Soziale Intelligenz - Daniel Goleman - E-Book

Soziale Intelligenz E-Book

Daniel Goleman

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Beschreibung

Daniel Goleman, Autor des Weltbestsellers Emotionale Intelligenz, präsentiert auf Basis der Psychologie und Hirnforschung revolutionäre Erkenntnisse: Unsere "Soziale Intelligenz" ist nicht nur grundlegend für den täglichen Umgang mit Fremden, Freunden, Partnern und Kollegen, sondern sie beeinflusst auch direkt unser persönliches Glück. "Soziale Intelligenz" ist zunächst unabdingbar für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Sie bildet aber auch die Grundlage jeder ausfüllenden zwischenmenschlichen Beziehung – sei es die zwischen Mann und Frau, Eltern und Kind oder zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Damit ist sie auch ursächlich verantwortlich für unser ganz persönliches seelisches und körperliches Wohlbefinden. Die gute Nachricht dieses Buches: Wir selbst können die Qualität dieser Beziehungen gestalten, unsere Fähigkeit zur Empathie stärken und somit unsere soziale Kompetenz verbessern.

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Seitenzahl: 774

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Daniel Goleman

Soziale Intelligenz

Wer auf andere zugehen kann, hat mehr vom Leben

Aus dem Englischen von Reinhard Kreissl

Knaur e-books

Über dieses Buch

Daniel Goleman, Autor des Weltbestsellers Emotionale Intelligenz, präsentiert auf Basis der Psychologie und Hirnforschung revolutionäre Erkenntnisse: Unsere »soziale Intelligenz« ist nicht nur grundlegend für den täglichen Umgang mit Fremden, Freunden, Partnern und Kollegen, sondern sie beeinflusst auch direkt unser persönliches Glück.

Inhaltsübersicht

WidmungEinleitungDas gesellige GehirnSozialer VerfallSchleichende VereinsamungDie Soziale NeurowissenschaftKluges HandelnErster Teil1. KapitelDer untere und obere Pfad der AnsteckungStimmungsauslöserWie man sich Gefühle einfängtEin Radar für UnaufrichtigkeitDer Absturz eines CasanovasLiebe, Macht und Empathie2. KapitelDie Wärme gegenseitiger SympathieGut synchronisiertInnere ZeitgeberDie Proto-Konversation3. KapitelNeuronale SpiegelDer Vorteil eines fröhlichen GesichtsDer Krieg der MemeDer Wahn der Masse4. KapitelWenn Achtsamkeit unumgänglich istFeinabstimmungInstinktives MitgefühlEin Engel auf ErdenEine altehrwürdige Debatte5. KapitelDie Geschwindigkeit des unteren PfadsWas er sie sehen sahEntscheidungen des oberen PfadsAuf dem KriegspfadNein zu ImpulsenBei näherem HinsehenDer Umbau des unteren PfadsDas soziale Gehirn6. KapitelAspekte des sozialen BewusstseinsAspekte sozialer FertigkeitenTraining für den unteren PfadSoziale Intelligenz in neuer PerspektiveZweiter Teil7. KapitelIch-DuDas Gefühl, gefühlt zu werdenVon der Nützlichkeit des EsSchmerzhafte ZurückweisungenEmpathie oder Projektion?8. KapitelDer Narzisst: Träume vom RuhmDie dunkle Seite der LoyalitätDas Motto des Narzissten:Die anderen sind dazu da, um mich zu bewundernDer Machiavellist: Der Zweck heiligt die MittelDer Psychopath: Der andere als ObjektDer fehlende moralische Stachel9. KapitelDas Spiel vom miesen Affen»Männliches« und »weibliches« GehirnUnverstandene SignaleDritter Teil10. KapitelMensch und MausGene brauchen ExpressionDas Rätsel von Umwelt und AnlageDie Prägung neuronaler PfadeVeränderungen sind möglich11. KapitelDas reglose GesichtDie depressive SpiraleVerzerrte EmpathieHeilsame Erfahrungen12. KapitelDrei Arten, nein zu sagenDie Bedeutung des SpielsDie Fähigkeit zur FreudeBelastbarkeitGruselig genugVierter Teil13. KapitelDie Kunst des FlirtsDrei Formen der BindungDie neuronale Basis14. KapitelEin Trick der NaturLibido und GehirnRücksichtsloses BegehrenHarmonische SpieleDurch Sex zum Objekt gemacht15. KapitelDer Einfluss des BindungsstilsDer untere Pfad zum MitgefühlZwischenmenschliche AllergienFünfter Teil16. KapitelÄußeres und inneres KampfgeschehenDie ätzende Wirkung von BeleidigungenUrsache und WirkungDie Wahrnehmung von BöswilligkeitDie Klasse von 1957Soziale Epigenese17. KapitelDas eheliche SchlachtfeldEmotionale ErlöserPositive AnsteckungEinfach dasein18. KapitelOrganisierte LieblosigkeitDen Menschen erkennenEin Diagramm der FürsorgeHeilung für die HeilerHeilende BeziehungenSechster Teil19. KapitelEin optimaler ZustandEin umgekehrtes UEin neuronaler Schlüssel zum LernenDer Faktor MachtVorgesetzte: eine TypologieDie sozial intelligente FührungspersönlichkeitEine besondere Beziehung20. KapitelDas Kalamazoo-ModellEin schützendes MiteinanderKein mieses Denken mehrDas Verbindende stärken21. KapitelUnausgesprochene VorurteileDie Kluft schließenDie Puzzlespiel-LösungVerzeihen und VergessenAnhangNachwortAngewandte ZwischenmenschlichkeitDas Bruttosozialprodukt des GlücksDas vielstimmige GemeinschaftsgefühlAnhang AAnhang BAnhang CDanksagung des Autors
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Für die Enkel

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Einleitung

Eine neue Wissenschaft

Es war zu Beginn des zweiten Irakkriegs, als eine Gruppe amerikanischer Soldaten sich einer Moschee näherte, um mit dem obersten Geistlichen der Stadt zu verhandeln. Man wollte ihn um Unterstützung bei der Verteilung von Hilfsgütern bitten. Dabei gab es ein Missverständnis. In der Annahme, die Soldaten wollten ihr religiöses Oberhaupt verhaften und das Heiligtum zerstören, rottete sich eine Menschenmenge zusammen.

Hunderte frommer Moslems umzingelten die Soldaten, fuchtelten mit den Händen in der Luft und drangen schreiend auf den schwerbewaffneten Militärverband ein. Der befehlshabende Offizier, Oberstleutnant Christopher Hughes, dachte blitzschnell nach.

Er griff zum Megaphon und gab den Befehl »Aufs Knie!«, was bedeutet, sich mit einem Bein hinzuknien.

Dann befahl er seinen Männern, die Mündung ihrer Waffen auf den Boden zu richten.

Sein dritter Befehl lautete: »Lächeln!«

In diesem Augenblick veränderte sich die Menschenmenge. Manche der Leute schrien zwar immer noch, aber die meisten erwiderten das Lächeln. Als Hughes seinen Männern befahl, sich langsam – und weiterhin lächelnd – zurückzuziehen, klopften einige den Soldaten sogar auf die Schultern.[1]

Diese schnelle Reaktion war das Ergebnis einer verwirrenden Vielfalt sozialer Berechnungen, von Kalkulationen, die in Sekundenbruchteilen vonstatten gingen. Hughes musste den Grad der Feindseligkeit in der Menge einschätzen und überlegen, was die Menschen beruhigen könnte. Er musste auf die Disziplin seiner Männer setzen und auf ihr Vertrauen zu ihm. Abgesehen davon konnte er nur hoffen, dass er sich für die richtige Geste entschieden hatte, um die kulturelle und sprachliche Barriere zu überwinden. Dies alles führte zu der blitzschnellen Entscheidung, ein Lächeln zu befehlen.

Disziplinierte Präsenz und Eindeutigkeit, verbunden mit der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sind Eigenschaften, die einen guten Polizisten ausmachen und die auch ein militärischer Vorgesetzter braucht, wenn er sich einer erregten Menge gegenübersieht.[2] Wie immer man über die Besetzung des Irak denken mag, diese Episode zeigt die brillanten sozialen Fähigkeiten, die unser Gehirn selbst in einer aufgeheizten, chaotischen Konfrontation entfalten kann.

Was dem befehlshabenden Offizier hier zu Hilfe kam, waren dieselben neuronalen Schaltkreise, auf die wir uns verlassen können, wenn wir einem möglicherweise bedrohlichen Fremden begegnen und in Sekundenbruchteilen entscheiden müssen, ob wir davonlaufen oder ihm entgegentreten sollen. Dieses zwischenmenschliche Radar hat im Lauf der Menschheitsgeschichte unzählige Leben gerettet und ist noch heute entscheidend für unser Überleben.

Auch wenn wir weniger unter Druck stehen, leiten uns die sozialen Schaltkreise unseres Gehirns durch jede Begegnung, sei es im Klassenzimmer, im Schlafzimmer oder im Kaufhaus. Sie sind im Spiel, wenn sich zwei Verliebte in die Augen schauen und zum ersten Mal küssen, und wenn man Tränen spürt, die man zurückhalten wollte. Auch für die gute Stimmung im angeregten Gespräch mit Freunden sind sie verantwortlich.

Dieses neuronale System tritt immer dann in Funktion, wenn es in der Interaktion mit anderen um die angemessene Haltung und das richtige Timing geht. Dank seiner weiß ein Anwalt, dass er einen bestimmten Zeugen aufrufen will, ein Geschäftsmann merkt, dass dies das letzte Angebot seines Verhandlungspartners ist, eine Patientin spürt, dass sie ihrem Arzt vertrauen kann. Es ist verantwortlich für jene spannenden Augenblicke bei einer Besprechung, wenn alle aufhören, in ihren Unterlagen zu kramen, still werden und sich darauf konzentrieren, was jemand sagt.

In den letzten Jahren ist es der Wissenschaft allmählich gelungen, die neuronalen Mechanismen zu erforschen, die in solchen Augenblicken am Werk sind.

Das gesellige Gehirn

In diesem Buch möchte ich den Vorhang lüften, hinter dem sich eine neue Wissenschaft entfaltet, die uns beständig mit verblüffenden Einsichten über die zwischenmenschliche Welt überrascht.

Die zentrale Erkenntnis dieses neuen Forschungsgebiets lautet: Das Bedürfnis zum Kontakt mit anderen ist gewissermaßen in uns eingebaut.

Die Neurowissenschaft hat herausgefunden, dass unser Gehirn als geselliges Organ konstruiert ist, das unweigerlich eine enge Verbindung mit dem Gehirn jeder Person aufnimmt, mit der wir es zu tun haben. Diese neuronale Brücke ermöglicht es uns, auf das Gehirn – und damit auch den Körper – eines jeden Menschen Einfluss zu nehmen, mit dem wir in Kontakt treten; ein Prozess, der in der umgekehrten Richtung natürlich ebenfalls stattfindet.

Selbst ganz alltägliche Begegnungen wirken auf unser Gehirn ein und setzen Gefühle frei, wünschenswerte und weniger wünschenswerte. Je stärker wir einer Person emotional verbunden sind, desto stärker ist die gegenseitige Einwirkung. Der intensivste Austausch findet mit jenen Menschen statt, mit denen wir über Jahre hinweg die meiste Zeit verbringen, besonders mit jenen, die uns wichtig sind.

Bei diesen neuronalen Kontakten tanzen die beiden Gehirne Tango, einen sehr gefühlsbetonten Tanz. Unsere sozialen Interaktionen wirken als Steuerungsmechanismus; wie ein zwischenmenschlicher Thermostat regulieren sie unsere Gehirnfunktionen und verleihen unseren Gefühlen Substanz und Gehalt.

Die dabei entstehenden Emotionen haben weitreichende Folgen, denn sie beeinflussen unseren ganzen Körper. Hormone werden ausgeschüttet, die unsere biologischen Systeme steuern, vom Herz bis zum Immunsystem. Momentan ist die Wissenschaft einem besonders interessanten Zusammenhang auf der Spur, dem Einfluss strapaziöser menschlicher Beziehungen auf die Wirkungsweise der Gene, die das Immunsystem regulieren.

Unsere Beziehungen beeinflussen in einem erstaunlichen Maße also nicht nur unsere Erfahrungen, sondern auch unsere Biologie. Durch die Verbindung zwischen unseren Gehirnen prägen uns unsere engsten Sozialbeziehungen in vielfacher Hinsicht, sei es, dass wir gemeinsam über einen Witz lachen oder dass im Körper Gene aktiviert werden, durch die unsere T-Zellen, die Soldaten des Immunsystems, im Kampf gegen angreifende Viren und Bakterien ein- und ausgeschaltet werden.

Daraus folgt, dass wir es mit einem zweischneidigen Schwert zu tun haben. Positive Beziehungen haben einen günstigen Einfluss auf unser Wohlbefinden, negative Beziehungen hingegen können wie ein langsam wirkendes Gift unseren Körper angreifen.

Fast alle größeren wissenschaftlichen Entdeckungen, auf die ich mich im folgenden beziehe, wurden nach dem Erscheinen meines Buchs Emotionale Intelligenz (1995) publik, und die Forschung schreitet immer schneller voran. Bei meiner Beschäftigung mit der emotionalen Intelligenz ging es mir um die Möglichkeiten, die wir als einzelne besitzen, um die Fähigkeit, mit unseren Gefühlen umzugehen, und um unser inneres Potential zur positiven Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen. Hier nun ist der Horizont über die Individualpsychologie hinaus erweitert. Es geht nicht mehr nur um die Fähigkeiten, die der einzelne besitzt, sondern um eine Psychologie, die zwei Personen in den Blick nimmt, um die Frage: Was geschieht, wenn wir miteinander in Verbindung treten?[3]

Ich möchte dieses Buch als Begleitband zu meiner Arbeit über emotionale Intelligenz verstanden wissen. Es geht hier um die gleichen Bereiche des menschlichen Lebens, nur werden sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, der uns ein erweitertes Verständnis unserer persönlichen Welt ermöglichen soll.[4] Die Aufmerksamkeit verschiebt sich auf jene scheinbar flüchtigen Situationen, die entstehen, wenn wir aufeinander wirken. Solche Augenblicke können tiefgreifende Folgen haben, wenn wir wahrnehmen, wie wir uns durch ihre Gesamtheit gegenseitig erschaffen.

In diesem Buch geht es um Fragen wie: Was macht Psychopathen so gefährlich manipulativ? Was können wir tun, damit unsere Kinder eine glücklichere Kindheit haben? Wie baut man in der Ehe eine stabile Beziehung auf? Können Beziehungen uns vor Krankheiten bewahren? Können Lehrer oder Vorgesetzte dazu beitragen, dass die Gehirne ihrer Schüler oder Mitarbeiter ihr Bestes geben? Wie können zerstrittene Gruppen zu einer friedlichen Form des Zusammenlebens finden? Was lässt sich aus alldem im Hinblick auf die Gesellschaft lernen, die wir erschaffen können – und was ist in unser aller Leben wirklich wichtig?

Sozialer Verfall

Während die Wissenschaft heute allmählich die zentrale Bedeutung produktiver Sozialbeziehungen entdeckt, gerät das Feld der zwischenmenschlichen Kontakte zunehmend unter Druck. Dieser soziale Verfall hat viele Gesichter:

Eine Erzieherin in einer texanischen Vorschule bittet ein sechsjähriges Mädchen, seine Spielsachen wegzulegen. Das Mädchen bekommt einen ausgewachsenen Wutanfall, es schreit und wirft seinen Stuhl um, dann kriecht es unter den Schreibtisch der Erzieherin und tritt so heftig darauf ein, dass die Schubladen herausfallen. Dieser Vorfall steht für eine Epidemie von Wutanfällen unter Kindern im Vorschulalter, die man im zur texanischen Stadt Fort Worth gehörigen Schulbezirk dokumentiert hat.[5] Festzustellen waren solche Anfälle nicht nur bei Kindern aus der Unterschicht, sondern auch bei Kindern aus der Mittelschicht. Manche Autoren erklären diese Zunahme der Gewalt mit ökonomischen Argumenten: Weil die Eltern länger arbeiten müssten, verbrächten die Kinder mehr Zeit im Hort oder seien allein, und wenn die Eltern endlich nach Hause kämen, seien diese unausgeglichen und reizbar. Andere verweisen darauf, dass bereits vierzig Prozent der amerikanischen Zweijährigen täglich mindestens drei Stunden vor dem Fernseher sitzen und in dieser Zeit nicht mit Menschen zusammen sind, die ihnen beibringen könnten, wie man besser miteinander umgeht. Tatsächlich sind Kinder später in der Schule um so unruhiger, je mehr sie fernsehen.[6]

In einer deutschen Stadt wird ein Motorradfahrer angefahren und liegt regungslos auf der Straße. Fußgänger gehen vorbei, und Autofahrer schauen aus dem Fenster, während sie an der Ampel stehen. Niemand entschließt sich zu helfen. Endlich, nach fünfzehn langen Minuten, kurbelt ein Autofahrer das Fenster herunter, fragt den Motorradfahrer, ob er verletzt sei, und bietet an, über sein Handy Hilfe herbeizurufen. Als diese Episode in dem Fernsehsender, dessen Team den Unfall vorgetäuscht hatte, ausgestrahlt wurde, gab es einen Skandal. Schließlich muss in Deutschland jeder, der den Führerschein macht, einen Erste-Hilfe-Kurs besuchen, um auf solche Situationen vorbereitet zu sein. Ein deutscher Notarzt kommentierte den Vorfall mit den Worten: »Die Leute gehen einfach weiter, wenn sie sehen, dass andere in Gefahr sind. Es scheint ihnen egal zu sein.«

Im Jahr 2003 war der Einpersonenhaushalt die am weitesten verbreitete Lebensform in den Vereinigten Staaten. Während sich früher die Familie am Abend zusammenfand, ist es heute für Eltern, Kinder und Großeltern zunehmend schwieriger, gemeinsam Zeit zu verbringen. Robert Putnams weithin gelobtes Buch Bowling Alone, eine gute Analyse des zerfallenden sozialen Gewebes in den USA, verweist auf den Niedergang des sogenannten Sozialkapitals in den letzten zwei Jahrzehnten. Ein Indikator für diesen gesellschaftlichen Faktor ist die Anzahl der öffentlichen Zusammenkünfte und der Mitgliedschaft in Vereinen und anderen Organisationen. Während in den siebziger Jahren zwei Drittel aller US-Amerikaner irgendwelchen Organisationen angehörten und regelmäßig an deren Veranstaltungen teilnahmen, ging dieser Anteil in den Neunzigern auf ein Drittel der Bevölkerung zurück. Diese Zahlen, meint Putnam, seien ein Beleg für den Verlust menschlicher Bindungen in der amerikanischen Gesellschaft.[7] Derweil haben sich schlagartig Gruppierungen eines neuen Typs verbreitet, von denen es in den fünfziger Jahren etwa achttausend gab, deren Zahl bis Ende der neunziger Jahre jedoch auf über zwanzigtausend angewachsen war.[8] Im Gegensatz zu den alten Vereinen, wo man sich persönlich traf und wo sich ein soziales Netz entwickelte, halten diese Organisationen die Menschen auf Distanz. Man wird per E-Mail Mitglied, und die Aktivität beschränkt sich im wesentlichen darauf, Geld zu schicken, statt zusammenzukommen.

Ein weiteres Beispiel sind die unbekannten Folgen der Art und Weise, wie die Menschen auf der ganzen Welt neuerdings auf reduzierte Weise miteinander in Verbindung treten – mit Hilfe der modernen Technik, die immer mehr Möglichkeiten der nominellen Kommunikation zur Verfügung stellt. Tatsächlich handelt es sich um Isolation. All diese Trends zeigen das allmähliche Verschwinden von Möglichkeiten an, miteinander in Kontakt zu treten. Diese technologische Seuche ist so heimtückisch, dass noch niemand über ihre sozialen und emotionalen Kosten nachgedacht hat.

Schleichende Vereinsamung

Rosie Garcia leitet eine der meistfrequentierten Bäckereien der Welt, die »Hot & Crusty Bakery« in New Yorks Grand Central Station. Angesichts der Unmenge an Pendlern, die an jedem Werktag den Bahnhof benutzen, wartet immer eine lange Schlange von Kunden darauf, bedient zu werden.

In letzter Zeit hat Rosie den Eindruck, dass immer mehr ihrer Kunden abwesend sind und einfach ins Leere schauen, wenn sie an der Reihe sind. Rosies freundliches »Bitte sehr?« bemerken sie gar nicht.

Dann sagt sie noch einmal: »Bitte sehr?« Wieder keine Reaktion.

Erst durch ein lautstarkes drittes »Bitte sehr!« gelingt es Rosie, zu ihren Kunden durchzudringen.[9]

Nicht, dass Rosies Kunden Probleme mit ihrem Gehör hätten; sie haben die Hörer ihres iPod im Ohr. Benommen lauschen sie ihrer persönlichen Hitparade und vergessen ganz, was um sie herum geschieht. Vor allem schotten sie sich von jedem Kontakt zu den Menschen, denen sie begegnen, ab.

Lange, bevor Walkman und iPod die Menschen auf der Straße isolierten und den Kontakt mit dem pulsierenden Leben blockierten, fand dieser Prozess mit der Erfindung des Autos seinen Anfang. Das Auto ist eine Methode, sich hinter Blech und Glas durch den öffentlichen Raum zu bewegen, während das Radio läuft. Die vorher üblichen Arten der Fortbewegung, sei es zu Fuß oder mit der Pferdekutsche, sorgten dafür, dass man leicht mit der Umgebung in Kontakt treten konnte.

Die Einmannzelle des Kopfhörers verstärkt die soziale Isolation weiter. Selbst wenn der Träger des Kopfhörers einem anderen Menschen direkt vor die Füße läuft, bieten die versiegelten Ohren einen passenden Vorwand, den anderen als Objekt zu behandeln, eher als Hindernis, um das man herumgehen muss, denn als Person, die man begrüßen oder zumindest wahrnehmen sollte. Während ein Leben als Fußgänger die Möglichkeit bietet, einen Menschen, den man trifft, zu grüßen oder ein Schwätzchen mit einem Bekannten zu halten, kann der Träger des iPod den anderen einfach ignorieren und pauschal durch ihn hindurchsehen.

Aus der Sicht des iPod-Trägers sieht das natürlich anders aus. Er hat Kontakt mit etwas – mit dem Interpreten, der Band oder dem Orchester, die er sich ins Ohr gesteckt hat. Sein Herz schlägt im Rhythmus dieser virtuellen anderen. Aber diese haben nichts zu tun mit den Menschen, die direkt in seiner Nähe stehen und deren Existenz der in seine Musik versunkene Hörer völlig vergisst. Je mehr die Technik die Menschen in eine virtuelle Realität entführt, desto mehr stumpfen sie gegenüber ihren wirklichen Mitmenschen ab. Der daraus entstehende soziale Autismus gehört zu einer Reihe unbeabsichtigter Nebenwirkungen, die das Vordringen der Technik in unser tägliches Leben begleiten.

Dank ständiger virtueller Verbindungen schleicht uns zudem selbst im Urlaub die Arbeit hinterher. Eine Umfrage unter amerikanischen Angestellten hat ergeben, dass vierunddreißig Prozent während ihres Urlaubs in Kontakt mit ihrer Firma bleiben, so dass sie mindestens genauso gestresst zurückkommen, wie sie losgefahren sind.[10] E-Mail und Mobiltelefon überwinden wichtige Schwellen, von denen früher die Privatsphäre und das Familienleben geschützt waren. Bei einem Ausflug mit den Kindern kann plötzlich das Handy klingeln, und selbst wenn Mutter und Vater zu Hause sind, können sie praktisch abwesend sein, weil sie Abend für Abend gewissenhaft ihre E-Mails durchsehen.

Natürlich merken die Kinder das nicht; sie beschäftigen sich gerade mit ihren eigenen Mails, spielen ein Internetgame oder sehen im Kinderzimmer fern. Eine französische Untersuchung, bei der das Verhalten von 2,5 Milliarden Fernsehzuschauern in zweiundsiebzig Ländern ausgewertet wurde, hat ergeben, dass die Menschheit im Jahr 2004 täglich durchschnittlich drei Stunden und neununddreißig Minuten vor dem Bildschirm hockte. Mit vier Stunden und fünfundzwanzig Minuten stand Japan an der Spitze, dicht gefolgt von den Vereinigten Staaten.[11]

Schon 1963, als sich das neue Medium allmählich verbreitete, hat der englische Dichter T. S. Eliot warnend bemerkt, das Fernsehen ermögliche »Millionen von Menschen, zur gleichen Zeit ein und denselben Witz zu hören und dabei dennoch einsam zu bleiben«.

Internet und E-Mail haben dieselbe Wirkung. Eine Studie, bei der knapp fünftausend US-Amerikaner befragt wurden, kam zu dem Ergebnis, dass für viele das Internet das Fernsehprogramm als Freizeitbeschäftigung ersetzt hat. Die Konsequenz: Jede Stunde, die vor dem Internet verbracht wurde, verringerte die unmittelbaren persönlichen Kontakte zu Freunden, Arbeitskollegen und der eigenen Familie um vierundzwanzig Minuten. Man bleibt sozusagen auf Armeslänge im Kontakt. Der Leiter der Studie, Norman Nie, Direktor des Stanford-Instituts für quantitative Gesellschaftsforschung, meint dazu: »Über das Internet kann man sich weder in den Arm nehmen noch sich einen Kuss geben.«[12]

Die Soziale Neurowissenschaft

In diesem Buch werden bahnbrechende Entdeckungen aus dem neuen Forschungsgebiet der Sozialen Neurowissenschaft vorgestellt, doch als ich mit den Recherchen begann, war mir die Existenz dieses Gebiets noch gar nicht bekannt. Aufmerksam wurde ich darauf durch hie und da auftauchende wissenschaftliche Aufsätze oder Zeitungsberichte, die alle auf ein besseres Verständnis der neuronalen Dynamik menschlicher Beziehungen verwiesen. Einige Beispiele:

Eine neu entdeckte Klasse von Neuronen, die Spindelzellen, feuern schneller als andere Zellen und beeinflussen unsere unbewussten sozialen Entscheidungen. Dieser Zelltyp kommt im menschlichen Gehirn weit häufiger vor als im Gehirn anderer Lebewesen.

Zellen eines anderen Typs, die Spiegelneuronen, erkennen die Bewegungen anderer Menschen und aktivieren ein sensomotorisches Programm, das bei uns dieselben Bewegungen und Gefühlsregungen auslöst.

Wenn eine als attraktiv empfundene Frau einem Mann direkt in die Augen schaut, produziert sein Gehirn die Wohlgefühl auslösende Substanz Dopamin, einen Neurotransmitter. Schaut die Frau woandershin, wird diese Substanz nicht ausgeschüttet.

Jeder dieser Befunde ist wie ein Schnappschuss, der die Wirkungsweise des »sozialen Gehirns« zeigt, jener neuronalen Verbindungen, die unsere sozialen Interaktionen auslösen. Für sich genommen, erzählt keiner dieser Befunde die

ganze Geschichte, aber wenn man sie in Summe betrachtet, werden die Umrisse einer bedeutenden neuen Disziplin sichtbar.

Erst lange nachdem ich begonnen hatte, mich mit diesen einzelnen Informationen zu beschäftigen, verstand ich allmählich das Muster, das sie miteinander verbindet. Auf den Namen des Forschungsfelds, »Soziale Neurowissenschaft« oder »Social Neuroscience«, stieß ich zufällig in einem Bericht über eine wissenschaftliche Konferenz, die 2003 in Schweden zu diesem Thema stattfand.

Auf der Suche nach den Ursprüngen des Begriffs stellte ich fest, dass er in den frühen neunziger Jahren zum ersten Mal auftaucht. Die Psychologen John Cacioppo und Gary Berntson waren damals einsame Propheten dieser neuen Wissenschaft.[13] Als ich vor kurzem mit Cacioppo sprach, sagte er über diese Zeit: »Unter den Neurowissenschaftlern herrschte damals große Skepsis, ob man irgend etwas außerhalb des Schädels überhaupt untersuchen könne. Die Neurowissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts hielt das Sozialverhalten für zu komplex, um es untersuchen zu können.«

»Heute«, meint Cacioppo, »verstehen wir allmählich, wie das Gehirn das Sozialverhalten beeinflusst und wie gleichzeitig die soziale Welt unser Gehirn und unsere Körperfunktionen prägt.« Cacioppo, der heute Direktor des Zentrums für Kognitive und Soziale Neurowissenschaft an der Universität von Chicago ist, hat eine grundlegende Wandlung erlebt, als Folge derer sein Forschungsgebiet zu einem der heißesten wissenschaftlichen Themen des einundzwanzigsten Jahrhunderts geworden ist.[14]

Die neue Disziplin hat bereits eine Reihe älterer wissenschaftlicher Fragen gelöst. So konnte Cacioppo bei seinen ersten Studien einen Zusammenhang zwischen quälenden menschlichen Beziehungen und dem Anstieg der Stresshormone im Körper herstellen. Dabei wird ein Spiegel erreicht, bei dem bestimmte Gene beschädigt werden, die an der Steuerung von virenbekämpfenden Zellen beteiligt sind. Bis zu dieser Entdeckung war der neuronale Mechanismus, durch den Beziehungsschwierigkeiten zu Folgen auf der biologischen Ebene führen, unbekannt; heute ist er ein Schwerpunkt der Sozialen Neurowissenschaft.

Charakteristisch für das neue Forschungsfeld ist die Zusammenarbeit von Psychologen und Neurowissenschaftlern bei der Verwendung der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Es handelt sich hier um ein bildgebendes Verfahren, das bisher in erster Linie für klinische Diagnosen eingesetzt wurde. Die fMRT verwendet starke Magnetfelder, um eine erstaunlich differenzierte Darstellung des Gehirns hervorzubringen; unter Fachleuten werden die Geräte daher auch einfach als »Magneten« bezeichnet. Die fMRT nutzt umfangreiche Computerrechenkapazitäten, um eine Art Videoaufnahme der Gehirntätigkeit zu erstellen, bei der bestimmte Teile des Gehirns aufleuchten, wenn der Proband einem bestimmten Stimulus ausgesetzt ist, wenn er also beispielsweise die Stimme eines alten Freundes hört. Solche Studien ermöglichen Antworten auf Fragen wie: Was passiert im Gehirn einer Person, die jemanden sieht, in den sie verliebt ist, die von Fanatismus erfasst wird oder die sich überlegt, wie sie ein Spiel gewinnen kann?

Unter dem sozialen Gehirn versteht man die Summe aller neuronalen Mechanismen, die unsere sozialen Interaktionen, unsere Gedanken und Gefühle bezüglich anderer Menschen und unsere Beziehungen unterfüttern. Am bemerkenswertesten ist die Tatsache, dass das soziale Gehirn das einzige biologische System in unserem Organismus ist, das uns andauernd an den Menschen ausrichtet, mit denen wir zusammen sind, und das zugleich von deren innerem Zustand beeinflusst wird.[15] Alle anderen biologischen Systeme, von den Lymphdrüsen bis zur Milz, regulieren ihre Aktivität hauptsächlich als Antwort auf Signale aus dem eigenen Körper.

Die Wirkungsweise des sozialen Gehirns ist einzigartig, da es auf die Welt als ganze anspricht. Immer wenn wir unmittelbaren Kontakt mit einem anderen Menschen haben (von Angesicht zu Angesicht, über die Sprache oder durch Hautkontakt), schalten sich unsere sozialen Gehirne zusammen.

Unsere Sozialbeziehungen spielen sogar eine Rolle beim Umbau unseres Gehirns. Im Rahmen der sogenannten Neuroplastizität verändern sich durch wiederholte Erfahrungen die Größe, Form und Anzahl der Neuronen im Gehirn und deren synaptische Verbindungen. Versetzen wir unser Gehirn wiederholt in denselben Zustand, können sich wichtige Beziehungen in den neuronalen Schaltkreisen einprägen. Wenn also eine Person, mit der wir jeden Tag über Jahre hinweg zusammen sind, uns dauernd verletzt und ärgert oder uns emotional aufbaut, dann kann das unser Gehirn verändern.

Diese Erkenntnisse verweisen darauf, dass unsere Beziehungen uns auf eine subtile, aber starke und dauerhafte Weise prägen. Für Menschen, die eher problematische Beziehungen haben, mag das unerfreulich sein. Zugleich aber ergeben sich im Verlauf des ganzen Lebens Ansatzpunkte für eine positive Veränderung auf der Basis persönlicher Verbindungen. Die Art und Weise, wie wir mit anderen in Beziehung treten, hat also eine unvorstellbare Bedeutung.

Damit sind wir bei der Frage angelangt, was es angesichts dieser neuen Erkenntnisse heißt, sich sozial intelligent durch die Welt zu bewegen.

Kluges Handeln

Der Begriff »soziale Intelligenz« stammt aus den zwanziger Jahren, der großen Zeit der frisch entwickelten Intelligenztests. Geprägt hat ihn der Psychologe Edward Thorndike, der ihn unter anderem definierte als »die Fähigkeit, Männer und Frauen zu verstehen und ihr Verhalten zu beeinflussen«.

Diese Fähigkeit benötigen wir alle, um ein erfolgreiches Leben zu führen, aber die Definition kann auch so verstanden werden, dass reines Manipulationsgeschick ein Ausdruck kommunikativer Begabung sein kann.[16] Noch heute unterscheiden manche Aufsätze über soziale Intelligenz nicht zwischen der menschlich unreifen Begabung des Betrügers und beispielsweise jener aufrichtigen Fürsorge, die gesunde Beziehungen bereichert.

Aus meiner Sicht sollte ein rein manipulatives Verhalten nicht im Rahmen der sozialen Intelligenz betrachtet werden, da es nur das für wertvoll hält, was der einen Person auf Kosten der anderen nutzt. Wir sollten soziale Intelligenz vielmehr als ein Verhalten verstehen, bei dem es um einen intelligenten Umgang sowohl mit wie in unseren Beziehungen geht.[17] Das erweitert den Fokus der sozialen Intelligenz von einer Perspektive, die nur eine Person in den Blick nimmt, auf eine Perspektive, die zwei Personen berücksichtigt. Es geht also nicht mehr um die Fähigkeiten, die ein einzelner hat, sondern um die Art und Weise, wie man sich in der Beziehung zu anderen entwickelt. Diese Betrachtungsweise lässt uns über das Individuum hinausblicken und begreifen, was tatsächlich geschieht, wenn Menschen miteinander umgehen. Dabei geht es nicht mehr nur um Eigennutz, sondern auch um das Interesse der anderen.

Diese erweiterte Definition der sozialen Intelligenz umfasst Fähigkeiten, die unsere persönlichen Beziehungen bereichern, Fähigkeiten wie Empathie und Fürsorge. In diesem Buch wende ich daher ein zweites, weiter gefasstes Prinzip an, das Thorndike für die Definition unserer sozialen Fähigkeiten vorgeschlagen hat: »… in Beziehungen klug zu handeln.«[18]

Die soziale Empfindsamkeit des Gehirns legt uns diese kluge Handlungsweise nahe, da nicht nur unsere Stimmung, sondern auch unsere körperliche Verfassung von den Menschen in unserem Leben geprägt wird. Umgekehrt sollten wir immer bedenken, wie wir die Empfindungen und den körperlichen Zustand anderer Menschen beeinflussen. Wie eine bestimmte Beziehung beschaffen ist, können wir daran sehen, welche konkrete Wirkung die beteiligten Personen in dieser Hinsicht aufeinander haben.

Die gegenseitige biologisch-somatische Beeinflussung von Menschen verweist auf eine neue Dimension der Idee eines guten Lebens: Wir sollten uns so verhalten, dass wir allen, mit denen wir in Beziehung treten, selbst auf dieser subtilen Ebene Gutes tun.

Beziehungen erhalten so eine neue Bedeutung, weshalb wir sie auf radikal neue Weise sehen sollten. Das ist keine Frage von vorübergehendem theoretischem Interesse; vielmehr geht es darum, zu überdenken, wie wir unser Leben leben wollen.

Bevor wir uns jedoch mit solch weitreichenden Folgerungen beschäftigen, wollen wir an den Anfang der Geschichte zurückkehren, zu der überraschenden Leichtigkeit, mit der Gehirne sich verbinden und dabei Gefühle verbreiten können wie einen Virus.

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Erster Teil

Ein Netzwerk sozialer Nervenbahnen

1

Die Ökonomie der Emotionen

Als ich eines Tages in Manhattan unterwegs zu einer Besprechung war, hatte ich mich verspätet und suchte nach einer Abkürzung. Deshalb betrat ich das Foyer eines Hochhauses und wollte es auf der anderen Seite wieder verlassen, da ich dort eine zweite Tür gesehen hatte.

Kaum hatte ich das Foyer betreten und wollte an der Reihe von Aufzügen vorbeigehen, als ein uniformierter Wachmann auf mich zukam, mit den Armen wedelte und mir zurief: »Hier können Sie nicht durchgehen!«

»Warum nicht?«, fragte ich verwirrt.

»Das ist Privateigentum! Privateigentum!«, rief er, sichtlich erregt.

Offensichtlich war ich unabsichtlich in eine nicht markierte Sicherheitszone eingedrungen. »Es wäre hilfreich«, schlug ich vor, um das Ganze vernünftig anzugehen, »wenn an der Tür ein Schild mit der Aufschrift Zutritt verboten hinge.«

Meine Bemerkung steigerte den Ärger des Mannes nur noch.

»Raus hier!«, schrie er. »Verschwinden Sie!«

Unverrichteter Dinge trat ich den Rückzug an, und der Ärger des Mannes lag mir noch über mehrere Straßenzüge hin im Magen.

Wenn jemand seine giftigen Gefühle über uns ausgießt – wenn er wütend wird, Drohungen ausstößt, Missfallen oder Verachtung äußert –, dann aktiviert er in uns neuronale Verbindungen, die dieselben negativen Emotionen hervorrufen. Sein Verhalten hat erhebliche neurologische Wirkungen, denn Gefühle sind ansteckend. Wir fangen uns starke Gefühle ein, wie wir uns einen Grippevirus einfangen, und so kann es zu einer Art Gefühlsgrippe kommen.

Jede Interaktion mit anderen hat einen emotionalen Unterton. Egal was wir tun, wir sorgen dabei dafür, dass es uns

beiden ein bisschen oder sehr viel bessergeht, oder auch ein bisschen schlechter – und vielleicht sogar viel schlechter, wie mir nach der geschilderten Begegnung. Über die momentane Situation hinaus kann die damit verbundene Stimmung uns noch lange verfolgen, wie ein emotionales Nachglühen oder das wütende Nachbeben, das ich erlebte.

Diese unsichtbaren Übertragungen verdichten sich zu einer Ökonomie der Gefühle, zur Summe der inneren Gewinne und Verluste, die wir im Umgang mit einer bestimmten Person, in einer Unterhaltung oder an einem bestimmten Tag empfinden. Am Abend zeigt uns die Bilanz, was es gefühlsmäßig für ein Tag war, ein »guter« oder ein »schlechter«.

In diese emotionale Ökonomie sind wir immer dann verstrickt, wenn es bei einer Begegnung zum Austausch von Gefühlen kommt, und das ist praktisch immer der Fall. Es gibt unzählige Varianten dieses zwischenmenschlichen Judo. Immer kommt es darauf an, wie wir die Stimmung unseres Gegenübers beeinflussen und umgekehrt. Löse ich bei jemandem ein Stirnrunzeln aus, so ist er beunruhigt; bringt mich jemand zum Lächeln, so fühle ich mich glücklich. Bei diesem unmerklichen Austausch wandern Gefühle von einer Person zur anderen, von außen nach innen, im Idealfall zum Besten aller Beteiligten.

Die negativen Effekte des emotionalen Ansteckungsprozesses erfahren wir, wenn wir uns innerlich gleichsam vergiften, weil wir einfach zur falschen Zeit mit der falschen Person zusammentreffen. Zum Beispiel war ich unabsichtlich zum Opfer der Wut eines Wachmanns geworden. Ähnlich wie beim Passivrauchen wirken die freigesetzten Gefühle, die einem vergifteten inneren Zustand entspringen, schädlich auf die zufällig Anwesenden.

Wenn wir in solchen Situationen mit dem Ärger eines anderen Menschen konfrontiert werden, prüft unser Gehirn automatisch, ob diese Signale eine Gefahr für uns bedeuten. Die daraus resultierende extreme Wachsamkeit wird im wesentlichen von der Amygdala (dem Mandelkern) gesteuert, einem mandelförmigen Bereich mitten im Gehirn, der die in Frage kommenden Reaktionen – Flucht, Angriff oder Erstarrung – auslöst.[19] Furcht ist das Gefühl, das die Amygdala am stärksten aktiviert.

Haben wir Angst, so aktiviert die Amygdala weitreichende Schaltkreise im gesamten Gehirn und konzentriert unsere Gedanken, unsere Aufmerksamkeit und unsere Wahrnehmung auf das, was das Gefühl in uns ausgelöst hat. Wir achten instinktiv aufmerksamer auf die Gesichter der Menschen um uns herum und suchen nach Lächeln oder finsteren Blicken, um besser einschätzen zu können, wie wir die Anzeichen der Gefahr oder die Absichten der anderen zu interpretieren haben.[20]

Durch die von der Amygdala angeregte Wachsamkeit nehmen wir emotional bedeutsame Hinweise im Verhalten unserer Umwelt deutlicher wahr. Das wiederum verstärkt die Wirkung der von uns wahrgenommenen Gefühle, was die »Ansteckung« durch sie stabilisiert. Deshalb sind wir in Momenten gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit anfälliger für die Gefühle der anderen.[21]

Allgemein gesagt, fungiert die Amygdala wie ein Radar des Gehirns, das unsere Aufmerksamkeit auf alles lenkt, was neu und verwirrend ist oder was es zu lernen gilt. Die Amygdala ist ein Frühwarnsystem, das alles, was geschieht, auf emotional wichtige Faktoren untersucht, besonders auf potentielle Bedrohungen. Dass die Amygdala eine Wachfunktion hat und dadurch beunruhigende Gefühle auslösen kann, ist in der Neurowissenschaft seit langem bekannt. Allerdings hat man erst vor relativ kurzer Zeit ihre soziale Rolle als Teil einer weitverzweigten Anordnung neuronaler Systeme erkannt.[22]

Der untere und obere Pfad der Ansteckung

Ein Mann, den die Ärzte »Patient X« nannten, hatte zwei Schlaganfälle erlitten, wodurch die Verbindung zwischen den Augen und den für das Sehen verantwortlichen Gehirnregionen im visuellen Kortex zerstört worden war. Zwar konnten seine Augen Signale aufnehmen, aber sein Gehirn konnte sie nicht entziffern, ja nicht einmal ihre Ankunft registrieren. Patient X war vollkommen erblindet; so sah es zumindest aus.

Bei Tests, bei denen man dem Patienten verschiedene geometrische Formen wie Kreise und Quadrate oder Bilder von männlichen und weiblichen Gesichtern vorlegte, hatte er keine Ahnung, was seine Augen da betrachteten. Als man ihm aber Bilder von glücklichen oder wütenden Gesichtern zeigte, war er plötzlich in der Lage, die zur Schau gestellten Emotionen mit einer Trefferquote zu erraten, die kein Zufall sein konnte. Wie war das möglich?

Während Patient X die Fotos erfolgreich gedeutet hatte, waren Aufnahmen seines Gehirns gemacht worden. Sie zeigten eine Alternative zu dem üblichen Weg der Reizleitung, der vom Auge zum Thalamus führt, wo alle Sinneseindrücke zuerst auftreffen, um dann zum visuellen Kortex weitergeleitet zu werden. Bei diesem zweiten Pfad läuft die Information vom Thalamus direkt zur Amygdala (sie besteht aus zwei Teilen, einem rechten und einem linken). Die Amygdala interpretiert die emotionale Bedeutung nonverbaler Mitteilungen, zum Beispiel eines finsteren Gesichtsausdrucks, einer plötzlichen Veränderung der Körperhaltung oder einer veränderten Tonlage. Dies geschieht in Bruchteilen von Sekunden, noch bevor wir wissen, was wir eigentlich sehen.

Zwar hat die Amygdala ein hochentwickeltes Sensorium für solche Informationen, aber sie ist nicht direkt mit dem Sprachzentrum verbunden; so gesehen ist die Amygdala im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Statt die Sprachzentren zu aktivieren, über die wir mit Worten unsere Gefühle ausdrücken können, erhalten wir Signale von Gehirnregionen, die entsprechende Empfindungen in unserem eigenen Körper hervorrufen.[23] Patient X konnte die Emotionen auf den Gesichtern also nicht »sehen«, sondern er fühlte sie; ein Zustand, den man als »affective blindsight« (»affektives Blindsehen«) bezeichnet.[24]

Im intakten Gehirn nutzt die Amygdala denselben Übertragungsweg, um die emotional bedeutsamen Aspekte aller Wahrnehmungen zu registrieren, zum Beispiel freudige Erregung im Tonfall, Anzeichen von Ärger um die Augen herum, eine niedergeschlagene Körperhaltung. Die Information wird unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Bewusstseins verarbeitet. Diese reflexhafte, unbewusste Wahrnehmung vermittelt uns das entsprechende Gefühl, indem es in uns die gleiche Empfindung hervorruft, eventuell aber auch eine passende Reaktion, zum Beispiel, wenn wir Zorn wahrnehmen. Es handelt sich also um einen Schlüsselmechanismus, über den man sich von anderen ein Gefühl »einfangen« kann.

Die Tatsache, dass wir bei anderen überhaupt ein Gefühl auslösen können – oder sie bei uns –, zeigt, wie wirksam der Mechanismus ist, über den sich Gefühle von einem Menschen auf den anderen ausbreiten.[25] Diese Ansteckung stellt die zentrale Transaktion in der Ökonomie der Gefühle dar, ein Geben und Nehmen von Empfindungen, das jede menschliche Begegnung begleitet, egal, worum es dabei an der Oberfläche geht.

Nehmen wir beispielsweise den Kassierer im Supermarkt, dessen freundliches Geplauder jeden Kunden ansteckt. Er bringt jeden zum Lachen, selbst die griesgrämigsten Gestalten. Menschen wie er sind das emotionale Äquivalent von Zeitgebern, jenen natürlichen Systemen, die unseren biologischen Rhythmen ihre eigene Geschwindigkeit vorgeben.

Solche Ansteckungsprozesse können mehrere Menschen zugleich erfassen. Das wird deutlich sichtbar, wenn etwa das Publikum im Kino bei einer tragischen Szene feuchte Augen bekommt. Auf subtilere Weise bemerken wir es, wenn bei einer Besprechung plötzlich ein etwas schärferer Ton herrscht. Die sichtbaren Folgen dieser Ansteckungsprozesse nehmen wir eventuell wahr, aber wie sich die Gefühle genau ausbreiten, wird meist übersehen.

Emotionale Ansteckung ist ein Beispiel für die Wirkungsweise eines Systems in unserem Gehirn, das man als »unteren Pfad« bezeichnen kann. Gemeint sind jene Schaltkreise, die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle ohne große Anstrengung automatisch und mit großer Geschwindigkeit arbeiten. Diese umfangreichen neuronalen Netze steuern offenbar einen Großteil unseres Verhaltens, besonders unser Gefühlsleben. Wenn wir auf ein attraktives Gesicht aufmerksam werden oder aus einer Bemerkung Sarkasmus heraushören, haben wir das dem unteren Pfad zu verdanken.

Der »obere Pfad« hingegen bedient sich anderer neuronaler Systeme, die methodisch, Schritt für Schritt und mit gezielter Absicht vorgehen. Wir sind uns dieses Pfads bewusst und haben dank seiner wenigstens eine gewisse Kontrolle über unser Innenleben, die uns der untere Pfad verweigert. Wenn wir überlegen, wie wir die attraktive Person ansprechen könnten, die uns gerade aufgefallen ist, oder eine Antwort auf eine sarkastische Bemerkung überlegen, bewegen wir uns auf dem oberen Pfad.

Der untere Pfad ist gleichsam »feucht«, er tropft von Emotionen, während der höhere Pfad »trocken« und rational ist.[26] Auf dem unteren Pfad reisen die Emotionen im Rohzustand, auf dem oberen geht es uns um die Frage: Was geschieht gerade? Auf dem unteren Pfad entsteht spontanes Mitfühlen, auf dem oberen Pfad denken wir über unsere Empfindungen nach. Normalerweise gehen beide Pfade nahtlos ineinander über. Unser Sozialleben wird von ihrem Zusammenspiel gesteuert.[27]

Eine Empfindung kann stillschweigend von einer Person zur anderen wandern, ohne dass es den Beteiligten bewusst wird, denn die neuronalen Schaltkreise für diese Ansteckung befinden sich auf dem unteren Pfad. Vereinfacht könnte man sagen, dass sich auf dem unteren Pfad jene Verbindungen finden, die an die Amygdala und ähnliche automatischen Schaltstellen anschließen, während der obere Pfad mit dem präfrontalen Kortex, dem Ausführungszentrum des Gehirns, verbunden ist. Hier sitzt unsere Fähigkeit für absichtliches Handeln, hier können wir darüber nachdenken, was uns gerade widerfährt.[28]

Die beiden Pfade registrieren Informationen mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit. Der untere Pfad ist schneller, dafür jedoch nicht so präzise, der obere ist langsamer, verschafft uns jedoch einen genaueren Eindruck des Geschehens.[29] In den Worten des amerikanischen Philosophen John Dewey: Im einen Fall geht es »ruck, zuck, erst wird gehandelt, dann nachgedacht«, im anderen »bedächtig und überlegt«.[30]

Die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen den beiden Systemen, wobei das emotionalere wesentlich schneller reagiert als das rationalere, führt zu spontanen Entscheidungen, die wir später möglicherweise bedauern oder rechtfertigen müssen. Während der untere Pfad bereits reagiert hat, muss der obere sehen, was er daraus macht. Von dem Science-Fiction-Autor Robert Heinlein stammt denn auch die trockene Bemerkung: »Der Mensch ist kein rationales Tier, sondern ein rationalisierendes.«

Stimmungsauslöser

Als ich auf einer Reise zum Telefon griff, war ich angenehm überrascht von dem freundlichen Tonfall der Ansage, die mir mitteilte: »Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben.«

So unglaublich es klingen mag, die Wärme dieser vom Tonband kommenden Stimme vermittelte mir ein gutes Gefühl. Offenkundig lag das an meinem jahrelangen Ärger über die Computerstimme, die von meiner heimischen Telefongesellschaft verwendet wird. Dort waren die Techniker, die das

Ganze programmieren, wohl der Meinung, ein schneidender, tadelnder Tonfall sei genau das Richtige, vielleicht als Bestrafung fürs Verwählen.

Ich hatte eine richtige Abneigung gegen den bösartigen Ton dieser Bandansage entwickelt, weil ich mir beim Hören immer einen pingeligen Besserwisser vorstellte. Jedesmal, wenn ich diese Stimme hörte, verdarb sie mir die Laune, und sei es nur für einige Sekunden.

Die emotionale Wirkung solcher subtilen Signale ist manchmal überraschend. Das zeigt ein geschickt angelegtes Experiment, bei dem Studenten der Universität Würzburg getestet wurden.[31] Man spielte ihnen die Tonbandaufnahme eines äußerst trockenen akademischen Texts vor, eine Passage aus der Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes, verfasst von dem schottischen Philosophen David Hume. Die Aufnahme existierte in zwei Fassungen, die mit etwas fröhlicherer und etwas traurigerer Stimme vorgetragen wurden. Allerdings waren die Unterschiede so gering, dass sie nicht auffielen, wenn man nicht direkt darauf hingewiesen wurde.

Trotz des fast unhörbaren Unterschieds zeigte sich, dass die Studenten nach dem Anhören der Aufnahme minimal besser oder schlechter aufgelegt waren. Dabei merkten sie selbst nicht, dass sich ihre Stimmung verändert hatte; auch hatten sie keine Ahnung, woher diese Veränderung kam.

Der Stimmungsumschwung stellte sich selbst dann ein, wenn man den Versuchspersonen eine Aufgabe zuwies, die sie ablenken sollte: Sie mussten beim Anhören Metallstifte in ein Holzbrett mit Löchern stecken. Offenbar blockierte diese Ablenkung den oberen Pfad und beeinflusste das intellektuelle Verständnis des philosophischen Texts. Ansonsten wurde die Reaktion nicht im geringsten verändert; die Empfindungen waren weiterhin genauso ansteckend. Der untere Pfad war also immer noch weit offen.

Einer der Unterschiede zwischen diffusen Stimmungen und der stärkeren Empfindung von Gefühlen besteht nach der geläufigen Meinung der Psychologie darin, dass wir die Ursache von Stimmungen nicht fassen können. Während wir normalerweise wissen, was ein konkretes Gefühl ausgelöst hat, ändern sich unsere Stimmungen oft, ohne dass wir wissen, warum. Die Ergebnisse des Würzburger Experiments legen allerdings den Schluss nahe, dass die Welt um uns herum voller Stimmungsauslöser ist, die wir nicht bewusst wahrnehmen, von der seichten Musik im Aufzug bis hin zum säuerlichen Ton in der Stimme des anderen.

Nehmen wir beispielsweise den Gesichtsausdruck, den wir bei anderen Menschen wahrnehmen. Schwedische Forscher haben herausgefunden, dass bereits der Anblick einer glücklichen Miene eine flüchtige Reaktion jener Gesichtsmuskeln des Beobachters hervorruft, die den Mund zu einem Lächeln verziehen.[32] Immer wenn wir das Foto einer Person sehen, deren Gesicht ein starkes Gefühl ausdrückt, sei es Trauer, Abscheu oder Freude, beginnen unsere Gesichtsmuskeln automatisch, diesen Ausdruck spiegelbildlich nachzuahmen.

Diese reflexartige Imitation macht uns anfällig für subtile emotionale Einflüsse aus unserer Umwelt und schafft so eine weitere Brücke für die Verbindung zwischen den Gehirnen mehrerer Menschen. Besonders empfindsame Personen empfangen solche Signale leichter als die meisten anderen; wer weniger empfindsam ist, marschiert womöglich unbeeindruckt durch die giftigste Begegnung. In beiden Fällen findet der Austausch normalerweise statt, ohne wahrgenommen zu werden.

Wir imitieren selbst dann die Freude eines fröhlichen Gesichts und verziehen unsere eigenen Gesichtsmuskeln zu einem leichten Lächeln, wenn uns gar nicht aufgefallen ist, dass wir das Lächeln gesehen haben. Unsere Reaktion ist sogar möglicherweise mit dem bloßen Auge gar nicht sichtbar, aber wenn man bei einem wissenschaftlichen Experiment die Bewegung der Gesichtsmuskeln überwacht, kann man solche emotionalen Spiegelungen klar nachverfolgen.[33] Es ist, als würde unser Gesicht sich darauf vorbereiten, den vollständigen Gefühlsausdruck hervorzubringen.

Diese Mimikry hat körperliche Konsequenzen, da unsere Miene in unserem Inneren genau die Gefühle auslöst, die wir ausdrücken. Wir können daher jedes beliebige Gefühl in uns hervorrufen, indem wir absichtlich die Gesichtsmuskeln bewegen. Zum Beispiel braucht man nur einen Bleistift zwischen die Zähne zu nehmen, und schon zwingt man sein Gesicht zum Lächeln, wodurch ein leicht positives Gefühl ausgelöst wird.

Schon Edgar Allan Poe hat diesen Zusammenhang intuitiv erfasst. Er schrieb: »Wenn ich herausfinden möchte, wie gut oder böse jemand ist oder was er gerade denkt, versuche ich, möglichst genauso dreinzuschauen wie mein Gegenüber; und dann warte ich, welche Gefühle und Gedanken, die mit dieser Miene im Einklang stehen, in meinem eigenen Verstand oder Herzen aufsteigen.«[34]

Wie man sich Gefühle einfängt

Der Schauplatz: Paris im Jahre 1895. Ein paar Mutige besuchen eine Vorführung der Brüder Lumière, der Pioniere der Fotografie. Zum ersten Mal in der Geschichte zeigen die Brüder der Öffentlichkeit ein »bewegtes Bild«, einen Kurzfilm. Man sieht bei völliger Stille einen Zug, der in den Bahnhof einfährt und sich auf die Position der Kamera zubewegt.

Die Reaktion des Publikums: Mit entsetzten Schreien verkriechen die Zuschauer sich unter ihre Sitze.

Nie zuvor hatten die Menschen gesehen, dass sich Bilder bewegten. Deshalb konnte das Publikum gar nicht anders reagieren; es hielt das erschreckende Geschehen auf der Leinwand für real. Möglicherweise war dies der magischste Augenblick der Filmgeschichte, weil die Zuschauer nicht wussten, dass es sich nur um eine Illusion handelte. Für sie – und für den Wahrnehmungsapparat in ihrem Gehirn – entsprachen die Bilder auf der Leinwand der Wirklichkeit.

Ein Filmkritiker hat einmal bemerkt, noch heute mache »der vorherrschende Eindruck, dass alles auf der Leinwand real sei, einen Großteil der urtümlichen Kraft dieser Kunstform aus«.[35] Das Gefühl der Realität nimmt den Kinobesucher weiterhin gefangen, weil sein Gehirn auf die Illusion des Films mit den gleichen neuronalen Schaltkreisen reagiert wie auf das wirkliche Leben. Selbst die Gefühle auf der Leinwand sind also ansteckend.

Ein israelisches Forscherteam hat einige der neuronalen Schaltkreise identifiziert, die bei dieser von einem Film auf die Zuschauer übertragenen Ansteckung eine Rolle spielen. Versuchspersonen, die in einem Magnetresonanztomographen lagen, wurden Ausschnitte aus dem Italo-Western Zwei glorreiche Halunken gezeigt. Vermutlich ist das der einzige Beitrag zur neurowissenschaftlichen Forschung, den Clint Eastwood je geleistet hat. Am Ende kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass die Gehirne der Zuschauer von dem Film wie von einem Marionettenspieler manipuliert wurden.[36]

Genau wie bei dem in Panik geratenen Publikum der Brüder Lumière verhielten sich die Gehirne der Versuchspersonen, als würde ihnen selbst widerfahren, was auf der Leinwand geschah. Offenbar unterschied das Gehirn also zunächst nicht sehr stark zwischen virtueller und tatsächlicher Realität. Wenn die Kamera ein Gesicht heranholte und in Großaufnahme zeigte, wurden die für die Erkennung von Gesichtern zuständigen Gehirnregionen aktiviert. Wurde hingegen ein Gebäude, eine Landschaft oder eine detaillierte Handbewegung gezeigt, so traten jeweils andere Regionen des visuellen Kortex in Aktion. Bei den aufregendsten Szenen – Schusswechseln, Explosionen oder unerwarteten Wendungen – kamen die Zentren für Emotionen ins Spiel. Kurz, ein Film, den wir sehen, nimmt unser ganzes Gehirn in Beschlag.

Das Publikum, das gemeinsam im Kino sitzt, wird auch gemeinsam zum Opfer dieses neuronalen Marionettenspiels. Was im Gehirn eines Zuschauers geschieht, spielt sich auch im Gehirn aller anderen ab, im Gleichschritt und während des gesamten Films. Die Handlung auf der Leinwand gibt den Zuschauern eine Art innere Choreographie für das Ballett ihrer Gefühle vor.

In den Sozialwissenschaften geht man von der Maxime aus, dass eine Situation dann real ist, wenn sie reale Konsequenzen hat. Wenn das Gehirn auf imaginäre Szenen genauso reagiert wie auf reale, dann hat das biologische Konsequenzen. Der untere Pfad folgt den emotionalen Vorgaben des Geschehens.

Die einzige bedeutende Ausnahme bei diesem Vorgang stellt der obere Pfad mit den Regionen des präfrontalen Kortex dar, wo die sogenannten Exekutivfunktionen sitzen. Sie ermöglichen ein kritisches Denken, zum Beispiel die Einsicht, dass es sich »nur« um einen Film handelt, und sie sind von der obigen Koordination ausgenommen. Daher rennen wir heute auch nicht mehr panisch davon, wenn auf der Leinwand ein Zug auf uns zufährt, obwohl wir dabei durchaus Angst empfinden.

Je herausragender oder bedeutsamer ein Ereignis ist, desto mehr Aufmerksamkeit widmet ihm das Gehirn.[37] Zwei Faktoren verstärken die Reaktion des Gehirns auf virtuelle Realitäten, wie sie im Film präsentiert werden, und zwar die »Lautstärke« des Wahrnehmungsinhalts und emotional aufgeladene Momente wie Schreien oder Weinen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Filmen häufig Chaos und Gewalt gezeigt wird, denn solche Szenen sind es, die das Gehirn zum Kochen bringen. Hinzu kommt die schiere Größe der Leinwand, durch die die dargestellten Personen oft riesenhaft aussehen, was allein schon eine gewisse sensorische Lautstärke erzeugt.[38]

Alles in allem sind Stimmungen jedoch so ansteckend, dass wir den Duft eines Gefühls selbst dann unterschwellig wahrnehmen, wenn wir die Andeutung eines Lächelns oder Stirnrunzelns auffangen oder wenn er uns aus einem trockenen philosophischen Text entgegenweht.

Ein Radar für Unaufrichtigkeit

Zwei Frauen, die sich nicht kennen, schauen sich einen ergreifenden Dokumentarfilm über die schrecklichen Folgen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki an. Beide sind von dem, was sie sehen, zutiefst bewegt; eine Mischung aus Abscheu, Zorn und Traurigkeit steigt in ihnen auf.

Als die beiden jedoch anfangen, über ihre Empfindungen zu reden, geschieht etwas Seltsames. Die eine äußert sich offen über ihre Gefühle, während die andere diese unterdrückt und Gleichgültigkeit vortäuscht. Ihrer Gesprächspartnerin erscheint es seltsam, dass sie keinerlei emotionale Reaktion zeigt und bestenfalls leicht abwesend wirkt.

Genau das sollte bei dieser Unterhaltung auch geschehen, denn die beiden Frauen nahmen an einem Experiment an der Stanford University teil, bei dem es um die sozialen Folgen von unterdrückten Gefühlen ging. Eine der Teilnehmerinnen hatte man instruiert, ihre Gefühle zu unterdrücken.[39] Verständlicherweise hatte die emotional offene Teilnehmerin das Gefühl, von ihrer Gesprächspartnerin irgendwie abgeschnitten zu sein. Das ging so weit, dass sie spürte, mit so jemandem nie befreundet sein zu wollen.

Die Probandin, die ihre Gefühle unterdrückte, war angespannt und fühlte sich bei dem Gespräch unwohl, zerstreut und geistesabwesend. Bezeichnenderweise stieg ihr Blutdruck im Verlauf der Unterhaltung stetig an. Derart verstörende Gefühle zu unterdrücken hat seinen physiologischen Preis, der sich hier in erhöhtem Blutdruck äußerte.

Nun kommt das Überraschende an dem Experiment: Auch bei der Teilnehmerin, die offen und ehrlich über ihre Empfindungen sprach, stieg der Blutdruck genauso an wie bei ihrer Partnerin. Deren Anspannung war also nicht nur spürbar, sondern auch ansteckend.

Aufrichtigkeit ist sozusagen die als Standard voreingestellte Reaktion des Gehirns. Unsere neuronale Verdrahtung überträgt jede noch so geringe Stimmungsschwankung auf die Muskeln unseres Gesichts und macht damit unsere Gefühle sofort sichtbar. Dieser Gefühlsausdruck geschieht automatisch und unbewusst, weshalb seine Unterdrückung eine bewusste Anstrengung erfordert. Wollen wir unsere Gefühle verschleiern, uns also etwa Furcht oder Ärger nicht anmerken lassen, so müssen wir uns anstrengen und sind trotzdem nur selten ganz erfolgreich.[40]

Eine Bekannte hat mir folgende Geschichte erzählt: Als sie vorübergehend ihre Wohnung untervermieten wollte, habe sie schon beim ersten Gespräch mit dem Mieter »irgendwie gewusst«, dass diesem Menschen nicht zu trauen sei. Als sie zur vereinbarten Zeit wieder in ihre Wohnung einziehen wollte, weigerte er sich auch tatsächlich auszuziehen. Nun sah sie sich mit einem Wust von gesetzlichen Bestimmungen konfrontiert, die eigentlich dem Mieterschutz hätten dienen sollen; und während ein Anwalt ihr den Zugang zu ihrer eigenen Wohnung erkämpfen musste, saß sie auf der Straße.

Sie hatte den Mann nur einmal gesehen, als er kam, um die Wohnung zu besichtigen. Im nachhinein lamentierte sie nun: »Irgendwie hatte der etwas an sich, was mir gesagt hat, dass es Probleme geben würde.«

Dieses »Etwas«, das offensichtlich da war, verweist auf die Aktivität des oberen und unteren Pfads und auf eine spezifische neuronale Struktur, die als Frühwarnsystem für Unaufrichtigkeit fungiert. Diese Misstrauen erzeugende Struktur unterscheidet sich von den Zentren, die für Empathie und Nähe zuständig sind. Die Tatsache, dass ein solches Zentrum existiert, verweist auf die Bedeutung, die der Aufdeckung von Doppelzüngigkeit im zwischenmenschlichen Bereich zukommt. Aus evolutionstheoretischer Sicht nimmt man an, dass die Fähigkeit, Verdacht zu schöpfen, für das Überleben unserer Gattung ebenso wichtig war wie unsere Fähigkeit, Vertrauen zu entwickeln und zu kooperieren.

Dieses neuronale Radar wurde bei einer Studie entdeckt, bei der Gehirnaufnahmen der Teilnehmer angefertigt wurden, während diese einem Schauspieler zusahen, der eine tragische Geschichte erzählte. Je nachdem, mit welchem Gesichtsausdruck die Geschichte vorgetragen wurde, ergab sich eine sehr unterschiedliche Aktivität der betreffenden neuronalen Regionen. Wies das Gesicht des Schauspielers die angemessene Traurigkeit auf, so reagierte die Amygdala der Zuhörer, und die für Traurigkeit zuständigen neuronalen Schaltkreise wurden aktiviert. Lächelte der Vortragende jedoch trotz der Tragik der Geschichte, wodurch sich ein emotionaler Widerspruch ergab, so wurde im Gehirn der Zuhörer ein Bereich aktiv, der auf die Entdeckung von Bedrohungen und widersprüchlichen Informationen programmiert ist. Dadurch empfanden die Zuhörer eine spontane Abneigung gegen den Erzähler.[41]

Die Amygdala überprüft ebenso automatisch wie unweigerlich alle Menschen, denen wir begegnen, auf ihre Vertrauenswürdigkeit. Dabei geht es um Fragen wie: Ist es sicher, auf diesen Menschen zuzugehen? Ist er gefährlich? Kann ich auf ihn zählen oder nicht? Menschen mit starken neurologischen Schäden an der Amygdala sind nicht in der Lage, solche Einschätzungen bezüglich der Vertrauenswürdigkeit anderer zu treffen. Zeigt man ihnen das Foto einer Person, die gesunde Menschen in hohem Maße für nicht vertrauenswürdig halten, so schätzen sie diese nicht anders ein als Personen, denen die Kontrollgruppe blindlings vertrauen würde.[42]

Auch unser Frühwarnsystem für Vertrauenswürdigkeit hat also zwei Pfade, einen oberen und einen unteren.[43] Der obere Pfad wird beschritten, wenn wir bewusst und absichtlich ein Urteil darüber fällen, ob jemand vertrauenswürdig ist oder nicht. Auf jeden Fall läuft jedoch außerhalb des Bewusstseins eine von der Amygdala gesteuerte Bewertung ab, egal ob wir uns bewusst mit der Fragestellung beschäftigen oder nicht. Der untere Pfad sorgt kontinuierlich für unsere Sicherheit.

Der Absturz eines Casanovas

Giovanni Vigliotto war ein erstaunlich erfolgreicher Don Juan, sein Charme brachte ihm eine erotische Eroberung nach der anderen ein. Genaugenommen nicht eine nach der anderen, denn er war mit mehreren Frauen zur gleichen Zeit verheiratet.

Niemand weiß genau, wie oft Giovanni Vigliotto wirklich geheiratet hat. Möglicherweise hat er in seiner romantischen Karriere über einhundertmal den Bund der Ehe geschlossen – und um eine Karriere scheint es sich tatsächlich gehandelt zu haben. Vigliotto lebte davon, wohlhabende Frauen zu heiraten.

Seine Karriere nahm ein jähes Ende, als Patricia Gardner, eine seiner Eroberungen, ihn wegen Polygamie vor Gericht brachte.

Während der Gerichtsverhandlung wurde ein Stück weit deutlich, warum so viele Frauen auf Vigliotto hereingefallen waren. Gardner gab zu, sie sei dem charmanten Polygamisten nicht zuletzt deswegen auf den Leim gegangen, weil er, wie sie es formulierte, »einen aufrichtigen Charakter« zur Schau gestellt habe. Er habe ihr immer direkt in die Augen geschaut und gelächelt, selbst wenn er sie im selben Moment belog.[44]

Wie Ms. Gardner lesen auch Experten für Emotionsforschung viel aus dem Gesichtsausdruck einer Person heraus. Üblicherweise, so erfahren wir von ihnen, halten wir den Blick gesenkt, wenn wir traurig sind, schauen weg, wenn uns etwas abstößt, und richten den Blick entweder nach unten oder schauen weg, wenn wir Schuld oder Scham empfinden. Die meisten Menschen registrieren diese Signale intuitiv, weshalb uns der Volksmund rät, darauf zu achten, ob uns jemand »in die Augen schaut«, um daran zu erkennen, ob wir belogen werden oder nicht.

Wie die meisten Betrüger wusste Vigliotto das offenbar nur zu gut und besaß die Fähigkeit, einen scheinbar aufrichtigen Blickkontakt mit den Opfern seiner romantischen Betrügereien herzustellen. Dabei war er auf etwas aus, aber vermutlich ging es ihm weniger darum, zu lügen, als darum, eine Beziehung herzustellen. Der Blick mit der unausgesprochenen Aufforderung »Schau mir in die Augen und sag mir, ob ich lüge!« sagt in Wirklichkeit wenig darüber aus, ob uns jemand die Wahrheit sagt oder nicht.

Das behauptet jedenfalls Paul Ekman, ein führender Experte in der Methode, Lügen auf der Basis von Verhaltensweisen zu identifizieren. Bei der jahrelangen Beschäftigung mit der Frage, wie wir Emotionen mit Hilfe der Gesichtsmuskeln ausdrücken, stieß Ekman auf Methoden, wie wir Lügen erkennen können. Heute kann sein in der Beobachtung feinster Gesichtsregungen geübtes Auge die Unterschiede zwischen dem maskenhaften Ausdruck gespielter Gefühle und den wahren Empfindungen bestimmen, die unwillkürlich zum Vorschein kommen.[45]

Ein Akt des Lügens erfordert bewusstes und absichtliches Handeln auf dem oberen Pfad, wo die Exekutivfunktionen ausgeführt werden, die unser Reden und Handeln koordinieren. Wie Ekman zeigen konnte, achten Lügner weniger auf ihren Gesichtsausdruck als auf ihre Wortwahl, das heißt, sie zensieren, was sie sagen.

Die Wahrheit zu unterdrücken braucht Zeit und erfordert geistige Anstrengung. Wenn man auf eine Frage mit einer Lüge antwortet, reagiert man etwa zwei Zehntelsekunden langsamer, als wenn man die Wahrheit sagt. Diese Pause verweist auf die notwendige Anstrengung bei der Formulierung einer gut vorbereiteten Lüge und auf die dafür erforderliche Kontrolle emotionaler und physiologischer Prozesse, aus denen die Wahrheit ersichtlich werden könnte.[46]

Erfolgreiches Lügen erfordert Konzentration. Die dafür erforderlichen Kapazitäten werden über den oberen Pfad bereitgestellt. Allerdings ist die verfügbare mentale Aufmerksamkeit begrenzt, und wenn man lügen will, braucht man eine Extraportion davon. Durch diese zusätzliche Zuweisung neuronaler Ressourcen bleibt im präfrontalen Bereich weniger Energie für andere Aufgaben übrig, zum Beispiel für das Unterbinden unwillkürlicher Mimik, die eine Lüge verraten könnte.

Schon Worte allein können eine Lüge verraten. In den meisten Fällen erhalten wir die Hinweise darauf, dass uns jemand hinters Licht führen will, aus der Diskrepanz zwischen den Worten und dem nonverbalen Verhalten unseres Gegenübers, zum Beispiel, wenn uns jemand versichert, es gehe ihm großartig, und wir trotzdem in seiner Stimme ein ängstliches Zittern wahrnehmen.

»Es gibt keinen absolut sicheren Lügendetektor«, sagte mir Ekman im Gespräch, »aber man kann bestimmte Brennpunkte entdecken.« Gemeint sind Punkte, an denen die Emotionen einer Person nicht mit den Worten übereinstimmen. Diese Anzeichen für eine zusätzliche geistige Anstrengung müssen allerdings genau analysiert werden, denn sie können verschiedene Ursachen haben, von einfacher Nervosität bis hin zu eiskaltem Lügen.

Die Gesichtsmuskeln werden über den unteren Pfad kontrolliert, die Entscheidung, zu lügen, durch den oberen. Bei einer emotional geprägten Lüge widerspricht der Gesichtsausdruck dem, was mit Worten gesagt wird. Der obere Pfad verdeckt, der untere enthüllt.

Über die Schaltungen des unteren Pfads operieren viele verschiedene Verbindungswege, die unsere Gehirne zusammenschalten. Mit Hilfe dieser Pfade umschiffen wir die Klippen unseres Beziehungslebens, finden heraus, wem wir trauen können und wem nicht, und stecken unsere Umwelt mit unserer guten Laune an.

Liebe, Macht und Empathie

Beim Austausch von Emotionen zwischen Menschen spielt Macht eine Rolle. Wenn sich zum Beispiel bei Paaren ein Partner stärker zurücknimmt und auf den anderen zubewegt, dann ist dies in aller Regel der Partner, der über weniger Macht verfügt.[47] Das Machtverhältnis bei Paaren zu bestimmen ist eine komplizierte Angelegenheit. Einen ungefähren Eindruck kann man jedoch im Bereich praktischer Fragen gewinnen. Dabei geht es darum, welcher der beiden Partner einen größeren Einfluss auf die Befindlichkeit des anderen hat, und wer bei gemeinsamen Entscheidungen, etwa in finanziellen Dingen oder Aspekten des täglichen Lebens – soll man auf eine Party gehen oder nicht? –, mehr zu sagen hat.

Wer von zwei Partnern in welchem Bereich mehr zu sagen hat, wird meist stillschweigend ausgehandelt. Eventuell ist der eine für die Finanzen zuständig, der andere für das Gesellschaftsleben. Im emotionalen Bereich ist es allerdings der über weniger Macht verfügende Partner, der sich stärker anpasst, um eine gemeinsame Gefühlslage herzustellen.

Solche Anpassungen lassen sich leichter erfassen, wenn einer der beiden Partner sich absichtlich emotional neutral verhält, wie es etwa Psychotherapeuten tun. Seit Freud weiß man in der Psychotherapie, dass der Körper des Therapeuten die Empfindungen des Patienten widerspiegelt. Wenn ein Patient bei der Erinnerung an ein schmerzliches Erlebnis in Tränen ausbricht, spürt der Therapeut ebenfalls Tränen in sich aufsteigen; wenn eine traumatische Erinnerung Angst auslöst, machen sich auch beim Therapeuten Angstgefühle breit.

Freud hat darauf hingewiesen, dass der Psychoanalytiker durch die Beobachtung des eigenen Körpers ein Fenster zum Gefühlsleben seines Patienten öffnen kann. Fast jeder kann Emotionen wahrnehmen, die offen ausgedrückt werden, aber gute Therapeuten gehen einen Schritt weiter und fangen die emotionalen Untertöne ihrer Patienten auf, selbst wenn diese die eigenen Gefühle noch von ihrem Bewusstsein fernhalten.[48]

Es dauerte fast ein Jahrhundert, bis man in der Psychologie eine zuverlässige Methode erfunden hat, um die von Freud entdeckten physiologischen Veränderungen zu untersuchen, die auch bei einer gewöhnlichen Unterhaltung zweier Menschen zutage treten.[49] Der Durchbruch kam mit neuen statistischen Verfahren und leistungsfähigen Computern, die es ermöglichen, die immensen Datenmengen zu analysieren, die bei einer Interaktion von Bedeutung sind, zum Beispiel die Herzfrequenz.

Die betreffenden Studien ergaben unter anderem, dass beim Streit eines Paares die körperlichen Störungen des einen vom Körper des anderen imitiert werden. Während der Konflikt eskaliert, treiben die beiden sich gegenseitig in einen immer stärkeren Zustand von Wut, Schmerz und Traurigkeit hinein; ein wissenschaftliches Ergebnis, das wohl niemanden wirklich überraschen wird.

Interessanter ist ein anderer Versuch dieser Reihe. Man fertigte Videoaufzeichnungen von streitenden Paaren an und spielte sie anschließend Probanden vor, die keinerlei Beziehung zu den Beteiligten hatten. Ihre Aufgabe bestand darin, zu raten, was die zwei Streitenden während der Auseinandersetzung jeweils empfanden.[50] Während die Betrachter das taten, folgte ihr eigener physiologischer Zustand dem der Personen, die sie beobachteten.

Je stärker der Körper des Beobachters die beobachtete Person imitierte, desto genauer war die Einschätzung des Gefühls, das die beobachtete Person empfand. Besonders bei negativen Gefühlen wie Zorn trat dies deutlich zutage. Empathie – die Fähigkeit, die Gefühle eines anderen Menschen zu erspüren – ist offenbar ebensosehr eine physiologische wie eine mentale Fähigkeit, die auf einer Identifikation mit dem inneren Zustand des anderen beruht. Dieser biologische Gleichschritt findet immer statt, wenn Menschen empathisch aufeinander reagieren, indem der mitfühlende Partner sich subtil an den physiologischen Zustand des anderen anpasst.

Bei der genannten Untersuchung waren Menschen, die mit einem sehr starken Mienenspiel reagierten, auch am besten in der Lage, die Gefühle der beobachteten Personen einzuschätzen. Daraus lässt sich folgendes allgemeine Prinzip ableiten:

Je ähnlicher der physiologische Zustand zweier Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt ist, desto leichter können sie die Gefühle des anderen spüren.