dem Geländewagen brachte.

„Am Lake Placid“, schrie Emmet gegen den Lärm an. „Bei mir.“

Copper ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und begrüßte den stechenden Schmerz, der von den Stümpfen unterhalb der Kniegelenke in seinen Körper kroch. Sich wie einen nassen Sack von Carter durch die Gegend tragen lassen zu müssen, war zum Kotzen.

Carter hatte ihn aus dem Schmerzzentrum geholt, wo ihn das Militär hinverfrachtet hatte. Nach der Reha hatten sie schlicht nicht gewusst, wo sie ihn unterbringen sollten. Weder mit den behandelnden Ärzten, noch mit seinen ehemaligen Vorgesetzten hatte er kooperiert.

Er war kein SEAL mehr, seine Beine waren im Arsch, mehr gab es da nicht festzustellen. Wie sie seine Kriegsrente verpulverten, war ihm scheißegal, er hatte mit seinem Leben abgeschlossen.

Er hasste es, die Stümpfe ansehen zu müssen, er verabscheute diesen Körper und fühlte sich wie ein Feind in seinem eigenen Fleisch.

Nur aus Respekt Carter gegenüber war er mitgekommen und hatte sich mit der Aktion einverstanden erklärt.

Carter hatte gesagt, dass er ein Team zusammenstellen würde.

Und dass er etwas Besseres als einen verdammten Rollstuhl auf Lager hätte.

Im Rückspiegel sah Copper, wie Carter den zusammengeklappten Rollstuhl des Sanatoriums auf die Ladefläche warf. Carter ließ sich Zeit beim Einsteigen. Er wartete, bis der Heli gestartet war.

Wahrscheinlich wollte er nicht, dass der Pilot sah, in welche Richtung sie fuhren.

Wohin zur Hölle brachte er ihn? Und von welchem Team war hier die Rede?

Carter stieg ein und fuhr los – über holprige Waldwege zwanzig Minuten Richtung Süden.

Copper hielt sich an dem Griff über der Tür fest. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Emmet immer wieder auf die Bewegungen seiner Kniegelenke sah.

Das waren die letzten Reflexe, dieses kurze Zucken, wenn der Jeep über Wurzeln und Geäst des Weges ruckelte. Als würden seine Knie noch den alten Instinkt in sich tragen und versuchen, seine Füße fest auf den Boden zu stemmen. Ein Rudiment, das nichts mehr mit dem Jetzt zu tun hatte.

Emmet war in Gedanken vertieft.

Normalerweise war es Copper scheißegal, wenn jemand auf diese Stümpfe sah, aber da war etwas in Emmets Blick, das anders war. Er konnte nur noch nicht genau sagen, was es war.

Als Emmet bemerkte, dass Copper ihn anstarrte, wandte er sich ab.

Copper hielt sich fester am Griff der Seitentür fest. Sein Körper war angespannt. Außerdem spürte er, dass die Dosis Motrin nachließ.

Das scharfe Ziehen setzte wieder ein.

Copper hatte gelernt, die unterschiedlichen Arten von Schmerz in seinem Körper zu erkennen und zu betäuben. Der ganze Scheiß, den sie in der Schmerztherapie durchgingen, kam ihm lächerlich vor. Er hatte eine eigene Lösung. Jede Art von Schmerz konnte man betäuben. Es gab den Wundschmerz, der kurz nach der Amputation des zerfetzten Restgewebes aufgetreten war. Dieser schneidende Schmerz war erträglich gewesen. Manchmal hatte er die Erinnerung daran sogar begrüßt, weil sein Gehirn diese Form von Schmerz mit anschließender Heilung verknüpfte.

Doch dann gab es den Schmerz, der auftrat, wenn er daran dachte, wie sie die abgeschnittenen Nervenbahnen verödet hatten. Das fühlte sich an wie heftige elektrische Impulse, die von den Stümpfen durch seinen ganzen Körper jagten. Unerbittlich und endlos.

Der Arzt, der ihm zu erklären versucht hatte, dass all das nicht wirklich spürbar sein dürfte, sondern dass es sich um psychische Folgen der zahlreichen Operationen handelte, war nach der ersten Sitzung nicht mehr aufgetaucht.

Dafür hatte Copper gesorgt.

Seine Lösung hieß Motrin. Ein verdammt effektives Schmerzmedikament, das er sich regelmäßig mit ein paar anderen Pillen einwarf, um alles zu betäuben. Deshalb war er auch so verdammt lang in diesem beschissenen Sanatorium geblieben. Weil er einen Pfleger bestochen hatte, der ihn regelmäßig mit dem Zeug versorgte.

Er hatte was davon in seiner Tasche. Aber er würde den Teufel tun und es vor Carter nehmen.

„Das Militär will eine perfekt ausgebildete Spezialeinheit, die unter dem offiziellen Radar operiert. Ich werde sie zusammenstellen“, sagte Emmet, den Blick nach vorne gerichtet. „Und sie mit meinen Leuten trainieren.“

Copper versuchte, das unerbittliche Stechen in seinem Fleisch zu ignorieren. Trotzdem rutschte er nervös auf dem Sitz herum und fuhr sich immer wieder durch die Haare.

„Warum ich, und wer sind die anderen?“, entgegnete er knapp.

Er hatte Gerüchte gehört.

Dass Carter untergetaucht war und eine Spezialeinheit anführte, doch keiner wusste Genaueres darüber. Es war damals wie ein Laubfeuer durch Militärkreise gebrannt. Auf gewisse Weise hatte es aus dem Elitesoldaten Emmet Carter eine mysteriöse Legende gemacht.

Fahrig beäugte Copper die Umgebung. Er suchte in den Baumwipfeln neben dem Weg nach Kameras, sichtbarer Überwachung oder nach Scharfschützen.

Sein Misstrauen richtete sich nicht direkt gegen Emmet. Er traute sich schließlich selbst nicht mehr.

Die Wege, über die sie fuhren, waren absichtlich angelegt worden, sie sollten wie Arbeitspfade für Förster wirken. Das hier war wie ein geplantes Netz aus Flucht und Irrwegen. Wie bei einem taktisch angelegten Labyrinth.

Genauso hätte es Copper gemacht, wenn er ein Gebiet verstecken wollte.

Emmet hatte das Areal gesichert, aber nicht so, dass es nach außen ersichtlich war.

Wenn man sich in dem Gebiet auskannte, kam man zurecht. Wenn nicht, lief man Gefahr, sich zu verirren. Was hielt Carter hier versteckt?

„Weil du der Richtige bist für den Job“, antwortete Emmet. „Die drei anderen wirst du kennenlernen.“

Diesmal starrte Copper weiter aus dem Fenster, obwohl er Carters Blick spürte.

Ein vierköpfiges Team.

Er konnte sich kaum vorstellen, für welche Art von Job er noch der Richtige sein sollte.

Das konnte nur ein verdammt mieser Scherz sein. „Um was geht es?“, fragte er argwöhnisch.

Das Ziehen in den Stümpfen machte ihn wahnsinnig. Er hatte sich so an die Schmerzmedikamente gewöhnt, dass er nicht mal wusste, ob das hier schon Entzugserscheinungen waren.

„Um Befreiung und Schutz bei aussichtsloser Lage“, antwortete Carter sachlich.

Copper hätte am liebsten laut aufgelacht. Ein Krüppel als Teil eines Spezialkommandos, das in ausweglose Rettungseinsätze geschickt wurde? Das war lächerlich. Was auch immer mit Emmet hier in der Einöde geschehen war, er hatte einen Teil seines Verstandes eingebüßt.

Copper fuhr sich mit der Zunge übers Zahnfleisch, weil sein Mund so verdammt trocken war.

Warum saß er hier, verflucht noch mal?

Sie fuhren durch einen alten steinernen Torbogen, dahinter lag etwas, das Copper niemals in dieser Wildnis erwartet hätte.

Ein dunkel geschotterter Vorplatz. Im Halbkreis darum standen drei Gebäude. Holzhäuser mit bewachsenen Flachdächern, außen mit viel Glas und eines mit Veranda. Wie ein deplatziertes Idyll, eine abgelegene Kommune.

„Wir sind da“, sagte Carter, bevor er den Wagen unter einem Holzverschlag abstellte und ausstieg.

Copper sah im Rückspiegel, wie Emmet den Rollstuhl aus dem Wagen hob und ihn zur Beifahrertür schob.

Das hier war Emmets geschützter Bereich. Absichtlich so angelegt, dass nicht einmal aus der Luft ersichtlich war, dass hier Häuser standen. Selbst der Vorplatz war nicht als solcher erkennbar.

Es war beunruhigend, dass Carters Geschichte an Glaubwürdigkeit zunahm.

Copper öffnete die Beifahrertür und drehte sich so, dass seine Kniestümpfe nach außen baumelten. „Du bist der Elitesoldat, warum machst du es nicht selbst?“, fragte Copper, nachdem Emmet ihn in den Stuhl gehievt hatte.

„Ich bin raus“, antwortete er knapp.

„Und was machst du stattdessen?“

„Sieh es dir an“, sagte Emmet, während er nach links auf ein kleineres Gebäude deutete.

Mit dem Rollstuhl über die groben Wege zu kommen, war nicht leicht, aber Copper schob die Reifen mit kräftigen, ruckartigen Bewegungen über den Schotter. Obwohl er seinen Körper hassen gelernt hatte, war Training sein Ventil geblieben. Immer, wenn ihn die Albträume nicht schlafen ließen, hatte er den Kraftraum des Sanatoriums benutzt. Er hatte seinen Körper wie einen nassen Sack die Geräte hinaufgezogen. Klimmzüge gemacht, bis zur absoluten Erschöpfung. Bis jeder einzelne Atemzug in der Lunge brannte und sein Herz pumpte. Das waren Augenblicke, in denen er sich spüren konnte. Er hatte sich weder um sein Äußeres geschert und sich rasiert oder sich die Haare geschnitten. Noch darauf geachtet, wie viel Schmerzmittel er einwarf.

Aber trainiert hatte er regelmäßig, wie ein Besessener. Deshalb war sein Oberkörper kräftig genug, um in diesem beschissenen Rollstuhl überall hin zu fahren.

Neben der Holztür, unter einer Klappe, war eine verdeckte Konsole eingebaut. Carter ging mit seinem Gesicht nah an eine kleine Kameralinse heran. Ein schmaler blauer Laserstrahl fuhr über sein Auge, kurz darauf hörte man, wie sich in der Tür ein Entriegelungsprozess in Gang setzte. Mit einem feinen Klacken öffnete sich die Tür.

Das hier war High-Tech. Eingebaut in massive, von außen unauffällig wirkende Holzhäuser.

Carter ging vor. Als er den ersten Schritt über die Schwelle getan hatte, schaltete sich automatisch nach und nach die Beleuchtung an der Decke an.

Copper wartete in der Tür, bis er einen Überblick hatte. An den Seiten standen Tische. Ein Teil, das aussah wie ein Roboterarm mit einem überdimensionierten großen Mikroskop, stand in der Mitte. Mehrere Glaskuben und Sicherheitsschränke befanden sich neben der Tür.

Das war ein Labor.

Sein Blick blieb an einem Aufbau neben dem riesigen Mikroskop hängen. An einer Halterung hingen zwei schwarze, glänzende Gestelle.

Sie sahen aus wie Prothesen. Solche, die LeichtathletikSportler wie Sprinter bei den Paralympics trugen.

„Was ist das?“ Misstrauisch starrte Copper auf die Prothesen.

Emmet zögerte keine Sekunde, als hätte er auf diese Frage gewartet. „Das sind Unterschenkel-Fuß-Neuroprothesen aus einem Material, das dem robusten aber leichten Graphen ähnelt. Eine hydraulische Steuerung ist eingebaut. Drumherum ist es aufgebaut wie ein Modular-Rohrskelett. Bionisch gesteuert über Sensoren im Gelenk-Bereich. Perfekt angepasst an deinen Körper, dein Gewicht und deine Statur.“ Emmet deutete auf den Fuß, der nur entfernt an einen menschlichen Fuß erinnerte. Es sah aus wie eine flache Schaufel unter dem rund angelegten Unterschenkelskelett.

Graphen – das Material sagte ihm etwas. Robuster als Stahl, aber tausendmal leichter.

Emmet hörte sich an, als würde er aus dem Hintergrund wissenschaftlich erklären, wie ein Off-Kommentator, der auf jede Frage vorbereitet war. Aber Copper spürte seinen Blick auf sich. „Es ist eine Graphen-Carbon-Verbindung, quasi gemischt mit etwas Silikon, um die Prothese elastischer zu machen. Wenn du zustimmst, bekommst du ein offenes Implantat. Das bedeutet, dass ich die Prothese in deinem Kniegelenk verankere, vorausgesetzt, das Gelenk ist noch stark genug.“

Wie eine dumpfe mechanische Pumpe wummerte sein Herz in der Brust.

Wieder strich er mit der Zunge über seine Zähne, aber sein Mund blieb staubtrocken.

Copper hatte so was noch nie gesehen. Die Ärzte hatten Vorschläge für Stützprothesen gemacht, die neben diesen Teilen aussahen wie vorsintflutliche Folterinstrumente. Sicher, weil das Militär für ausrangierte Soldaten wie ihn kein Geld mehr ausgeben wollte.

Er wusste, dass das Militär an Exoskeletten tüftelte. Das waren äußerliche Stützeinheiten, die es Soldaten ermöglichen sollten, mehr Gewicht zu tragen. Für weiterführende Forschung an Robotik und Nanosteuerung gab es kein Geld. Für Waffen schon.

Das, was Carter hier entwickelt hatte, wirkte um einiges futuristischer.

Neuroimplantate – das konnte bedeuten, dass es dem Schweinehund sogar gelungen war, steuerbare Prothetik zu entwickeln.

Ohne dass er es hätte verhindern können, entfachte Carter damit eine brennende Faszination in Copper. Trotzdem blieb er in der Tür stehen, als könnte er sich mit Abstand eher gedanklich von dieser Geschichte distanzieren.

„Du bekommst einen Chip in den Kopf gepflanzt, der die Impulse deiner Nervenzellen abgreift, sodass du die Prothese aktiv steuern kannst. Außerdem möchte ich Sensoren in die Amputationsstümpfe einsetzen, die auf Mikrobewegungen in Form von elektrischen Spannungen reagieren. Du wirst mehr können als laufen.“

Für jeden anderen hätte er nicht mal ein flüchtiges Grinsen übrig gehabt. Aber Carter … Copper starrte die Prothesen an, als wären sie der Beweis dafür, dass diese Geschichte wirklich passierte.

Der nächste Schub Schmerzen war so heftig, dass er durch seine Oberschenkel und Knie fuhr wie ein derber Blitzschlag. Er durchbohrte Coppers Rumpf und ließ seinen Körper erzittern.

Motrin, er brauchte das Zeug, sonst würde er irre.

Er packte die Griffleiste der Räder und spannte seine Arme an.

„Hast du Bier da?“, fragte er nach ein paar Sekunden.

Emmet nickte, öffnete einen Kühlschrank und zog zwei Bier zwischen etlichen Dosen und Gläsern heraus.

Carter warf ihm eine Flasche zu.

Er fing sie auf und öffnete den Kronkorken mit einem Schlag auf seine Rollstuhllehne. Kalt und prickelnd schoss das Bier durch seine ausgedörrte Kehle. Ein paar tiefe Schlucke lang genoss er die Illusion der unbeschwerten Hoffnung. Dann fasste er zusammen. „Du willst mir einen Chip ins Hirn setzen und mir diese Teile anbauen?“, wiederholte er ruppig – zurück in der Realität.

„So kann man es sagen“, antwortete Emmet nickend.

Copper nahm einen weiteren großen Schluck.

„Allerdings habe ich einen Neuro- und einen Gefäßchirurgen in Ohio, die für die Durchführung der OPs zuständig sind. Morgen früh könnten wir fliegen“, schloss Emmet.

Carter war von allen guten Geistern verlassen.

Warum sollte die Army überhaupt in ihn investieren? Und wieso zur Hölle sollte er sich auf die ganze Sache einlassen?

Es war seltsam. Was Carter da sagte, klang so, als ob er es wirklich in Betracht zog, als ob es möglich wäre. Und Carter war kein verdammter Idiot. Aber das war unmöglich …

„Was für eine beschissene Samariternummer soll das sein?“, flüsterte Copper misstrauisch.

Auch wenn Carter seinen Respekt genoss, das hier war kein verfluchter gemeinsamer taktisch geplanter Einsatz in feindlichem Gebiet. Sie waren Ex-SEALs, keine Kameraden mehr. Hier ging es um Coppers Leben. Um das, was davon übrig war. Und der letzte Rest hatte sich von dem Wort Zukunft und Hoffnung verabschiedet. Im Hier und Jetzt war er ein Krüppel. Dieser Argwohn war nicht mehr als der Versuch, eine Reaktion von Carter einzufordern, die sein ganzes Angebot als eine Farce entpuppen würde.

Als Copper das Bier wieder absetzte, traf sein Blick auf Carters.

Sie starrten sich sekundenlang schweigend an. Copper kam sich zuerst vor, als wäre er in einem seltsamen Duell gefangen. Er spürte sogar das leichte Zucken seines Mundwinkels, als würde er im Inneren das Bedürfnis haben, die Zähne zu fletschen. Trotzdem kippte in diesem Moment die vorgeschobene Skepsis in Scham.

Er empfand Carters Blick nicht als herausfordernd oder herablassend aufgrund seines sarkastischen Spruchs. Copper sah Carter an, dass der mit dem Gedanken spielte, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Eine analytische, kühle Distanz blitzte in Carters Blick auf. Ein Ausdruck, den Copper vorher nicht gesehen hatte. Nicht mal, als Carter ihn vom Boden in den verdammen Rollstuhl gehievt hatte.

Das hier war anders.

Erst jetzt zweifelte Carter an ihm – weil Copper sich wie ein trotziges Kind auf das Angebot gestürzt hatte und es als idiotisch abtat. Sicher, dass die Welt darauf wartete, ihm wieder in den Arsch zu treten.

„Du bist sicher, dass es funktioniert?“ Copper fuhr sich mit einer Hand über den Bart am Kinn, bevor er die Stirn in Falten zog.

Seine Hand zitterte. Das war ihm nicht bewusst gewesen. Nur ein Detail, das davon zeugte, wie stark er sich von seinem Körper distanziert hatte. Er kämpfte gegen das scharfe Misstrauen, das er sich zugelegt hatte, um jeden Hoffnungsschimmer abzutöten.

Emmet nickte. „Ja.“ Er zog die Augenbrauen zusammen und sah Copper eindringlich an. „Aber es gibt immer ein Restrisiko.“

Copper hielt Emmets Blick stand.

Risiko – ein Begriff, der ihn in den letzten Monaten nicht mehr als ein abwertendes Grinsen gekostet hätte. Dass etwas gefährliche Folgen haben könnte, kam ihm lächerlich vor. Er konnte nicht mal mehr im Stehen pissen, verdammt noch mal.

Wenn man nichts mehr zu verlieren hatte, schien ein Risiko mehr Chance als Wagnis.

Copper verlagerte die Schärfe seines Blickes auf die schwarzglänzenden Neuroprothesen vor sich. Bei dem Gedanken daran, sich wieder aufrichten zu können und den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, bildete sich ein Kribbeln in seinem Körper. Es flutete seine Synapsen mit einer aufreibenden Spannung.

Leise, fast bedrohlich langsam stahlen sich die Worte über seine angespannten Lippen: „Ziehen wir es durch.“

Carter nickte und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. „Ich weiß, dass es verdammt viel verlangt ist, der Nummer zu trauen …“ Er brach den Satz ab und stellte die Flasche hin. „Komm schon, ich zeig dir, wo du schlafen kannst.“

Links neben dem Labor stand ein Zwei-Zimmer-Bungalow aus Holz. Mit Duschbad und kleiner Küche. Es sah fast so aus, als würde Carter regelmäßig mit Gästen rechnen. Obwohl hier außer ihnen kein Mensch zu sehen war.

Das breite Bett war frisch bezogen. Nichts gegen Carter, aber alles hier wirkte so, als hätte eine Frau ihre Hände mit im Spiel gehabt. Sei es die Einrichtung, oder die Tatsache, dass frisches Obst in der Küche lag. Ehemalige SEALs hatten seiner Erfahrung nach keinen feinen Sinn für solche Dinge.

Als Carter ihn allein ließ, stand Copper mit seinem Rollstuhl gefühlte Minuten vor dem quadratischen grauen Badezimmerteppich, der sich gut auf den dunkleren Schieferplatten machte. Er erwischte sich bei dem Gedanken, wie weich sich das Material an den Fußsohlen anfühlen musste.

Es war seltsam, dass ihm das früher nie aufgefallen war.

Manchmal träumte er, dass er seine Beine noch hatte. Meistens war es derselbe Traum. Er stieg unendlich viele Treppen nach oben und immer, wenn er dachte, dass er angekommen war, kamen neue Stufen hinzu.

Der Traum war so oft wiedergekommen, dass er sich vorgenommen hatte, sich das Gefühl einzuprägen. Wie sich seine Füße fest auf Boden anfühlten.

Abrupt riss er sich von dem Anblick los und fuhr den Rollstuhl ins Schlafzimmer zurück. Hellgraue, bodenlange Vorhänge hingen seitlich der Fenster. Es roch frisch. Im Sanatorium hatte es immer nach Desinfektionsmittel gerochen. Selbst als er jetzt seine Tasche öffnete, um ein paar Klamotten herauszunehmen, haftete dieser stechende, unpersönliche Geruch noch an jeder Faser. Angewidert warf Copper ein Shirt wieder in die Tasche zurück und fuhr zum Fenster. Auf einem kleinen Tisch lagen ein neues Smartphone mit zwei Sim-Karten und ein Portemonnaie. Darin fand er fünfhundert Dollar in bar. Carter schien entweder an das Gute im Menschen zu glauben, oder er traute ihm schlicht nicht zu, den Weg zurück allein zu finden.

Es klopfte, bevor Carter die Tür öffnete und ihn zum Essen einlud.

Copper legte das Portemonnaie zurück und verfluchte sich innerlich dafür, so abgelenkt gewesen zu sein.

Er hatte nicht mal sein verdammtes Motrin geschluckt. Fuck.

Carter schob den Rollstuhl einen schmalen Pfad entlang zu einem der größeren Häuser. Keine Ahnung, wie dieses Gebiet erschlossen worden war, aber Bagger oder andere schwere Baumaschinen waren auf übliche Weise sicher nicht hier gewesen.

Leises Flüstern drang aus der Richtung, in die Carter den Rollstuhl schob. Mindestens drei weitere Personen hielten sich hier auf. Zwei davon weiblich.

Copper ärgerte sich darüber, sich nicht mal rasiert zu haben. Er zitterte, weil der schwache Effekt des Bieres verflogen war und sein Körper wieder triggerte. Außerdem schwitzte er wie ein Schwein.

Emmet schob ihn an der Tür vorbei, direkt hinter das Haus. Dort war ein Garten. Es war skurril. Copper fühlte sich in eine fremde Welt versetzt. Der Sonnenuntergang tauchte die hohen Bäume und die vielen Pflanzen in ein bläuliches Licht. In der Mitte des Gartens standen ein langer Holztisch und verschiedene Stühle. Carter schob ihn zu einem leeren Platz am Tisch.

Gedeckt war für fünf Personen, noch war außer ihm niemand hier. Neben dem Tisch war ein runder Grillplatz angelegt. Zwei große Fische lagen auf einem Rost. Es roch nach Rosmarin, Salbei und Petersilie.

„Hallo“, hörte er eine weibliche Stimme hinter sich.

Als er sich der Hintertür zuwandte, kam eine schlanke, rothaarige Frau mit einer großen Schüssel in den Händen auf den Tisch zu.

Copper kam sich vor, als hätte er eine Erscheinung gehabt. Dass die Frau schön war – keine Frage, aber es war ihre Ausstrahlung, die ihm die Sprache verschlug. Sie bewegte sich anmutig und ihr Lächeln traf etwas tief in seiner Seele. Da schwang eine Form von Sanftheit mit, die ihn fertigmachte. Als sie näherkam und die Schüssel auf dem Tisch abstellte, bemerkte er, dass die Frau zwei unterschiedliche Augenfarben hatte.

„Copper, das ist Zoe“, stellte Carter vor. „Meine Frau.“

Mehr als ein grimmiges Nicken brachte er nicht zustande.

Ein paar Minuten später kam ein weiteres Paar dazu. Eine blonde Frau, die ihm mit dem Namen Rose vorgestellt wurde, und deren Partner Sean.

Copper konnte nichts gegen das Misstrauen tun, das sich wie ein Virus in seine Nervenbahnen schlich. Diese Menschen wirkten freundlich und offen. Trotzdem war das hier alles andere als natürlich. Wenn ihm seine Sinne nichts vorgaukelten, dann bewegten sich diese Leute fließender. Er war kein spiritueller Typ, aber er hätte schwören können, dass jeden Einzelnen so etwas wie eine mystische Aura umgab. Der Mann namens Sean hatte einen derart intensiven Blick, dass Coppers Intuition Alarm schlug. Hier lief etwas sehr Seltsames ab.

Oder er drehte durch.

Niemand der Anwesenden verhielt sich ihm gegenüber eigenartig oder befangen. Wenn er sich hierauf einlassen würde, könnte der Abend sogar nett werden. Genau das war der Grund, weshalb er sich zurückhielt. Trotz allem. Auch wenn Emmet ihn eingeladen hatte. Er war hier ein kaputter Exot.

Als Carter den Fisch vom Grill holte, drang aus der Tür ein leises Glucksen.

Copper erstarrte innerlich.

Lächelnd holte Zoe einen kleinen Jungen nach draußen, setzte ihn auf ihren Schoß und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Das ist Noah, mein Sohn“, bestätigte Emmet Coppers Vermutung.

Der Junge sah Emmet ähnlich. Dieselben blonden Haare. Aber die Augen hatte er von Zoe. Das Kind konnte höchstens ein halbes Jahr alt sein. Während Rose Brot verteilte, fühlte Copper sich magnetisch zu dem Blick des Jungen hingezogen. Dieses Kind hatte eine ähnlich intensive Ausstrahlung wie alle hier. Aber da war noch mehr. Als könnte der Junge in die tiefsten Abgründe von Coppers Seele sehen.

Es war höchst eigenartig. Der Blick eines Kindes löste in ihm mehr aus, als er abzuschotten in der Lage war.

Als würde sein Geist in seinem zerrissenen Körper einen hysterischen Krampfanfall erleiden und auszubrechen versuchen. Und die Schreie, die Copper ignorierte, hallten unter Noahs Blick lauter in ihm nach.

Es fiel ihm schwer, den Kontakt zu halten, zumal das Kind weiter lächelte, als wäre nichts an Copper, was es beängstigen würde. Nach Sekunden wandte sich Copper ab und starrte auf seinen Teller.

Obwohl alle so taten, als wäre er ein willkommener Gast, antwortete er nur knapp auf Fragen nach seiner Vergangenheit. Nicht, weil er unhöflich sein wollte, sondern weil er sich wie ein kaputtes Bindeglied in einer perfekt funktionierenden Kette fühlte. Gleichzeitig störte ihn dieser Eindruck, weil ihm bewusst war, dass das nur sein Film war.

Nach dem Fisch, Brot und einem Stück Mandelkuchen bedankte und verabschiedete er sich knapp, bevor er zu seinem Bungalow zurückfuhr. Emmets angebotene Hilfe schlug er aus, stattdessen fuhr er sich ein paar Mal in dem Schotter fest und verfluchte sich innerlich.

Im Bungalow angekommen, saß Copper fast apathisch vor seiner Tasche. Wissend, dass darin noch Motrin und ein paar Tabletten Percocet gebunkert waren. Sein Körper gierte nach dem Zeug. Das ganze Essen lang war es aushaltbar gewesen, als hätte er unter einem Bann gestanden. Jetzt war die Lust, sich einfach komplett zu betäuben, stärker als alles andere.

Aber irgendetwas in seinem tiefsten Inneren hielt ihn davon ab, die Pillen einzuschmeißen. Die Frage, ob er aufgegeben hatte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Zu viel Wut hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, er hatte sich nicht mal mehr selbst gefühlt.

Aber jetzt stand etwas auf dem Spiel.

Er war vielleicht süchtig, aber er war kein verdammter Idiot. Ihm war klar, dass Medikamente eine Narkose beeinflussen würden. Und das konnte einen Eingriff unmöglich machen.

Das Kribbeln in seinen Stümpfen wurde immer stärker. Er hasste dieses Gefühl, als ob Milliarden Ameisen über seine Haut huschten und ihn langsam aber sicher bedeckten, um ihn bei lebendigem Leib aufzufressen. Außerdem war an Schlaf nicht zu denken, wenn diese Scheiße nicht aufhörte und er seine Sinne nicht benebeln konnte. Fuck.

Er hämmerte mit den Händen gegen seinen Schädel, als könnte er so etwas klarer denken. Dann fischte er fahrig den Pillenbehälter aus der Tasche und warf ihn auf seinen Schoß, bevor er ins Badezimmer fuhr.

Hastig schüttelte er die letzten zehn Tabletten auf seine Hand. Eine Bewegung, an die er sich gewöhnt hatte. Kleine gelbe ovale Pillen, die ihn schlafen ließen und dem Grauen in seiner Seele die scharfen Pranken nahmen. Er hob seine Hand zum Mund.

Plötzlich kam ihm Noahs Blick wieder in den Sinn. Diese kindlichen, unschuldigen Augen. Zwei Farben. Als wollte er zu ihm sagen: Du hast die Wahl, es gibt zwei Möglichkeiten – entscheide dich.

Copper ballte die Hand zur Faust und spürte, wie die Tabletten sich in seine Handfläche pressten.

Kurzentschlossen warf er den Toilettendeckel nach hinten und pfefferte die Tabletten ins Klo. „Verdammter Idiot“, hörte er sich flüstern, als ob er den bittersten Fehler seines Lebens gemacht hatte.

Er drückte auf die Spülung und stellte sich auf eine lange Nacht ein.

Im Wechsel schossen eiskalte oder heiße Wellen durch seinen zitternden Körper, als er auf dem Bett lag. Quälende Nervosität ließ seine Nerven nicht zur Ruhe kommen. Als wäre er todmüde, aber sein Organismus war voll auf Adrenalin. Am liebsten hätte er sich die Haare ausgerissen und auf die unebene Narbenhaut unter seinen Knien eingeschlagen. Er verfluchte sich dafür, die Pillen weggespült zu haben. Er trank drei Flaschen Wasser und hievte sich regelmäßig vom Bett, um pissen zu fahren. Wieder auf dem Bett liegend fühlte sich sein Kopf an wie in Watte gepackt. Schlaf war kaum drin, es war eher ein tranceartiger Schwebezustand, der sich mit Wahnsinn die Waage hielt.

Am nächsten Morgen fühlte sich Copper wie ausgekotzt. Er war Duschen gewesen. Hatte mit dem Arsch auf den schwarzen Schieferplatten gesessen und das Wasser beobachtet, wie es an seiner Haut heruntergeflossen war.

Als wäre es nichts als ein mechanischer Vorgang, hatte er sich danach abgetrocknet und frische Sachen übergezogen. Das ganze Gekrauche aus dem Rollstuhl raus und wieder rein hatte Kraft gekostet. Weshalb er jetzt genauso verschwitzt war wie zuvor.

Er fand einen Rasierer, mit dem er seinen Bart stutzte. Sich komplett zu rasieren, war nicht drin, dafür zitterten seine Hände zu stark.

Als er Schritte hörte, griff er nach den Rollstuhlrädern. Er packte sie fest, als wollte er gleich einen Kickstart hinlegen. Das Gegenteil war der Fall. Er wollte nicht, dass Carter sah, wie stark er zitterte.

Carter klopfte und kam herein, nachdem Copper ein zustimmendes Geräusch gemacht hatte.

Keine Spur von Zoe oder Noah, als Carter ihn zum Wagen fuhr.

Sein gebeuteltes Hirn war drauf und dran, sich weiszumachen, dass der ganze gestrige Abend nicht mehr als Einbildung gewesen war.

Falls Carter etwas von seiner beschissenen Nacht ahnte, ließ er sich nichts anmerken. Er half ihm in den Wagen und packte dann noch zusätzlich einen Koffer auf die Sitze.

Sie fuhren zum Flughafen und gingen dort behindertengerecht an Bord einer Linienmaschine nach Ohio.

Der Flug zur Forschungsuniversität nördlich von Cleveland dauerte knapp zwei Stunden.

Emmet wirkte tiefenenstpannt. So, als habe er alles bestens im Griff. Er erklärte ihm, dass der Eingriff bislang theoretisch mit den Wissenschaftlern durchgesprochen worden sei.

Das Wort theoretisch war nicht beruhigend. Aber wenn er sich überlegte, was er zu verlieren hatte, fiel ihm verdammt wenig ein.

Kurz hing er an dem Gedanken fest, ob er seiner Schwester Bescheid geben sollte, dann unterdrückte er den Impuls schnell wieder.

Copper war der älteste von drei Geschwistern. Seine beiden jüngeren Schwestern waren in der Nähe ihrer Eltern geblieben. Sie lebten in Kalifornien und hatten Copper das letzte Mal vor ein paar Monaten besucht. Jeder Gesprächsversuch war an ihm abgeprallt. Bis seine jüngste Schwester Mel ihn unter Tränen angeschrien hatte, dass er niemanden mehr an sich heranlassen würde. Er hatte sie eiskalt ignoriert.

Das hier war nicht der richtige Zeitpunkt, um auf sie zuzugehen.

Carter fuhr fort und riss Copper so von den Gedankenfetzen los. Er erklärte, dass alle an der OP beteiligten Personen der absoluten Schweigepflicht unterlagen, dank des Militärstempels auf der Forschungsakte.

In dem Koffer, den Emmet dabei hatte, waren nicht beide Unterschenkelprothesen, sondern nur der zu implantierende Chip und die Stumpfaufsätze. „Die restliche Technik bleibt bei mir“, stellte er klar. „Wir schrauben den Rest zusammen, wenn der Eingriff erfolgreich verlaufen ist. Der Chip und die Implantate an den Knien müssen eingesetzt und von deinem Gewebe angenommen werden, damit überhaupt eine Vernetzung der Module – und so eine neuronale Steuerung – möglich wird.“

Copper konnte mit den Details, die ihm Emmet beschrieb, wenig anfangen. Ihm war bewusst, dass dieser Eingriff noch nie zuvor vorgenommen worden war. Genauso klar war ihm, dass diese Prothesen nicht erprobt waren. Er war ein Versuchsobjekt, auch wenn sich das in Carters Worten nicht so anhörte. Die Frage nach dem Warum schwirrte Copper durch den Kopf. Aber sie hielt sich die Waage mit dem Respekt, den er Emmet gegenüber hatte. Er wollte ihn nicht infrage stellen, selbst wenn das hier klang wie ein Himmelfahrtskommando, von dem am Ende niemand etwas haben würde.

In der Klinik angekommen, wurden sie sofort in einen abgesicherten Trakt gebracht. Ein Ärzteteam, das ihm nicht namentlich vorgestellt wurde, erstellte ein MRT. Danach wurden Vital- und Blutwerte gecheckt. Er kam sich vor wie ein Roboter, der stumm Befehle befolgte. Permanent kam jemand, der eine Vene suchte oder irgendwelche Kleber auf seine Haut platzierte.

Während Copper von drei hinter OP-Masken versteckten Mitarbeitern vorbereitet wurde, diskutierte Emmet mit vier Männern in grünen Kitteln. Copper vermutete, dass es die Chirurgen waren. Die Ärzte wirkten wenig begeistert. Vielleicht hatten sie den Rest Schmerzmittel in seinem Blut bemerkt. Er konnte Carter durch die Scheibe des sterilen OPs gestikulieren sehen. Als der Narkose-Arzt die Liege nach hinten kippte und eine Substanz in den Katheterport in Coppers Handrücken verabreichte, fühlte Copper, wie angespannt er gewesen war. Das Letzte, was er sah, bevor er in die Narkose abdriftete, war, wie sich Emmets Gesicht in seine Blickachse schob. Er grinste. Scheiße nochmal.

Ihm gingen unzählige Dinge durch den Kopf. Und ihm ging der Arsch auf Grundeis.

„Kenne ich einen von den anderen?“, flüsterte Copper kurz vor dem Einschlafen.

Emmet beugte sich zu ihm herunter und antwortete: „Keinen.“

Copper hatte Schwierigkeiten, die Augen zu öffnen. Obwohl die piependen und zischenden Geräusche um ihn herum nervend waren, fühlte er sich so entspannt wie seit langer Zeit nicht mehr. Bis ihm klar wurde, was in den letzten von ihm bewusst wahrgenommenen Stunden geschehen war.

Abrupt riss er die Augen auf. Ein gleißendes Stechen zog durch seine Schläfen. Das unscharfe Wirrwarr vor ihm lichtete sich zäh. Aber er erkannte nach und nach die weißen Wände und eine Uhr über der Tür. Zwanzig nach acht abends. Wenn er sich recht erinnerte, hatte die OP um kurz vor zwölf begonnen.

Je klarer sein Bewusstsein wurde, desto eindeutiger nahm er den Mann links neben seinem Bett wahr. „Hattest du nicht was von sechs Stunden gesagt?“, fragte er mit rauer Stimme. Er klang, als hätte er die ganze Nacht Zigarren geraucht.

Zwei Stunden mehr. War das gut oder schlecht?

Okay, er lebte noch, die Frage war jetzt, wie würde er weiterleben?

Coppers Puls beschleunigte sich. Das war sogar an den Messinstrumenten zu hören.

Emmet hielt ihm ein Glas entgegen.

Copper zog sich mit einer Hand am Haltegriff über dem Bett nach oben, um in eine sitzende Position zu kommen. Ein stechender Schmerz bohrte sich in seinen Schädel. Als er an seinen Kopf griff, spürte er den festen Verband. Er nahm das Glas und trank einen Schluck Wasser.

„Das Einsetzen des Chips war zeitintensiver als gedacht“, erklärte Emmet.