Spannende Geschichten und Märchen für Erwachsene und Kinder - Heide Kupfer - E-Book

Spannende Geschichten und Märchen für Erwachsene und Kinder E-Book

Heide Kupfer

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Beschreibung

Eine Reihe von spannenden Geschichten, modernen und zauberhaften Märchen wartet darauf, entdeckt zu werden! Bekommt man wirklich eckige Augen, wenn man nur vor dem Bildschirm sitzt? Bei Kurt passiert das tatsächlich, als er immer länger PC und TV verwendet. Lässt sich das nun auch wieder rückgängig machen? Auf dem Gestüt Morgenstern ändert sich einiges, als plötzlich eine junge Frau eingestellt wird. Sie weiß nicht nur hervorragend mit den Pferden umzugehen, sondern auch mit der Buchhaltung. Außerdem stellt sie die Herzen der Angestellten auf den Kopf. Wie ist der Name der hübschen Königstochter? Wenn das nicht bald jemand herausfindet, droht dem Reich großes Unheil. Doch immer mehr tapfere Helden scheitern an diesem Vorhaben und werden zu Stein …

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EPUB
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Seitenzahl: 1135

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0047-9

ISBN e-book: 978-3-7116-0048-6

Lektorat: Dominique Schmidt

Umschlagabbildungen: Elena Schweitzer, Hafiza Samsuddin | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Die Inselprinzessin

In einem kleinen Dorf in Österreich am Fuß des Wilden Kaisers lebt Sonja Mertens mit ihren Eltern Greta und Jens. Die Mutter arbeitet als Verkäuferin im Blumenladen der Gärtnerei Sölder und der Vater ist im Sägewerk Bindler als Vorarbeiter beschäftigt. Die Eltern wünschten sich von ganzem Herzen, dass Sonja das Gymnasium in Kufstein besucht und dann studiert. Sie sollte es einmal nicht so schwer haben wie ihre Eltern! Sie sollte nicht jeden Euro zweimal umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgibt. Aber ihre schulischen Leistungen ließen leider nicht zu, dass sich der Wunsch von Mutter Greta und Vater Jens erfüllt. Dabei wäre es für Sonja ein Leichtes gewesen, den Wechsel zum Gymnasium zu schaffen, aber sie wollte diesen Wechsel nicht und wenn ihre Noten richtig gut gewesen wären, hätten ihre Eltern kein Verständnis dafür gehabt, warum Sonja sich weigert, in das Gymnasium zu gehen, also ließ sie in der 4. und 5. Klasse die Schule so richtig schleifen. Danach sind ihre schulischen Leistungen zur Verwunderung ihrer Eltern und der Lehrerin schnell wieder bestens geworden. Aus eigenem Entschluss hat sie dann nach der 8. Klasse den Übertritt in die Realschule gewagt und hat nun noch 1 Schuljahr bis zu ihrem Abschluss, der Mittleren Reife. Dann wird sie 18 Jahre alt sein und kann ihre beruflichen Wünschen auch ohne das Einverständnis ihrer Eltern realisieren.

In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich überwiegend mit Sport. Sie will sich zur Rettungsschwimmerin ausbilden lassen und überlegt, einen Tauchlehrgang zu absolvieren und den Tauchschein zu erwerben. Hier im Dorf ist es ihr zu eng, deshalb plant Sonja, spätestens mit 18 Jahren an den Aachensee zu ziehen. Dort könnte sie ihre Pläne auch umsetzen. Aber sie hat noch keine Ahnung, wie sie das ihren Eltern klarmachen kann.

Irgendetwas zieht sie mit unheimlicher Gewalt ans Wasser. Sie liebt auch die heimischen Berge, in denen sie lebt. Wenn sie auf einem Gipfel steht und den Blick schweifen lässt, dann ist sie glücklich. Sie sieht und empfindet ihre Heimat aus tiefster Seele und voller Glück. Die Wunderwelt der Berge, die sich ihr in jeder Blume, jedem Tier draußen zeigt, macht sie froh. Die Mentalität der Menschen hier, ihre gegenseitige Hilfsbereitschaft möchte Sonja nicht missen. Und trotz allem ist da doch die Sehnsucht nach Wasser, sich im und auf dem Wasser bewegen zu können! Und am Aachensee müsste sie ja auf keines von beiden verzichten: Da wäre der große See, der eingebettet ist in die Bergriesen, und es wäre ja auch gar nicht so weit entfernt von zuhause. Das alles wird aber erst spruchreif, wenn sie in einem Jahr die Schule erfolgreich abgeschlossen hat. Sie wird eine Aussprache über ihre Pläne eben noch ein Jahr vor sich herschieben. Es hätte keinen Zweck, wenn sie ihre Eltern schon jetzt mit ihren Wünschen und Vorhaben konfrontiert! Dann würden sie wahrscheinlich nur ein ganzes Jahr versuchen ihr das alles auszureden. Sie wird also weiterhin im Inn schwimmen und mit ihrer Taucherbrille mit Schnorchel im Fluss tauchen. Noch ein Jahr!!! Sonja packt ihre Badesachen zusammen und geht die paar Schritte hinunter zu dem Fluss, der zu dieser Jahreszeit viel Wasser hat und sich recht reißend gebärdet. Den Badeanzug hat sie schon an und im Nu ist sie im schnell fließenden Inn und muss alle Kraft zusammennehmen, um nicht abgetrieben zu werden. Aber gerade das macht ihr so viel Freude: das Kräftemessen mit dem Fluss!

Um 18 Uhr haben die Eltern Feierabend und ein paar Minuten später ist Greta zu Hause. Der Vater hat einen etwas längeren Heimweg. Aber bis 18.30 Uhr findet auch er sich daheim ein. Und Sonja richtet es immer so ein, dass sie etwa gleichzeitig mit den Eltern zu Hause ist. „Was gibt es Neues?“ fragt die Mutter und Sonja fällt ein, dass der Postbote ein Telegramm gebracht hat. „Und was steht in dem Telegramm?“ erkundigt sich Greta. „Keine Ahnung! Es ist an Papa gerichtet. Da werde ich mich hüten, es zu öffnen!“ antwortet die Tochter. Die Mutter nimmt das Telegramm vom Tisch und öffnet es. „Vater ist verstorben. Die Beisetzung findet am Donnerstag um 15 Uhr statt. Das Schiff fährt nur um 8.30 Uhr. Holger.“ Gerade als Mutter fertig mit dem Lesen ist, kommt Jens. „Was Wichtiges?“ fragt er. „Dein Vater ist verstorben. Wir sollen am Donnerstag um 15 Uhr zur Beerdigung kommen“ antwortet seine Frau und reicht ihm das Schreiben. „30 Jahre kein Wort! Und jetzt das da. Was machen wir?“ murmelt Jens Mertens leise vor sich hin. „Wer ist Holger und wieso müssen wir mit einem Schiff fahren?“ fragt Sonja. Ganz in Gedanken sagt der Vater zu seiner Tochter: „Holger ist mein Bruder und sie wohnen auf einer Insel in der Nordsee. „Fahren wir?“ fragt Sonja. „Sicher“ sagt die Mutter leise. „Jetzt konntest du dich mit deinem Vater nicht einmal mehr aussprechen, Jens. Aber auf seinem letzten Weg musst du ihn schon begleiten. Da kannst du ja wenigstens in Gedanken mit ihm deinen Frieden machen. Und mit Holger musst du auch Klartext reden. Es ist wahrlich an der Zeit!“ „Sicher, du hast ja recht. Aber …“ „Kein aber, Jens. Du sprichst dich mit deinem Bruder aus. Was daraus wird, das werden wir dann schon sehen!“ Greta möchte endlich den Unfrieden mit der Familie ihres Mannes beseitigt haben. „Um was ist es denn eigentlich gegangen? Es muss ja etwas Größeres gewesen sein, wenn das schon 30 Jahre dauert!“ Vater Jens schaut seine Tochter an. „Ja. Es ist um etwas Größeres gegangen! Wir lebten auf einer Hallig, das ist eine Insel, weit draußen in der See. Dort ist es sehr einsam. Auf einer Hallig leben zumeist 4 – 5 Familien, je nachdem, wie groß die Insel ist. Unsere Insel haben wir allein bewohnt. Das war nicht leicht! Alles musste unsere Familie allein stemmen. Mutter und Gudrun, das war Holgers Frau, haben den großen Gemüsegarten bewirtschaftet, denn wir mussten uns ja möglichst mit allem selbst versorgen, was wir zum Leben gebraucht haben. Sie haben die Ernte verarbeitet, Haus und Hof in Ordnung gehalten und sich um das Vieh gekümmert. Vater, Holger und ich waren die Fischer und die Bauern. Von der Saat bis zur Ernte der Feldfrüchte arbeiteten wir auf den Feldern. Wir mussten außerdem die Dämme in Ordnung und die Gebäude wetterfest halten. Holger war der Große, 14 Jahre älter als ich. Aber von mir wurde die gleiche Arbeit verlangt. Oft konnte ich aber nicht mithalten. Mir fehlte die Kraft zu Vielem und ich war einfach noch zu jung. Dann hieß es immer: Der Holger macht das auch! Eines Tages kündigte sich ein heftiger Sturm an. Ich war gerade 19 Jahre geworden. Vater schickte mich allein auf den Damm. Ich habe bis dahin noch nie am Damm mitgearbeitet. Er hatte den Stall und die Scheune wetterfest zu machen. Holger schichtete Sandsäcke um das Haus auf. Dann war der Sturm da! Aber es war kein einfacher Sturm, es war ein Orkan. Ich war noch immer auf dem Damm! Nach Hause konnte ich bei diesem Wetter nicht, also bin ich auf der Dammkrone geblieben und habe mich mit Sandsäcken beschwert. Es wäre sonst möglich gewesen, dass der stürmische Wind mich vom Damm geblasen hätte – vielleicht in die See! Möglich wäre das gewesen! Aber es ist gut gegangen! Ich habe den Orkan überlebt. Aber der Damm ist gebrochen! An einer Stelle wurde er unterspült und dort ist er eingebrochen. Das Wasser der Nordsee konnte unkontrolliert in unsere tieferliegende Insel eindringen. Es hat die Felder zerstört, die Scheune geflutet, ebenso den Stall und das Haus. 3 Tiere haben wir verloren. Als ich dann, nachdem der Orkan nachgelassen hatte und nur noch Sturm war, nach Hause kam, verprügelten mich Vater und Holger und wenn Mutter nicht dazwischengegangen wäre, hätten sie mich wahrscheinlich totgeschlagen. Gudrun hat die Hallig nach diesem Sturm verlassen und ist nie wieder gekommen. Mein Vater und mein Bruder gaben mir die Schuld an dem ganzen Unglück. – Als ich wieder laufen konnte, habe ich die Hallig verlassen. Ich habe Mutter gesagt, dass ich das Boot auf der Insel Juist, das ist die nächstgelegene größere Insel, vertäuen und dass ich nicht zurückkommen würde. – Ja. So ist das gewesen vor – 30 Jahren.“ Jens hält noch immer das Telegramm in der Hand. Jetzt lässt er es einfach fallen. Sonja hebt es auf und legt es auf den Tisch. „Jetzt verstehe ich, dass du nie ans Meer gewollt hast! Aber auch, dass du nie über deine Familie gesprochen hast! Wie konnte dein Vater dir, einem Jugendlichen, eine solche Verantwortung aufhalsen und dann dir alles als Schuld aufbürden.“„Sonja, das Leben auf einer Hallig ist sehr einsam. Das kann schon auch einmal ungerecht machen. Besser ist es, wenn mehrere Familien auf so einer Insel wohnen. Dann verteilen sich die Aufgaben und die Pflichten. Dann hat man auch die Möglichkeit mit anderen zu sprechen.“„Lebt dein Bruder noch auf dieser Hallig?“ will Sonja wissen, aber die Frage kann ihr Vater nicht beantworten. Er weiß es nicht. „Wir nehmen jedenfalls das Schiff, das die größere Insel vor unserer Hallig anfährt. Übermorgen, am Dienstag, fahren wir. Dann sind wir auf alle Fälle rechtzeitig auf der Insel und damit auch auf der Hallig. Morgen müssen wir Urlaub einreichen und du, Sonja, lässt dir auch freigeben für den Rest der Woche.“

Solange Jens seiner Tochter erklärt, was vor 30 Jahren auf der Mertens-Hallig vorgefallen ist, richtet Greta das Abendbrot her. Schweigend setzen sich Sonja, Greta und Jens an den Tisch und schweigend verzehren sie die belegten Brote. Sonja zieht sich nach dem Essen in ihr Zimmer zurück. Sie muss die Geschichte ihres Vaters erst einmal sacken lassen. Ihr ist unbegreiflich, wie ein Vater seinem 19-jährigen Sohn allein mit der Sicherung eines so wichtigen Dammes eine so große Verantwortung aufbürden kann, und ihm dann auch noch die alleinige Schuld auflädt für das Unglück, das die Familie getroffen hat. Wie unwichtig erscheinen ihr plötzlich die eigenen Pläne für ihre Zukunft, wenn sie einen Vergleich zieht mit der Aufgabe, der sich ihr Vater hatte stellen müssen. – Aber irgendwann schläft sie doch ein.

Am nächsten Morgen erklärt Sonja in der Schule ihrer Klassenlehrerin, dass sie für den Rest der Woche um Freistellung bitten muss, weil sie an der Beisetzung ihres Großvaters auf dessen Hallig teilnehmen will. Die Lehrerin gewährt die Befreiung vom Unterricht und trägt den Grund dafür in das Klassenbuch ein. Der Tag vergeht nur schleichend und am Abend packt das Ehepaar Mertens seine Koffer und Sonja legt die benötigten Sachen in ihre Reisetasche. Um 8 Uhr am nächsten Morgen fahren sie mit ihrem VW los und rechnen damit, dass sie Norddeich-Mole zwischen 16 und 17 Uhr erreichen werden. Dort wollen sie ihr Auto auf einem bewachten Parkplatz abstellen und eine Nacht im Hotel schlafen. Am Donnerstag früh um 8.30 Uhr fährt dann die Fähre und bringt sie auf die Insel Norderney. Vermutlich wird Holger sie dort erwarten und mit seinem Boot auf die Mertens-Hallig fahren.

Die Reise geht ohne besondere Vorkommnisse vonstatten und sie verbringen den Abend und die Nacht in einem einfachen Hotel in Norddeich-Mole. Dann sind es nur ein paar Schritte bis zur Fähre, die pünktlich in See sticht und 2 Stunden später verlassen Sonja, Greta und Jens das Schiff auf Norderney und hoffen, dass sie abgeholt werden. Und richtig: Ein etwa 60-jähriger Mann steht an dem Steg, an dem die Fähre aus Norddeich-Mole eingelaufen ist. Jens und Holger sehen sich in die Augen und nicken sich zu. Eine andere Begrüßung findet nicht statt. Die Familie folgt Holger wort- und grußlos. Er bringt sie zu einem Kutter und fordert sie auf einzusteigen. Der Motor wird gestartet und das Boot setzt sich zügig in Bewegung. Aber er fährt nicht in die Richtung, in der die Hallig der Mertens liegt, sondern er fährt zur Insel Juist. Holger erklärt kurz, dass der Vater die Hallig verlassen hat und sie auf die Juist gezogen sind. Sie haben 2 Pferdegespanne und 2 Planwagen gekauft von dem Geld, dass die Hallig noch abgeworfen hat. Seitdem verdienen sie ihren Lebensunterhalt, indem sie Planwagenfahrten anbieten oder Dienstfahrten mit den Gespannen erledigen. Zusätzlich haben sie noch eine Genehmigung zur Küstenfischerei.

Am Hafen von Juist vertäut Holger seinen Kutter und fordert die Familie seines Bruders auf zu einem Planwagen-Gespann zu gehen, das auf einer kleinen Koppel am Fuß des Dammes wartet. Damit fährt er an das Ende der Stadt Juist und biegt ab in den Hof einer kleinen Kate. „Wir sind da. Hier wohnen wir-ich.“ Die Tür ist nicht abgeschlossen. Er lässt die Familie seines Bruders eintreten und zeigt ihnen einen kleinen Raum, in dem 2 Betten und ein Sofa stehen. Sonst gibt es noch einen Tisch, 4 Stühle und einen selbstgebauten Schrank. Schnell verlässt Holger die Wohnung und geht in den Hof, um die Pferde auszuschirren und auf die kleine eingezäunte Weide zu bringen. Jens schaut die beiden Frauen an und sagt leise: „Gut scheint es ihnen nicht gerade zu gehen. Wenn ich mit ihm Klartext reden will, kann ich das auch jetzt machen. Dann wissen wir wenigstens alle, wie wir dran sind.“ Sonja und Greta nicken. Ihre Mine ist ziemlich bedrückt.

Jens geht über den Hof hinüber in den Stall und trifft dort auf seinen Bruder, der wie verloren am Boden kauert. „Holger, ich denke wir sollten reden!“ beginnt Jens. Holger schaut seinen Bruder von unten herauf an. „Willst du das wirklich?“ fragt er. Worauf Jens antwortet: „Ich denke, 30 Jahre sind genug!“ „Sind wirklich genug“ sagt Holger und nickt. „Habt ihr die Hallig wiederaufgebaut? Was ist aus deiner Frau geworden? Ist sie zurückgekommen?“ „Es war zwecklos, die Hallig wieder instand zu setzen. Womit auch? Wir hatten kein Baumaterial und Mut und Kraft hatten wir auch nicht mehr. Immer wenn Vater an dich gedacht hat, hat er wieder gesagt: ‚Was haben wir getan! Was haben wir getan‘! Du konntest ja überhaupt nichts dafür! Keiner konnte was dafür! So ist das eben an der Nordsee. Es wird nicht umsonst gesagt: Nordsee gleich Mordsee! Es war schließlich der Orkan, der alles zerstört hatte. Wir mussten froh sein, dass du noch am Leben warst. Und wir haben in blinder Wut und Verzweiflung nichts Besseres gewusst, als auf dich einzuschlagen. Wäre Mutter nicht dazwischengegangen, ich bin sicher, wir hätten dich totgeschlagen! Als wir endlich wieder klar denken konnten und nachdem wir alle Schäden unter die Lupe genommen hatten, packten wir unser Hab und Gut in den Kutter und fuhren auf die Juist. Wir waren nicht willkommen! Wer möchte auch solche Hungerleider wie uns in seiner Nähe haben. Der Bürgermeister hat uns hier diese Kate zugewiesen und uns klargemacht, dass wir uns selbst versorgen müssen. Von ihm hätten wir nichts zu erwarten. Vater hat gefragt, ob wir Planwagenfahrten anbieten und ob wir weiterhin an der Küste fischen dürfen. Weil wir ja irgendetwas tun mussten, um unser Leben zu fristen und da wir nicht auf Kosten der Anderen leben sollten, hat er uns das erlaubt. Nachdem wir alles verkauft hatten, was wir von unserer Insel mitgebracht hatten, konnten wir einen Planwagen und 2 Kaltblut-Pferde kaufen. Und dann ist Mutter verstorben. Jene Nacht und ihre Folgen haben sie zerbrochen! Vor 6 Jahren hatten wir so viel zurückgelegt, dass wir noch ein Paar Pferde und noch einen Planwagen erwerben konnten. Von da an ging es langsam bergauf. Wir haben ein Räucherhaus gebaut und verkaufen unseren Fischfang als Räucherware an Touristen. Besonders wertvolle Fische nehmen uns auch die hiesigen Hotels zu anständigen Preisen ab. Was jetzt werden soll, nachdem Vater tot ist, weiß ich nicht! Ich kann nur einen Wagen fahren oder ich kann fischen. Ich muss jetzt erst einmal sehen, ob ich so überhaupt überleben kann. Nein. Gudrun ist nicht wiedergekommen. Nun weißt du, wie es mit uns weitergegangen ist. Wir haben bitter bezahlt dafür, was wir dir angetan haben. Ich wollte dich so oft um Verzeihung bitten und Vater auch. Aber wir haben uns zu sehr geschämt für das, was wir getan haben. Du warst schuldlos an all dem Unglück, das uns heimgesucht hat. Wirst du mir und Vater irgendwann einmal verzeihen können? Wirst du irgendwann wieder mein Bruder sein?“ Die Verzweiflung steht deutlich in Holgers Blick. Jens streckt ihm seine Hand entgegen und sagt: „Genug ist genug! Du hast schon zu lange unter deinem Fehler gelitten. Und Vater auch! Ihm kann ich die Hand nicht mehr reichen, aber ich kann ihm meine Verzeihung an seinem Grab versichern! Ich trage euch nichts mehr nach. Versuchen wir gemeinsam, dass es auch jetzt noch aufwärts gehen kann. Und nun sollten wir wohl zu den anderen gehen und uns in Schale werfen, um Vater die letzte Ehre zu geben.“ Jens legt seinen Arm auf die Schulter seines zutiefst gebeugten Bruders. Lächelnd sieht es Greta und aufmunternd sagt sie zu ihrem Schwager: „Jetzt beginnt eine neue Zeit. Ihr Brüder seid wieder Brüder!“ Sonja kann sich nicht so schnell an den Gedanken gewöhnen, dass ihr Vater die damalige Ungerechtigkeit so einfach wegstecken kann. Sie weiß nicht, dass es ihm keinesfalls so leichtgefallen ist, seinem Bruder die Hand zu reichen. Aber, wie er schon zu Holger sagte: Genug ist genug!

Sie sind allein mit dem Pfarrer und dem toten Vater auf dem Friedhof. Und der Geistliche macht die Zeremonie auch sehr kurz. Mit wenigen halbherzigen Worten erteilt er seinen Segen, wünscht der Familie Beileid und verabschiedet sich sofort. Am Grab seines Vaters wiederholt Jens die Worte: „Genug ist genug! Ich will, dass du Frieden finden kannst. Ich verzeihe dir das Unrecht, das du mir angetan hast. Gehe deinen Weg in Frieden. Die Hand reiche ich dir, wenn wir uns wiedersehen!“ Greta legt die mitgebrachten Blumen an das Grab und auch sie sagt: „Geh deinen Weg in Frieden!“ Sonja wendet sich schweigend ab. Jens führt seine Familie und den Bruder in ein Restaurant und wünscht allen einen guten Appetit. Für die 3 Tage, die die Familie noch auf der Insel verbringen wird, bucht der Familienvater Zimmer in dem Hotel, das zu dem Restaurant gehört. Und seinen Bruder bittet er mit ihnen gemeinsam für die wenigen Tage in diesem Hotel zu wohnen. Überrascht nimmt Holger die Einladung an.

Am Nachmittag machen alle gemeinsam einen Spaziergang zum Nordseestrand. Sie laufen den gepflasterten Weg zum Kamm der Düne hinauf und lassen den Strandhafer, mit dem alle Dünen hier bewachsen sind, zart durch ihre Finger gleiten. Auf der Rückseite fällt die Düne hinab zum Strand, wo sich der breite Sandstrand anschließt, der schließlich an der Nordsee endet. Die Urlauber ziehen Schuhe und Strümpfe aus und laufen den Rand des Meeres entlang. Jens erzählt seinem Bruder, wie es ihm in den vergangenen 30 Jahren ergangen ist, von seiner Arbeit im Sägewerk, von Gretas Tätigkeit im Blumenladen und von dem verflossenen Traum, dass die Tochter einmal studieren würde. Und mit jedem Wort, das gesprochen wird, kommen sich die Brüder wieder näher. Jens genießt die salzige Seeluft, den freien Blick bis zum Horizont, den Sand unter den Füßen, die rauen Rufe der Möwen und den stetig wehenden Wind. Hatte er das alles vergessen? Oder wollte er sich nicht daran erinnern, weil es ihm auch immer jene Nacht, den Orkan und seine Folgen vor 30 Jahren vor Augen führen würde?

Sonja hat die Hose hochgekrempelt und läuft in die Nordsee hinein, bis das Wasser über ihre Knie reicht. Es stört sie nicht, dass die Wellen sie vollspritzen. Aber ein Gedanke setzt sich in ihrem Kopf fest: Wäre es nicht möglich, hier zu leben? Hier zu arbeiten, am Strand? Sie könnte hier als Rettungsschwimmerin arbeiten, Tauchkurse anbieten, Lehrgänge zum Surfen halten. Man müsste sich gründlich informieren! Aber sie hat nur 2 Tage Zeit. Vielleicht kann sie die Familie dazu bewegen, hier Urlaub zu machen in den Ferien. Jetzt, wo ihr Vater sich mit seinem Bruder versöhnt hat. Das würde doch auch der Zusammenführung dienen. Darüber muss sie unbedingt mit den Eltern reden! Ihr Vater scheint sich ja gerade mit der Nordsee hier anzufreunden, so glücklich wie er aussieht. Das ist auch Greta schon aufgefallen. Jens lässt sich in den warmen Sand sinken und Frau und Bruder machen es ihm nach. Sonja läuft zum Kiosk und holt 4 Becher mit Eis und gibt jedem eine Portion. Nach einer Weile, das Eis ist verspeist, erkundigt sich Jens bei seinem Bruder, wie es hier an der Küste mit der Möglichkeit steht, einen Arbeitsplatz zu finden. Sonja ist sofort hellhörig. Sollte Vater etwa … – Sie traut sich nicht, den Gedanken weiterzuspinnen, aber das wäre ja die Lösung, wenn sie hierher umsiedeln würden! Und Mutti? Ob sie auch mitziehen würde?

Holger erklärt seinem Bruder, dass es hier auf der Insel natürlich keine Holzwirtschaft gibt. Die Arbeitsmöglichkeiten liegen überwiegend im Dienstleistungssektor, z. B. im Hotel- und Restaurantbetrieb, Droschken-Fahrten, der Fischerei, Jobs am Strand oder auf dem Bau, denn auf der Insel wird ständig gebaut. Für Frauen bietet sich vor allem eine Beschäftigung im Hotel oder Restaurant an. Natürlich gibt es auch Blumenläden auf Juist. Mit einem halben Ohr hört Greta dem Gespräch der beiden Männer zu, beteiligt sich aber nicht daran. Dafür geht ihr Blick häufig zu ihrer Tochter. Sonja scheint die Unterhaltung sehr zu interessieren. Die Mutter rückt ein bisschen näher zu ihrer Tochter und fragt sie rundheraus: „Was meinst du zu einem Wechsel von Österreichs Bergen hierher an die Nordseeküste, Sonja?“ „Also Mami. Heute ist wohl der Tag, an dem es darum geht, Farbe zu bekennen! Ich wollte nicht studieren, weil ich Sport treiben will. Ich habe schon in Österreich den Plan gefasst, dass ich nach der Schule meinen Rettungsschwimmer machen will und auf alle Fälle noch meinen Tauchschein. Ich wollte das am Aachensee machen. Hier wäre es natürlich noch viel besser! Und sowohl Rettungsschwimmer als auch Tauch- und Surf-Lehrer werden hier gebraucht. Ich bin sofort mit einem Umzug hierher einverstanden. Ich hoffe ganz fest, dass Paps und Onkel Holger zusammenarbeiten und wir hierherziehen. Was denkst du denn?“ Gretas Gesichtsausdruck ist skeptisch. „Gut, Blumengeschäfte gibt es überall, sonst würde ich bestimmt auch noch etwas Anderes finden. Aber die Norddeutschen sind ein Völkchen für sich! Mit denen wird man nicht so schnell warm. Dein Vater tut sich da sicher leichter: Er ist hier geboren und hat seine Jugend hier verbracht. Dass er auf einer Hallig groß geworden ist, spricht wohl auch für ihn, denn es ist ein alter Hut, dass man dort hart arbeiten muss, wenn man überleben will. Und dass er in Österreich als Vorarbeiter in einem großen Sägewerk beschäftigt ist, macht ihn für diese Gegend bestimmt nicht weniger anziehend. Und Blut scheint er ja schon geleckt zu haben. Seine Augen haben noch nie so klar gestrahlt. Was soll’s! Es ist seine Heimat!“ „Und könntest du dich dazu durchringen, mit uns hierher zu ziehen?“ bohrt Sonja noch einmal nach. „Ich denke schon“, entgegnet Greta. „Hm, ich denke schon! Da machen wir uns einmal langsam mit dem Gedanken vertraut!“ Alle 4 schauen hinaus auf die Nordsee, auf das beständige Wogen der Wellen. Zurück im Hotel, als die Familie gemütlich beim Abendessen zusammensitzt, wagt Jens einen Vorstoß: „Wie gefällt es euch denn hier?“ Sonja platzt heraus: „Es ist toll hier! Am liebsten würde ich für immer hierbleiben!!!“ „Und du, Greta?“ fragt Jens leise. „Doch, Jens, mir gefällt es hier auch. Wenn du wieder hier an deiner Nordsee leben willst, mache ich keine Schwierigkeiten. Ich bin dabei. Zwar nicht mit fliegenden Fahnen, wie deine Tochter, aber ich bin dabei!“ „Also, Holger, ich denke, dass du wieder einen Partner hast. Wir werden zu Hause in Ruhe alles regeln und dann, sagen wir in 2 Monaten, werden wir hier einen neuen Lebensabschnitt wagen! Du kümmerst dich bitte in der Zwischenzeit um eine gemütliche Wohnung für 2 Familien, oder um ein bezahlbares Haus. Es sollte aber nicht gerade in der hintersten Ecke von Juist liegen, so wie deine Kate. In der richtest du allerdings für uns eine Urlaubs-Unterkunft mit zwei Zimmern her für einen Urlaub von 3 Wochen, in dem wir dann hier alles klarmachen können.“ Holger schaut seinen Bruder, Greta und Sonja an, als halte er das alles für einen Traum, aus dem er jeden Moment aufwacht. Sollte er, der Pechvogel, der Hungerleider jetzt endlich einmal Glück haben? Jetzt, wo er nur mit der Verachtung und dem Hass seines Bruders gerechnet hatte und der ganz anders auf ihn zugegangen war? Nach dem Abendessen machen sich die beiden Brüder auf den Weg in die Kate und gemeinsam füttern sie die Pferde. Danach beratschlagen sie noch, welche beiden Räume für den Urlaub genutzt werden können und was noch fehlt, um sie ein kleines bisschen wohnlicher zu gestalten.

Glücklich, dass sie einander wiedergefunden haben, verabschieden sich die 4 Mertens am Sonntagmorgen. In 3 Wochen will der österreichische Zweig der Familie wiederkommen, um dann vor Ort die Partnerschaft festzuschreiben, einen Arbeitsplatz für Greta zu finden und Gespräche zu führen, wie sich Sonjas Pläne realisieren lassen. Das letzte Schuljahr wird sie dann schon auf Juist absolvieren und ihre Wunschträume langsam Gestalt annehmen lassen. Die wichtigsten Gespräche dazu wird sie mit der Mannschaft der DLRG, der Deutschen-Lebensrettungs-Gesellschaft, zu führen haben. Aber auch mit dem Bürgermeister der Insel werden Gespräche notwendig sein.

Wieder zu Hause in Österreich kündigt Jens seine Arbeitsstelle im Sägewerk Bindler und Greta gibt ihren Beruf im Blumenladen auf. Auch Sonja teilt der Lehrerin mit, dass sie zum nächsten Schuljahresbeginn auf der Insel Juist in der Nordsee lebt. Überall wird bedauert, dass die allseits hilfsbereite Familie Mertens das Dorf und das Land verlassen will. In der verbleibenden Zeit gibt es viele Einladungen, denn alle wollen noch einige Stunden mit der beliebten Blumenbinderin Greta oder der freundlichen Schulkollegin Sonja verbringen. Auch Jens wird regelrecht bei seinen Arbeitskameraden herumgereicht.

Schnell gehen unter diesen Umständen die 3 Wochen bis zum Ferienbeginn zu Ende. Dann ist es schon wieder an der Zeit, hinauf an die Nordsee zu fahren. Jens hat die Abfahrtszeit diesmal so festgelegt, dass die Familie 2 Stunden vor Abfahrt des Fährschiffes in Norddeich-Mole eintrifft. Sein Auto darf er im Hof des Hotels parken, in dem die Familie bei ihrem ersten Besuch übernachtet hat. Bei ihrer Ankunft auf Juist steht Holger mit seinem Planwagen schon bereit. Das Gepäck wird verladen, dann liegen sich erst einmal alle in den Armen, bevor den beiden Pferden die Zügel freigegeben werden. Zur Verwunderung von Jens fährt Holger zu einem Bauernhof im Zentrum der Stadt Juist und teilt seinem Bruder mit, dass dies sein neues Zuhause auf der Insel ist. Es gibt einiges an dem Hof zu richten, aber die Räumlichkeiten sind bestens geeignet für 2 Wohnbereiche. Die Scheune sieht fast neu aus und der Stall ist ebenfalls vor nicht langer Zeit erneuert worden. Es gibt 8 geräumige Pferdeboxen und zu dem Grundstück gehört auch noch eine große eingezäunte Wiese. Jens und seine beiden Damen sind begeistert.

Vor allem ist das Anwesen bezahlbar. Jens muss zwar einen Kredit aufnehmen, aber der ist lange nicht so hoch, wie er vermutet hat. An sein selbstgesetztes Limit muss er jedenfalls nicht gehen. Nach dieser Überraschung lenkt Holger seine beiden Kaltblutpferde in den heimischen Stall und Jens bezieht mit seiner Familie die beiden notdürftig in Gästezimmer verwandelten Räume in der Kate. Die Arbeitserlaubnis für seinen Bruder hat Holger auch schon besorgt. Laut des vom Bürgermeister ausgestellten Schriftstückes, kann Jens als Schreiner arbeiten. Er hat aber auch die Möglichkeit mit der Droschke zu fahren und sich als Küstenfischer zu betätigen. Greta kann im Blumengeschäft ‚An der Düne‘ arbeiten und Sonja ist für das nächste Schuljahr in der Realschule Juist angemeldet. Mit diesen Vorgaben freut sich sogar Greta auf den Wohnungswechsel in 5 Wochen. Seit Jens gesehen hat, dass 4 Pferdeboxen leer bleiben, spielt er in Gedanken mit dem Verleihen von Pferden an Touristen, beziehungsweise mit einer Reitschule. Aber dieser Gedanke lebt nur ganz hinten in seinem Kopf. Nachdem Holger schon so gut vorgearbeitet hat, wird er sich als Erstes um den Hof kümmern. Mit der Hilfe seines Bruders und noch ein oder zwei Freunden wird das Gebäude vielleicht schon bezugsfertig sein, wenn er mit seiner Familie hierher umzieht.

Sonja packt in der Kate ihren Koffer aus und sortiert möglichst platzsparend ihre Sachen in den einzigen Schrank ein. Nach dieser Arbeit schlüpft sie in ihren Badeanzug, eine bunte Shorts und ein ärmelloses T-Shirt. So läuft das Mädchen über die Düne hinunter an den Strand. Sie lässt ihre Tasche und die Kleidung in den Sand fallen und spurtet in die See. Sie läuft und läuft und wundert sich, dass das Wasser nicht tiefer wird. Endlich hat sie das Ende der Sandbank erreicht und steht plötzlich bis zum Bauch im Wasser. Sie lässt sich einfach in die Wellen fallen und als sie das salzige Nordseewasser im Mund hat, hustet und spuckt sie die Salzbrühe schnell wieder aus. Aha, denkt sie! Da gibt es aber einen gewaltigen Unterschied zum Aachensee! Dann gibt es aber kein Halten mehr für sie. Sie schwimmt und schwimmt und plötzlich liegt ein Boot neben ihr und zwei junge Männer mit DLRG-Hemden gleiten zu beiden Seiten ins Wasser. „Was denkst du dir eigentlich, wofür die roten Bojen dort vorne im Wasser sind? Meinst du wirklich, die sind nur dort, weil sie sich da so schön machen? Du darfst nur bis zu den roten Bojen schwimmen!!! Hast du das verstanden? Jetzt steigst du in das Boot und vor den Bojen kannst du wieder ins Wasser. Haben wir uns verstanden? Wenn dir hier draußen etwas passiert, dann müssen wir sehen, wie wir dich aus dem Schlamassel holen. Du wärst nicht die Erste in diesem Jahr, die hier an diesem Streifen ertrinkt, sei es weil wir dich nicht gesehen haben, sei es weil du alles besser weißt. So und jetzt ins Boot!“ Eigentlich will Sonja protestieren, aber der junge Blondschopf sieht so wütend aus, dass sie es lieber sein lässt. „Ich komm ja schon! Aber wegen mir müsst ihr nicht rausfahren. Ich kann bestens schwimmen. Von hier zurück mach ich mit links! Lasst mich raus und ich zeig’s euch. Ihr könnt ja neben mir herfahren. Aber das ist wirklich eine Kleinigkeit für mich …“ „Du bleibst, wo du bist, und jetzt hältst du die Klappe. Wütend bin ich zwar schon, aber sonst lernst du mich richtig kennen, und das möchtest du ganz bestimmt nicht! Zurück, Peer!“ „ayei, ayei, Käpten! Mensch Jan! Pluster dich nicht so auf. Die Kleine würde es sicher schaffen …“ „Du hältst jetzt den Mund und fährst zurück, sonst riskierst du eine Meldung!“ Sonja mischt sich ein: „Gib nach, Peer, ich fahre ja schon mit.“ „Na endlich! Geht doch!“ Damit jagt das Boot zurück. Peer hält aber nicht an der roten Boje, sondern fährt ans Ufer. Jan steigt aus und rennt zum Stützpunkt. „Was ist denn mit dem los? Dreht der immer gleich durch? Dabei wollte ich nach der Schwimmrunde mit euch reden. Ich will meinen Schein als Rettungsschwimmerin machen und da müsste ich noch wissen, was für Voraussetzungen da notwendig sind. Ein Tauchlehrschein ist dann das Nächste und surfen möchte ich sowohl für mich lernen als auch zum Lehren für Interessierte. Das ist mein Wunschprogramm für die Zeit nach der Schule.“ „Und wie lange gehst du noch zur Schule?,“ will Peer wissen. „Noch ein Jahr.“ „Also. Wie heißt du denn überhaupt?“ „Mein schöner Name ist Sonja und ich komme aus Österreich, aber in 5 Wochen ziehen wir hierher. Sonst noch was?“ „Nee! Also für den Rettungsschwimmer und den Taucher-Lehrschein musst du 18 Jahre sein. Es ist halt wichtig, dass du …“ „… Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein hast. Das ist mir schon klar. Aber womit kann ich diese Wartezeit sinnvoll überbrücken? Ich würde da gerne etwas Vorbereitendes machen. Eine Bürolehre würde zu lange dauern und ich bin ganz und gar nicht neugierig darauf. Was für Möglichkeiten hätte ich?“ „Wenn du noch ein Jahr Schule hast, dann dürftest du jetzt 15 Jahre alt sein, richtig?“ „Stimmt nicht ganz. Ich bin noch 16, aber nicht mehr lange! In 4 Monaten werde ich 17. Ich habe ein bisschen lange überlegt, bis ich mich entschlossen habe in die Realschule zu gehen!“ „Das heißt: Du musst dann 1 Jahr lang was Anderes machen. Wie wäre es mit einer Ausbildung beim Roten Kreuz? Zum Beispiel als Lernschwester oder Sanitäterin. Den Sanikurs brauchst du für den Rettungsschwimmer und den Tauchschein sowieso. Wenn du jemanden aus dem Wasser gefischt hast, musst du schließlich wissen, wie er wieder auf Vordermann gebracht werden kann. Was meinst du?“ „Peer, das ist eine gute Idee. Aber ich möchte mich doch noch mit einem eurer Bosse unterhalten. Nix für ungut, Peer. Du hast mir schon mal sehr geholfen. Dagegen hat der Chaot mich fast von meinem Weg abgebracht.“ „Nimm’s ihm nicht übel. Jan ist ein feiner Kerl! Aber heute hat er schon ein paar dicke Bretter schlucken müssen. Da hat selbst so einer wie er irgendwann keine Nerven mehr. Jetzt warst es eben du, die es abbekommen hat. Aber zweimal sind heute schon Kinder nur um Haaresbreite dem Sensenmann von der Schippe gesprungen. Der eine Junge war schon klinisch tot. Aber Jan hat nicht aufgegeben. Er hat es nicht akzeptiert, dass ein 4-jähriger Junge in seinem Beisein ertrinkt. Und der ist auch weiter draußen gewesen, als es gut für ihn war. Als er dann einen Krampf bekommen hat, ging es nur noch nach unten, Richtung Grund. Von uns anderen hätte es keiner mehr geschafft, den Buben rauszuholen. Jan hat es geschafft. Also nimm es ihm nicht übel!“ „Danke für das Gespräch. Ich werde es mir merken. An wen kann ich mich außer an euch wenden?“ „Mattes ist der Boss unserer Truppe hier. Er kann dir am besten weiterhelfen.“ „Danke, Peer. Ich suche den Mattes mal!“ Sonja ist schon wieder fast trocken, als sie die kurze Treppe hinauf zur Aussichtsplattform des-Stützpunktes geht. Sie geht auf Jan zu und sagt zu ihm: „Jan, bitte bleib erst einmal auf dem Beobachtungsposten. Ich muss dir Mattes für ein Gespräch entführen. Danke für deine Hilfe vorhin. Du hast schon alles richtig gemacht. Ich habe mich dumm verhalten. Kommt nicht wieder vor. Versprochen!“ Der zweite Mann im Ausguck schaut das resolute Mädchen interessiert an. Es imponiert ihm, wie sie sich Jan gegenüber verhält. Er hatte seinem Chef natürlich von dem Vorfall draußen in der See erzählt. „Sie haben sich lange mit Peer unterhalten. Um was ging es? Hat er Ihnen den Kopf gewaschen?“ Sonja grinst und nickt. „Ja, das auch. Aber ich habe ihn gefragt, was ich machen kann in der Übergangszeit, bis ich bei euch meinen Rettungsschwimmer machen kann.“ „… Von wie lange reden wir da?“ Mattes schaut sich das Mädchen genauer an. „Wir reden über ein Jahr. Ich bin jetzt fast 17 und mein Name ist Sonja Mertens. Ich will mit 18 Jahren bei euch eintreten als Rettungsschwimmerin und als Taucherin und noch einiges Anderes. Peer meinte, ich könnte mit 17 einen Sanikurs absolvieren …“ „Stopp. Mal ganz langsam.“ Mattes will es jetzt genau wissen, und plötzlich spricht er sie mit du an. „Wie ernst ist es dir mit der DLRG?“ Aus voller Überzeugung antwortet Sonja: „Das hat oberste Priorität! Es ist mein fester Vorsatz, dass ich bei euch arbeite …“ „Gut,“ unterbricht sie Mattes, „ der Sanikurs ist wichtig und den machst du gleich und dann kommst du zu uns …“ Bevor Mattes seinen Satz beenden kann, wirft Jan ein: „… aber das geht doch nicht. Sie muss doch erst 18 sein!“ Mattes kontert: „Was geht und was nicht geht, das bestimme immer noch ich. Wir gründen eine Jugendgruppe und wenn sich von den jungen Leuten, die dabei mitmachen, wenigstens einer oder zwei für den DLRG-Dienst entscheiden, dann haben wir schon viel gewonnen. Und selbst wenn keiner dabeibleibt: Dann haben die, die in der Jugendgruppe waren, wenigstens schon einmal gelernt, was man darf und was man nicht darf! Und das bringt uns schon ein paar Rettungseinsätze weniger!“ Das sieht Jan ein. „Da hast du natürlich recht. Also, junge Dame. Willkommen im Club! Und nichts für ungut! Ich hatte heute einen schweren Tag.“ Lächelnd sagt Sonja: „Hat mir Peer schon erzählt. Also ich würde sagen: Wir machen das so, wie eben mit Ihnen besprochen, Mattes. Und ich gehe jetzt noch einmal in das Meer. Bis zu den roten Bojen! Einen ruhigen Nachmittag wünsch ich euch!“

„Was für eine Frau!“ zutiefst beeindruckt sagt das Mattes zu Jan. „Mich hat sie auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Aber ja, sie ist schon eine besondere Nummer!“ lächelt der Rettungsschwimmer. „Wie weit war sie denn draußen?“ will Mattes wissen. „Frag besser nicht, sonst regst du dich nachträglich noch auf, obwohl du es gar nicht gesehen hast“ „Also, wie weit?“ Mattes lässt nicht locker. „Sie war draußen, bis zur Schifffahrtslinie! Zum Glück kam kein Schiff!“ „Donnerwetter, das spricht für eine besonders gute Kondition! Ich weiß beim besten Willen nicht, ob ich das schaffen würde.“ stellt Mattes fest. „Wenn du nicht rausgefahren wärst, hätte sie ja auch wieder zurückschwimmen müssen! Und die junge Dame wohnt hier?“ „Keine Ahnung. Frag mal Peer. Er hat sich lange mit ihr unterhalten.“ „Ach, da kommt er ja gerade. Peer! Komm doch bitte einmal rein zu uns. Das Mädchen, Sonja heißt sie wohl, wohnt sie hier in Juist?“ „Also ihr beiden, bevor ihr vor Neugierde platzt: Nein, sie wohnt noch in dem schönen Land Austria. Ihr wisst ja, das Land mit den hohen Bergen“, flachst er. „Aber in 5 Wochen wird sie zur Insulanerin! Ich denke, dass sie mit dem Hungerleider Mertens verwandt ist. Jedenfalls wohnt sie zurzeit mit ihren Eltern bei ihm. Aber ich habe etwas läuten gehört, dass Mertens den Dünen-Hof angezahlt hat. Das wäre gut, denn es ist wirklich traurig, wenn so ein Anwesen vor die Hunde geht. Nur allein schafft er das nie. Na, wir werden sehen!“ Jan hat Sonja nicht aus den Augen gelassen, seit sie wieder in die Nordsee gelaufen ist. „Sie stoppt tatsächlich an den roten Bojen!“ ruft er den beiden Kollegen zu. „Ein braves Mädchen! Also, Männer, ich hau jetzt ab. Noch einen Fisch kann ich heute sowieso nicht mehr an Land ziehen. Bis morgen dann.“ Und damit geht Jan nach Hause. Für heute reicht es ihm.

Nach der 2. Schwimmrunde atmet Sonja noch ein paarmal tief durch, sammelt ihre Utensilien zusammen und macht sich ebenfalls auf den Heimweg. Das war ein recht aufregender Tag, aber sie hat auch eine Menge Wichtiges und Interessantes erfahren. Zur Feier des Tages wird im Restaurant gegessen und es wird spät, bis alle ihre Tageserlebnisse erzählt haben. Jens fragt Sonja: „Es ist also wirklich dein fester Entschluss, dich für die DLRG ausbilden zu lassen? Machst du dir eigentlich einen Begriff wie viel Verantwortung da bei dir liegt? Es ist zweifellos ein sehr wichtiger Job, aber auch ein sehr gefährlicher. Wenn jemand in Seenot geraten ist, dann kannst du nicht sagen: ‚im Augenblick hab ich keine Lust‘, ‚möchte ich essen‘ oder ‚ruft meine Freundin an‘. Dann musst du gehen, egal was dir sonst vielleicht gerade wichtiger wäre.“ „Das weiß ich alles, Paps. Ich hatte heute sehr intensive Gespräche mit einigen DLRG-Jungs. Aber Mattes, das ist der Chef der Gruppe hier bei uns, hat mir versprochen eine Jugendgruppe der DLRG zu gründen. Damit erhalte ich eine zusätzliche Schulung und wenn ich meinen Sanikurs hinter mir habe, dann darf ich mit diesen Kenntnissen schon mithelfen, dort wo es möglich ist.“ „Na gut, mein Mädel. Wenn du dich schon so gut informiert hast und es dein fester Wille ist, dann will ich dir keine Steine in den Weg legen. Du wirst es bestimmt gut machen!“ Am nächsten Tag ist Sonja natürlich wieder am Strand. Weil sie heute den ganzen Tag an der Nordsee verbringen will, hat sie sich einen Strandkorb geleistet. Kaum hat sie ihren Liegeplatz eingeräumt, saust sie auch schon in das Wasser. Sie ahnt nicht, dass Jan auch schon im Stützpunkt ist und sie genau beobachtet. Langsam läuft sie durch das seichte Wasser, aber sobald die Wassertiefe zum Schwimmen ausreicht, schwimmt sie mit kräftigen Zügen hinaus. Als sie die rote Boje erreicht hat, hält sie einen Moment inne. Jan ist neugierig, was sie jetzt macht. Sonja würde am liebsten weiter schwimmen, aber sie hat versprochen sich an die Regeln zu halten. Also dreht sie um und schwimmt quer zur nächsten roten Markierung. Dreimal wiederholt sie das Ganze, dann dreht sie sich auf den Rücken und schwimmt zurück. Am Ufer reicht ihr Jan ein Handtuch. Lächelnd sagt er: „Das war sicher eine schwere Entscheidung, da draußen! Aber du hast dich an die Spielregeln gehalten! Das rechne ich dir hoch an. Wenn du weiter geschwommen wärst, hättest du den Platz bei uns vergessen können. Unwiderruflich. Für immer! Wir müssen uns blind auf unsere Kameraden verlassen können. Und ein gegebenes Wort ist und bleibt ein gegebenes Wort! Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit dir. Jetzt will ich dir auch verraten, warum ich gestern so sauer war: Das hatte nichts damit zu tun, dass ich schon einen harten Tag hinter mir hatte. Du bist raus geschwommen bis zur Schifffahrtslinie! Von den Schiffen achtet dort draußen keiner darauf, ob da etwas im Wasser schwimmen könnte. Wenn dort ein Schiff auf dich trifft, dann bist du tot. Tot, verstehst du? Du kommst in die Schraube, der Sog zieht dich nach unten und es gibt noch einige andere nette Möglichkeiten. Und selbst ich könnte dir dann nicht mehr helfen. Das war es, was mich so in Rage versetzt hat! 5 Meter hinter der Boje, da sagt eigentlich keiner was. Aber das, was du da abgeliefert hast, war purer Leichtsinn. Und glaube mir, Sonja: Wenn du bei der DLRG mitarbeitest, wirst du wohl oder übel konfrontiert werden mit Todesfällen, die durch Leichtsinn hervorgerufen worden sind! Wir sind Rettungsschwimmer! Wir werden oft ‚Lebensretter‘ genannt. Aber es gibt Situationen, wo wir machtlos sind und wenn die durch Leichtsinn oder Übermut hervorgerufen worden sind, dann …“ „Danke, Jan. Ich hab dich gestern nach dem Gespräch mit Mattes schon verstanden, aber jetzt weiß ich, worauf es wirklich ankommt: Nicht darauf, dass ich 20 Kilometer am Stück schwimmen kann, sondern dass ich, schon bevor etwas passiert, erkenne, dass Gefahr im Verzug ist!“ „Besser hätte ich es nicht sagen können! Mattes hat mich gestern gefragt, wie weit du draußen warst, und als ich es ihm schließlich unter Protest gesagt habe, da meinte er: ‚Eine tolle Leistung! Sie hätte ja auch wieder zurückschwimmen müssen, wenn du nicht rausgefahren wärst. Ich weiß nicht, ob ich das schaffen würde!‘ In dem Moment habe ich echt in Zweifel gezogen, ob er der richtige Mann als unser Chef ist!“ „Ich verstehe dich. Ihm muss in seiner Position klar sein, dass es gar nicht auf die Strecke ankommt. Wenn jemand so weit draußen Probleme bekommt, dann schafft es vielleicht ein Schnellboot. Hilfe zu bringen, aber schwimmend ist da jeder zu spät!“ „Mädchen, wenn du dich an alles hältst, was du jetzt schon erkannt hast, dann wirst du eine ganz Große unter den DLRG-Rettern. Wenn du Lust hast, dann komm mit rauf zum Stützpunkt. Noch nicht als Mitglied, aber als Gast!“ „Oh ja, gerne, Jan, und wenn ich irgendwie helfen kann …“ „… dann bist du dabei!“

Zusammen waten sie durch den Sand hinauf zum Stützpunkt und gemeinsam setzen sie sich auf die Aussichtsplattform. Mattes sieht seinen Kollegen von der Seite an und fragt: „Was soll das? – „Sie bleibt da! Sonst musst du auch auf mich verzichten!“ Mattes schnappt nach Luft, aber er sagt nichts mehr, denn er weiß: Wenn Jan so etwas sagt, dann meint er es so. Peer, der inzwischen ebenfalls am Stützpunkt angelangt ist, kennt den Freund genau. Er weiß, dass Jan die besonderen Qualitäten dieses Mädchens erkannt hat, und dass er alles tun wird, damit aus ihr eine gute DLRG-Kameradin wird. Nach etwa einer Stunde springt Sonja plötzlich von der Plattform und rennt ins Wasser. Mit großen Schritten ist sie Sekunden später bei einem kleinen Mädchen, das einen Eimer festhält. Sie hebt das Kind auf und trägt es an den Strand. Der Eimer schwimmt herrenlos im Wasser, während Jan, der ihr sofort gefolgt ist, das Mädchen in die stabile Seitenlage bringt, den Kopf auf die Seite dreht und ihr kräftig auf den Rücken schlägt. Als das Kind daraufhin noch kein Wasser ausspuckt, hebt er es kopfüber hoch und schüttelt es leicht. Im nächsten Moment strömt ein Schwall Wasser aus dem Mund des Kindes und es beginnt laut zu schreien. Ganz zart legt er den kleinen Körper in den Sand und streichelt ihm über das Köpfchen. Aus der Menge der Neugierigen, die sich eingefunden haben, um zuzuschauen, kommt eine junge Frau und wirft sich neben dem Mädchen in den Sand. Tränen laufen über das Gesicht der Mutter und sie drückt die Kleine ganz fest an sich, während Jan nach der Hand von Sonja greift und sie zurückbringt zum Stützpunkt. „Wie hast du das bemerkt Prinzessin?“ fragt er. Sonja muss erst langsam wieder zu sich kommen. „Prinzessin?“ fragend schaut sie ihn an. Leise und stockend sagt sie: „sie ist mit dem Eimer in die See gelaufen und hingefallen. Den Eimer hat sie nicht losgelassen, aber sie ist nicht aufgestanden.“ „Das hab ich nicht bemerkt! Ich habe sie auch mit dem Eimer spielen gesehen, aber dass sie hingefallen und nicht wieder aufgestanden ist, hab ich nicht gesehen!“ Mattes holt aus dem Medizinschrank eine Flasche Cognac, gießt ein kleines Glas ein und gibt es Sonja. „Trink“, sagt er. Dann nimmt er selbst einen Schluck. Jan lehnt ab. Er hat sich wieder gefangen. „Möchtest du zurück, Sonja?“ fragt er. Aber Sonja schüttelt nur den Kopf und setzt sich wieder auf den Aussichtsplatz. „Ich hab auch nichts gesehen!“ Ganz leise sagt es Peer. Er schüttelt nur mit dem Kopf und wiederholt: „Ich hab auch nichts gesehen!“ Am Strand kehrt langsam wieder Ruhe ein, der Menschenauflauf zerstreut sich und einige schauen hinauf zum Stützpunkt und nicken. Auf dem Stützpunkt löst Peer die junge Frau ab, die Jan immer noch schützend im Arm hält. Mattes schreibt in kurzen Stichpunkten seinen Bericht. Was sein muss, muss sein! Vorsichtig löst sich Sonja leicht lächelnd aus dem Arm von Jan und sagt: „Ich möchte eine Runde schwimmen.“ Jan nickt ihr ebenfalls lächelnd zu. „Geh nur.“

Langsam stapft Sonja durch den weichen, warmen Sand und geht weiter durch das nur knöcheltiefe Wasser über die Sandbank und lässt sich in die tiefer werdende See gleiten. Fast bewegungslos liegt sie auf dem Rücken im Wasser und lässt sich treiben. Nur ihre Hände bewegen sich sachte. Erst jetzt beginnt sie zu begreifen, was vorhin geschehen ist. Ein weiteres Mal sieht sie das spielende Kind vor sich und wie es im tiefer werdenden Wasser hinfällt und nicht mehr aufstehen kann. Sie sieht nochmals, wie die Kleine ihren Eimer krampfhaft festhält. Und noch einmal sieht sie sich auf das bewegungslos im See treibende Mädchen zurennen. Was hat Jan gesagt? ‚Wenn du bei der DLRG mitarbeitest wirst du wohl oder übel mit Todesfällen konfrontiert werden die durch Leichtsinn entstehen‘ … Vorhin war es schon fast soweit! Aber sie hat nicht nur die Gefahr kennengelernt, die sie erkennen muss, sie hat auch die Zusammenarbeit mit einem Kollegen, mit Jan, kennengelernt. Einer allein tut sich schwer, aber wenn die Gruppe zusammenarbeitet, dann kann alles erreicht werden! Alles? Wohl nicht, aber fast alles! Sie dreht sich um und schwimmt mit kräftigen Zügen hinaus zur roten Boje. Sonja lächelt in sich hinein: Bis zur roten Boje, nicht weiter! Sie lässt das Warnsignal los, umschwimmt es einmal und schwimmt quer. Plötzlich ist Peer an ihrer Seite. „Kraulen kannst du wohl nicht?“ fragt er ernst. Von ihrem „nein“ ist er nicht überrascht. „Na, dann ist das deine erste Lektion. Ohne Kraulen geht bei uns nämlich fast gar nichts. Also: Die Beine machen nicht die Froschbewegung, sondern die bleiben gestreckt und schlagen im Wechsel auf das Wasser. Wie stark der Beinschlag ist und wie schnell, wirkt sich auf das Tempo aus. Und die Arme gehen versetzt nach vorne und schieben das Wasser mit der Hand zur Seite weg. Mit einigem Üben koordinierst du das von ganz allein und wirst auch schneller dadurch. Also los, versuch es einmal.“ Gesehen hat Sonja natürlich schon, wenn Schwimmer gekrault haben, sie hat es sogar schon probiert. Aber so richtig hat es nicht geklappt und da ist sie eben bei Brust- und Rückenschwimmen geblieben. Aber jetzt, wenn Peer dabei ist und ihr mit gezielten Tipps hilft, dann wird sie sich auch richtig reinhängen, damit sie es lernt und bald mit den anderen aus der Gruppe mithalten kann. Peer passt genau auf, dass der Beinschlag mit gestrecktem Bein ausgeführt wird und die Hände wie Schaufeln das Wasser zur Seite drücken. Nach einer Weile ist der junge Mann zufrieden und er schwimmt ohne weitere Anweisungen mit ihr zusammen wieder an den Strand. „Kommst du mit zurück auf den Beobachtungsposten oder versteckst du dich lieber in deiner Burg, Prinzessin?“ „Weißt du was, Peer? Die Prinzessin verkriecht sich in ihre Burg! Dann könnt ihr Prinzen euch in aller Ruhe über sie unterhalten.“ Und damit trennen sich ihre Wege. Sonja steuert ihren Strandkorb an und Peer begibt sich wieder zur Beobachtungsstation. Sonja hat ihre ‚Burg‘ so plaziert, dass sie den Strand und die Nordsee im Blick hat. Mit einem letzten leichten Drücker kann sie sogar die DLRG-Station sehen. Ein spitzbübisches Grinsen macht sich dabei auf ihrem Gesicht breit. Na wartet, ihr Prinzen! Ihr werdet mich schon noch kennenlernen! Denkt sie bei sich. Sie ist gespannt auf den Rest der Gruppe und hofft ihn auf diese Weise kennenzulernen.

Langsam geht es auf Mittag zu. Das stellt Sonja fest, weil sich bei ihr ein Hungergefühl bemerkbar macht. Während sie noch überlegt, womit sie ihren Magen füllen möchte, steht Mattes vor ihrem Strandkorb und reicht ihr ein Brötchen mit Nordseekrabben. Sie schaut ihn so von unten her durch die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille an, legt den Kopf auf die Seite und fragt: „Frieden, Mattes?“ Der druckst ein bisschen herum, bevor er antwortet: „Frieden. Klar. Ich wäre ja schön doof, wenn ich auf so jemanden wie dich verzichten würde. Nur eine Bedingung muss ich stellen …“ „Eine Bedingung?“ unterbricht Sonja Mattes… „Ja, eine Bedingung. Und zwar lässt du Jan und Peer in Ruhe!“ Sonja lacht schallend. Die Gäste, in den Strandkörben in ihrer Nähe schauen alle herüber und fragen sich, was wohl das Mädchen mit dem Chef der Rettungsmannschaft zu tun hat. Mattes wird knallrot und schaut sich verlegen um. „Keine Angst, Käpten, wir sind Freunde, weiter nichts! Und das bleiben wir auch. Mensch, Mattes! Verlassen Sie sich auf die Jungs und auf mich! Es sollte doch in Ihrem Sinn sein, wenn ein gutes und vertrauensvolles Klima in der Gruppe herrscht. Wenn ich die anderen auch noch kennengelernt habe, hoffe ich, dass dann der Kreis meiner Freunde noch größer wird! Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Sie auch zu meinen Freunden zählen dürfte. Sind Sie damit einverstanden?“ „Natürlich! So soll es ja auch sein. Nichts für ungut“ „Aber mal was ganz Anderes. Mattes. Wäre es möglich, dass der eine oder andere der Kollegen beim Hof, den meine Eltern zusammen mit Onkel Holger in Schuss bringen, helfen könnte? Wir sind jetzt 3 Wochen lang da und Paps möchte es schaffen, dass wir dann, wenn wir in 5 Wochen ganz hierherkommen, gleich im Hof einziehen können. Ich fürchte, Holger hat noch keine richtigen Freunde und er allein wird die Arbeit bis dahin nicht schaffen.“ „Da machen Peer und Jan bestimmt mit und ich auch. Die Jungs werden die anderen schon in Kenntnis setzen und dann klappt das schon. Also der Hungerlei … Entschuldigung, ist mir nur so raus-gerutscht! Also der Holger Mertens ist dein Onkel?“ „Richtig. Aber wir hatten bis jetzt so gut wie keinen Kontakt. Ist aber eine andere Geschichte. Danke, dass Sie mithelfen wollen! Und danke für das Krabbenbrötchen, Mattes.“ „Nichts zu danken. Lass es dir schmecken. Heißt bei uns aber Semmel. Krabbensemmel! Und ich muss dir danken für deinen Einsatz heute früh. Das war großartig! Ich geh dann mal wieder. Du bist immer willkommen bei uns drüben!“ „Danke, Mattes, bis später.“ Sonja denkt bei sich: Das wäre eine großartige Sache, wenn die Jungs am Hof helfen würden! Und dabei verspeist sie mit größtem Appetit ihr Krabbenbrötchen. Autsch! Die Krabbensemmel! Einen ausgedehnten Strandlauf beendet Sonja mit einem Bad in der Nordsee und einer großen Schwimmrunde. Sie übt auch gleich wieder zu kraulen und ist ganz zufrieden mit dem Ergebnis. Plötzlich befindet sich das Boot der DLRG neben ihr und zwei grinsende Burschen fordern sie auf, mit in das Boot zu kommen. Sonja will gerade sagen, dass sie nicht zu weit raus geschwommen ist, aber Peer winkt gleich ab. „Komm rein! Wir lassen uns einmal den Wind ordentlich durch die Haare wehen!“ Das lässt sie sich nicht zweimal sagen und sie steigt rasch um, von dem Nordseewasser in das Boot. Und Jan gibt Gas! Blitzschnell pflügt das Rettungsboot durch die See. Die Augen der 3 Freunde blitzen, als Jan das Boot stoppt, indem er einfach den Schlüssel zieht und ihn an Peer übergibt. Und als ein Passagierdampfer in ihrer Nähe vorbeifährt, genießen sie es, so richtig durchgeschüttelt zu werden und sie lassen sich dann noch eine Weile von den Wellen schaukeln.

„Wann können wir uns euren Hof einmal anschauen, um festzustellen, wie und wobei wir helfen können? – Knut und Malte machen auch mit. Die lernst du kennen, wenn wir zurück sind,“ beginnt Jan. Erfreut antwortet Sonja: „Das ist ja fantastisch! Wenn ihr heute Abend Schluss macht, zeige ich euch unseren Hof. Papa und Holger werden sich freuen, wenn sie so tatkräftige Hilfe bekommen.“ Peer startet den Motor des DLRG-Bootes und fährt in mäßigem Tempo zurück. Er zieht es so weit auf den Strand, dass es nicht weggespült werden kann. Über Nacht wird das Boot zusätzlich an einem weit hinten liegenden Anker befestigt. Jan fordert Sonja auf, ihn zur Station zu begleiten. Er möchte ihr gerne die drei anderen noch zur Gruppe gehörenden Kameraden vorstellen. Bis sie die Station erreicht haben, hat Peer sie eingeholt und gemeinsam gehen sie die 3 Stufen zum Beobachtungsraum hinauf. „Sorry, Mattes, aber nachdem heute Nachmittag absolut nichts los gewesen ist, haben wir uns gedacht, wir zeigen einmal, wie schnell und wendig unser Boot ist!“ „So, habt ihr gedacht.“ – Mattes findet diesen Alleingang seiner beiden besten Rettungsschwimmer gar nicht gut. „Ihr wisst genau, dass gerade dann etwas passiert, wenn keiner damit rechnet. Und wenn nur 2 Badegäste unten sind, kann es einen von beiden erwischen und er macht aus unerfindlichen Gründen plötzlich schlapp. Was, wenn ihr dann gerade eine Spazierfahrt macht? Unser Job ist es, hier präsent zu sein. Immer. Das war schon so, als wir das noch ehrenamtlich gemacht haben und das ist jetzt erst recht so, wo es unser Job ist. Wenn einer ertrinkt, dann ist ihm nicht geholfen, wenn ich ihm sage: Sorry, meine Rettungsschwimmer machen einen Ausflug mit dem Boot …“ „Ist ja gut, Mattes. Wir haben es ja verstanden. Sie haben selbstverständlich recht! Aber die Jungs wollten mir eine Freude machen, weiter nichts. Kommt nicht mehr vor!“ Sonja unterbricht damit den Vorwurf des Chefs. Die beiden Sünder stehen auch ganz schuldbewusst neben dem Mädchen. „Okay, ich gehe davon aus, dass es eine Ausnahme bleibt!“ Mattes hat sich wieder beruhigt. Deshalb stellt Jan der jungen Dame die 3 noch hier anwesenden Männer vor: „Sonja, das hier, der mit dem Schnauzer, der aussieht wie eine Robbe, das ist Knut. Und der blonde Riese ist Malte. Hinten am Kühlschrank mit der Bierflasche steht noch Ringo. Eigentlich heißt er ja Sven, aber so nennt ihn hier keiner. Er sieht halt ein bisschen aus wie ein Cowboy. Und das hier, meine Herrn, ist unser jüngstes Mitglied – ehrenamtlich – offiziell darf sie ja noch nicht. Sie hört auf den schönen Namen Sonja. Ihr Vater restauriert momentan den Dünen-Hof, den er zusammen mit Holger Mertens, seinem Bruder bewirtschaften will. Die beiden Männer könnten ein paar tatkräftige Hände bei ihrer Arbeit gebrauchen. Der Hof soll in 5 Wochen bezugsfertig sein, denn da wird Sonja zur Insulanerin. Wir drei haben uns schon dienstverpflichtet und hoffen, dass ihr auch bereit zur Hilfe seid. Schließlich kann unsere Inselprinzessin ja nicht am Strand wohnen, sondern wir bauen ihr selbstverständlich ein Schloss!“ „Weshalb Inselprinzessin?“ fragt Knut und jetzt sind alle gespannt auf Jan’s Erklärung. „Also, Sonja ist heute zum zweiten Mal hier auf Station gewesen und ohne sie wäre heute früh ein kleines Kind ertrunken. Von uns hat keiner bemerkt, was da am Strand los war. Aber sie hat es erkannt und bevor einer von uns etwas sagen konnte, hatte sie die Kleine schon an Land gebracht. Und nachdem hier an unserem Küstenabschnitt keine einzige Frau Dienst tut, ist sie – zumindest meine – Inselprinzessin“. Malte meldet sich zu Wort: „Es hat doch wohl einen Sinn, warum das Mindesteintrittsalter auf 18 Jahre festgeschrieben wurde.“ Als Jan antworten will, stoppt ihn Mattes. Er will die Antwort selbst geben. „Also, Malte, wir haben uns sehr eingehend mit Sonja unterhalten. Sie hat uns alle 3 davon überzeugt, dass es ihr fester Wille ist, sich hier bei uns zur Rettungsschwimmerin ausbilden zu lassen. Sie hat noch einige gute Pläne zusätzlich, aber das ist jetzt nicht relevant. Sie hat noch ein Jahr in der Realschule. Deshalb wird sie gleich eine

Sani-Ausbildung mit Prüfung absolvieren und ich gründe eine Jugend-DLRG, in der sie schon einmal alles lernt, was sie wissen muss. Dann hat sie bereits die komplette Ausbildung zur Rettungsschwimmerin und kann mit 18 Jahren sofort als Vollmitglied in unserer Gruppe mitarbeiten. Jan hat sie sich vorgenommen, nachdem sie bis zur Schifffahrtslinie geschwommen ist, Peer hat mit ihr geredet und ihr erklärt, worauf es bei uns ankommt, und ich habe noch einmal Klartext mit ihr gesprochen, worauf sie mir glaubwürdig dargelegt hat, warum sie zu uns kommen will. Und deshalb bleibt es dabei. Wenn Ihr skeptisch seid, dann wartet ganz einfach ab, beobachtet sie und bildet euch ein Urteil, wenn ihr sie besser kennengelernt habt.“ „Okay. Das ist ein Vorschlag, mit dem ich leben kann. Bei den Arbeitseinsätzen bin ich dabei!“ Auch Knut und Ringo erklären sich bereit zum mitarbeiten am Dünen-Hof. Das alles hat ziemlich viel Zeit in Anspruch genommen, deshalb bedankt sich Sonja bei den 3 Neuen, verabschiedet sich von der Gruppe und geht in Gedanken zu Holgers Kate. Ihr Vater und Holger werden sich freuen über die zugesagte tatkräftige Hilfe der jungen Männer.

Sonja ist noch allein in der Kate. Die anderen arbeiten noch am Hof. Also schaut sie im Kühlschrank nach, was sie für das Abendessen herrichten kann. Die Tomaten sehen schon einmal sehr gut aus. ‚Das gibt einen vorzüglichen Tomatensalat.‘ Schade, Basilikum findet sie nicht. Also schneidet sie eine Zwiebel in ganz kleine Würfel und Schnittlauch in feine Röllchen. In dem kleinen Gemüsegarten findet sie sogar Petersilie. Alles wird aufgeschnitten und mit Salz und Pfeffer gewürzt. Öl muss noch an den Salat! Wie war das doch gleich, warum Öl an den Salat muss? Weil sonst der Salat zwischen den Zähnen knirscht! Stellt sie grinsend fest. Der erste Gang ist fertig. Im Kühlschrank hat sie noch eine Packung Quark gefunden. In Ermangelung von Sahne rührt sie den Weißkäse mit einem Schuss Milch glatt. Sie schmeckt ihn mit Salz ab und schneidet eine zweite Zwiebel, diesmal eine richtig große, in feine Würfel und gibt sie zu dem Quark. Vorher setzt sie noch Kartoffeln auf und kocht eine Kanne Kräutertee. Als alles fertig ist, deckt sie der Tisch, und pünktlich treffen Jens, Greta und Holger ein. Überrascht setzen sie sich und greifen alle tüchtig zu. Nachdem die Familie satt ist und man zu einer gemütlichen Tasse Tee übergegangen ist, sagt Jens: „Holger, das ist nicht zu schaffen in 5 Wochen. Es gibt doch mehr instand zu setzen, als ich angenommen hatte …“…„Paps, ihr werdet fertig! Meine Kollegen aus der Rettungsstation haben versprochen, dass sie helfen. Nach Dienstschluss will Jan mit Peer am Dünen-Hof vorbeikommen, um einmal nachzuschauen wo was klemmt,“ unterbricht Sonja ihren Vater. „Der Dünen-Hof? Wie kommst du denn auf diesen Namen?“ Jens und Holger hören diese Bezeichnung für ihren Hof zum ersten Mal. „Ja, Peer hat ihn so genannt. Aber sicher dürfen wir ihn Mertens-Hof nennen. Ich frag mal den Bürgermeister!“