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Tauche ein in ein London voller Wunder und Magie! "Sag ihnen, sie sollen fliehen." Kaum hört Lucy die körperlose Stimme in ihrem Kopf zum ersten Mal, da bricht um sie herum Chaos aus. Gleißend helle Gestalten stürmen das diesjährige Winterfest und stehlen eines der wertvollsten Schmuckstücke der magischen Welt. Und nicht nur das: Überall in London verschwinden plötzlich Spellcrafter unter mysteriösen Umständen. Was ist nur in der Stadt los? Einzig die Stimme in Lucys Kopf scheint Antworten zu haben. Doch kann Lucy ihr wirklich trauen? Umhänge, die unsichtbar machen. Medaillons, die Geschichten erzählen. Schwerter, die die Welt zerteilen. In den geheimen Workshops der Spellcrafter werden mitten in London wahre Wunder gefertigt – mit jeder Menge Talent und einem kleinen Tropfen goldener Magie. Entdecke alle Abenteuer rund um Lucy und die Magie der Spellcrafter: Band 1: Die Magie der silbernen Flamme Band 2: Die Macht der weißen Sonne (erscheint im Herbst 2025) Band 3: Die Kunst der goldenen Blitze (erscheint im Frühjahr 2026)
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Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2025
Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2025 Ravensburger Verlag Originaltitel: Spellcraft 2 © Working Partners Ltd. Text: R.L. Ferguson Übersetzung: Christian Dreller Coverillustration: Asur Misoa Covergestaltung: ZeroMedia GmbH Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. Der Nutzung für Text- und Data-Mining wird ausdrücklich widersprochen.
ISBN 978-3-473-51285-0
ravensburger.com/service
Der Eisbär stapfte auf die Tanzfläche und setzte sich Richtung Band in Bewegung. Lachend wichen die Leute aus, als die riesige Kreatur an ihnen vorbeitrottete.
„Der sieht so echt aus“, staunte eine Frau in glitzerndem Partykleid.
„Nicht zu fassen, dass er aus Eis ist“, sagte ein Mann in elegantem Smoking. „Muss ein Vermögen gekostet haben.“
Ohne sie zu beachten, schob der Bär sich an ihnen vorbei.
Die rotierende Discokugel tauchte das Tier in funkelndes Licht und verstärkte so die Illusion, dass es tatsächlich aus nichts anderem als Eis bestand.
Lucy, die dem Bären mit besorgtem Blick folgte, wusste es besser.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie, als sie sich durch ein Trio junger Frauen schob, die sich im Takt der Musik wiegten. „Zeit für eine kleine Kurskorrektur.“
Sie zupfte an ihrem Headset und justierte den biegsamen Arm ihres Mikros in die richtige Position.
„Ist der sprachgesteuert?“, fragte eine der Frauen.
„So in etwa“, erwiderte Lucy.
Inzwischen hatte der Eisbär die Tanzfläche halb überquert. Laut Theorie sollte ein Richtungs-Zauber ihn automatisch zur Seite abdrehen lassen, bevor er in die Bühne stolperte, auf der die Band spielte. Aber der Bär hatte den ganzen Abend über seine Mucken gehabt und Lucy war nicht bereit, es darauf ankommen zu lassen.
Rasch blickte sie sich um, bevor sie das Mikro mit der Hand bedeckte. Mit einem tiefen Atemzug entfachte sie die Flamme, die in ihr schlummerte. Ihr geheimes Spellcrafter-Talent.
In Sekundenschnelle breitete sich Hitze in ihrer Brust aus und zarte Rauchfäden schlängelten sich – filigranen Nebelschwaden gleich – ihren Hals empor. Kaum erfüllten sie ihren Mund, teilten sich Lucys Lippen und sie ließ einen winzigen Hauch der Magie der silbernen Flamme über das Mikro strömen, begleitet von den geflüsterten Worten: „Nach links!“
Der Eisbär, der überhaupt nicht aus Eis, sondern aus magischem Glas gefertigt war, schwenkte gehorsam vor der Bühne ab, um weiter seine Kreise im Atrium zu ziehen. Die Menge strömte an ihm vorbei und begab sich wieder auf die Tanzfläche, während die Band weiterspielte.
Mit einem erleichterten Seufzer kämpfte Lucy sich durch das dicht gedrängte Atrium zu dem Tisch vor, auf dem das Büfett aufgebaut war. Das Atrium war riesig – eine überwältigende runde Halle mit verspiegelten Wänden und einer hohen gläsernen Decke. Dieser gewaltige Saal stellte das Herzstück der Gallery Towers dar, dem stilvollen Hauptquartier von Sept Felicitas, das über Londons Gastronomie- und Unterhaltungsszene herrschte. Heute Abend waren diese Räumlichkeiten Schauplatz des diesjährigen Winterfestes – einer riesigen Party, auf der die Mitglieder von Sept Felicitas mit Hunderten normaler Kunstliebhaber zusammenkamen, um den Einzug des Winters zu feiern.
Und was für eine Party es war! Wohin Lucys Augen auch wanderten, bot sich Unglaubliches. Von Trapezkünstlern in Paillettenkostümen, die sich in die Menge hinabstürzten, bis zu schwebenden Bildschirmen, auf denen ausgefallene Kunstwerke präsentiert wurden – alles bestäubt von künstlichem Schnee, der von der Decke rieselte.
Sogar noch beeindruckender war die Menagerie der Glastiere, die mittels Spellcrafter-Magie so gefertigt waren, dass sie wie Eisskulpturen aussahen. Hierzu gehörten ein schmuckes Rentier mit wunderschön geschwungenem Geweih, ein Trio watschelnder Pinguine und – natürlich – der temperamentvolle Eisbär. Jedes Tier wurde von einem Spellcrafter-Lehrling überwacht, der die magischen Kreaturen davon abhalten sollte, allzu viel Unfug anzurichten.
Ungeachtet all der zur Schau gestellten Wunder hatte keiner der normalen Partybesucher jedoch eine Ahnung, dass der ganze Saal von Magie durchwoben war – geschweige denn, dass diese überhaupt existierte.
Infotafeln nach kam der rieselnde Schnee aus Spezialmaschinen, die man von einem Filmstudio gemietet hatte. Tatsächlich wurde er jedoch von magischen Frostsieb-Glasscheiben an der Decke erzeugt. Was die sich bewegenden Eisskulpturen anbelangte (angeblich modernste, KI-gesteuerte Animatronics), so waren sie in Wirklichkeit von Meister-Glasbläsern mit der Magie der silbernen Flamme gefertigt worden. Die normalen Partygänger sahen hierin schlicht Wunder des modernen Zeitalters, die nicht bemerkenswerter waren als ein Smartphone oder selbstfahrende Autos.
Lucy erreichte das Büfett, auf dem Garnelen und Fingerfood-Häppchen auf unsichtbaren Tellern schwebten, flüssige Schokolade ohne erkennbare Quelle herabströmte und der Inhalt eines riesigen Eiscreme-Bottichs trotz direkter Nachbarschaft zu einem brutzelnden Grill gefroren blieb. Weitere, unmittelbar vor aller Nasen verborgene Wunder, allesamt durch Magie ermöglicht, die für jeden unsichtbar blieb – außer für die Spellcrafter, die sie heraufbeschworen hatten. Und für die Septs natürlich, die dafür bezahlt hatten.
Als Lucy sich einen Teller mit Leckereien aufhäufte, spürte sie, wie sich in der Tasche ihrer weißen Winterfest-Schürze etwas regte. Sie senkte den Blick und nahm eine kleine Stoffnase wahr, die aus der Öffnung hervorlugte.
„Nicht jetzt, Patches“, zischte sie. „Hier wimmelt es von Dimmern.“
Patches – das magische Stofftier, das Lucys Vater einst für sie gefertigt hatte – verschwand wieder in der Versenkung und ließ Lucy mit der Überlegung zurück, warum sie das Wort „Dimmer“ benutzt hatte. So nannte ihre Freundin Adele die normalen Leute, die nichts von Magie wussten. Lucy hatte den Begriff immer als verletzend empfunden. Warum also war er ihr gerade herausgerutscht? Vielleicht lag es am Stress, auf einen launischen Eisbären aufpassen zu müssen.
Sie trug den Teller durch das Atrium zurück. Nachdem sie noch einmal nach dem Eisbären gesehen hatte, der nun harmlos im immer gleichen Kreis durch den Saal zog, begab sie sich hinter die Bühne mit der Band. Hier war ein provisorisches Gebilde aus Leinen errichtet, eine Art riesiges Innenzelt. Auf einem Schild am Eingang stand:
PRIVAT – ZUTRITT VERBOTEN!
Ein junger Mann stand vor dem Zelt Wache. Argwöhnisch beäugte er Lucy, als sie sich näherte. Seine gelb-schwarz gestreifte Uniform verriet ihr, dass es sich um einen Angehörigen von Sept Fortis handelte – der Organisation, die für die Sicherheit unter den Septs und den Spellcraftern verantwortlich war. Beiläufig fuhr ihre Hand in die Schürzentasche. Doch nicht um nach Patches zu tasten, sondern um ein silbernes Abzeichen hervorzuholen.
„Spellcrafter“, verkündete sie und hielt dem Wächter das Schmuckstück vor die Nase. „Ich habe eine Freigabe.“
Mit zusammengekniffenen Augen musterte ihr Gegenüber den dunklen Drachen darauf, der eine blaue Flamme über ein metallenes Schild spie. Dann trat er beiseite und ließ Lucy passieren.
Im Zelt arbeitete etwa ein Dutzend Spellcrafter an aufgebockten Tischen, inmitten eines Wirrwarrs aus Musikinstrumenten und magischen Geräten. Lucy steuerte den Tisch direkt neben dem Eingang an, an dem ein schlaksiger Junge in zerschlissenen Jeans an einer Klarinette herumhantierte. Sie stellte den Teller vor ihm ab.
„Hey, Renly. Hab dir was zu Futtern mitgebracht.“
Renly hob den Blick und strahlte sie an. „Ausgezeichnet! Bin schon am Verhungern!“
„Das bist du immer.“
„So ist das eben mit einem Wachstumsschub.“
„Dein ganzes Leben ist ein Wachstumsschub.“
„Tja, was soll ich sagen.“
Während Lucy an einer vegetarischen Teigtasche knabberte, beobachtete sie, wie ihr Freund im Nullkommanix zwei Würstchen im Schlafrock, ein großes Stück Schokoladenkuchen sowie eine Handvoll Karottenstäbchen vernichtete.
„Puh! Wenn das mal nicht alle wesentlichen Nährstoffgruppen waren!“, verkündete er und wischte sich genießerisch den Mund ab. „Wie klingt die Band?“
„Spitze!“, erwiderte Lucy. „Was du da machst, sieht aber auch nicht schlecht aus!“
„Holzwerker machen immer einen guten Job.“
Ein Mädchen, das nebenan an einem Tisch saß, auf dem sich unzählige Blechblasinstrumente türmten, warf Renly einen finsteren Blick zu. Sie war gerade dabei, vorsichtig Aether – die kostbare goldene Flüssigkeit, welche die Magie in den Spellcrafter-Gegenständen zum Leben erweckte – in die Ventile einer Trompete zu tröpfeln.
„Metallwerker natürlich auch“, fügte Renly schnell hinzu und zwinkerte dem Mädchen zu.
„Und die Dimmer haben keine Ahnung, dass ihr überhaupt hier seid“, entfuhr es Lucy. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, kaum dass das Wort ihr über die Lippen gekommen war. Sie musste echt aufhören, es zu benutzen.
„Du meinst die normalen Gäste?“, meinte Renly und runzelte leicht die Stirn.
„Richtig“, antwortete Lucy und wurde rot. „Ist mir einfach rausgerutscht.“
„Tja, wenn wir nicht hier wären, würden sie uns ziemlich schnell vermissen. Du weißt, was Magie mit Akustik anstellt.“
Renly sprach über die Art und Weise, wie eine große Ansammlung von Magie zuweilen Schallwellen verzerrte. Bei einer Veranstaltung wie dem Winterball, in einer riesigen Halle voller Spellcrafter-Artefakte, konnte sich eine Liveband schnell ziemlich platt anhören – oder ganz und gar verstimmt klingen. Um diesen Effekt zu kompensieren, mussten Renly und sein Team aus Spellcraftern die Instrumente permanent mit subtilem Zauber und einem gelegentlichen Tröpfchen Aether optimieren.
„Na ja, was immer ihr da auch macht, es funktioniert“, sagte Lucy. „Die Tanzfläche ist proppenvoll.“
„Was macht der Eisbär?“
„Hat so seine Mucken.“ Ihr Blick huschte zur Zeltklappe. „Ich sollte wohl besser zurückgehen.“
Renly wedelte mit der Klarinette herum. „Und ich sollte das Ding hier zu Ende stimmen. Lass ruhig den Teller hier.“
Lucy lachte. „Ich wusste, dass du das sagen würdest.“
Kaum hatte sie das Zelt verlassen, stolperte sie in einen älteren Jungen mit breiten Schultern und einer Matte aus widerspenstigem Haar hinein.
„Oh, Carter, du bist’s.“ Sie wandte schnell den Blick ab und versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben.
„Hey“, sagte er und verstellte ihr den Weg. „Riech ich schlecht oder so was?“
„Nein, natürlich nicht. Tut mir leid, es war nur …“ Ihre Stimme verebbte.
„Nur was?“
„Hör mal, ich sollte jetzt wirklich gehen. Ich hab echt viel zu tun.“
„Zu viel, um mit einem Freund zu quatschen?“
„Das ist es nicht.“
„Dann versuchst du also nicht, mir aus dem Weg zu gehen?“
Lucy seufzte. Carter aus dem Weg zu gehen, war exakt das, was sie gerade machte. Tatsächlich hatte sie ihn jetzt schon einen ganzen Monat lang gemieden, seitdem sie erfahren hatte, dass sein Vater Halston Prince – Oberhaupt von Sept Argent – hinter einem Plan zur illegalen Förderung von Aether aus dem neu entdeckten sechsten Tor steckte. In seiner Gier hatte Halston Prince aus Versehen einen Scab – ein Monster aus der Anderswelt – freigesetzt, das daraufhin eine Spur der Verwüstung durch London gezogen hatte.
Nachdem der Scab erfolgreich von Lucy und ihren Freunden bezwungen worden war, hatten die Septs die Kontrolle über das sechste Tor übernommen. Seitdem bewachten sie es Tag und Nacht, damit nichts mehr die Grenzen zwischen den Welten überqueren konnte.
Das Problem nur war, dass niemand außer Lucy von Halston Princes Verrat wusste. Nicht einmal ihre engsten Freunde.
Sie hatte natürlich mit dem Gedanken gespielt, sich Renly und Adele anzuvertrauen. Aber Adeles Wut auf die Septs war so etwas wie eine tickende Zeitbombe. Wenn Lucy ihr jetzt auch noch so etwas wie Munition in die Hand gab, würde sie ohne zu zögern das Feuer eröffnen. Lucy wollte nicht dafür verantwortlich sein, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Und was Renly anbelangte, nun, so konnte er einfach kein Geheimnis für sich bewahren, selbst wenn es um sein Leben ging.
Carter musterte sie mit verwirrtem Ausdruck. Zum allerersten Mal zog Lucy ernsthaft in Betracht, ihr Schweigen zu brechen und ihm alles anzuvertrauen. Himmel, was würde damit für eine Last von ihren Schultern fallen!
Aber wie konnte sie Carter erzählen, dass sein Vater böse war? Was für Beweise konnte sie schon liefern? Alles, was sie in der Hand hatte, war ihre Erinnerung an den Abend, an dem der Scab Oma Serena und den Vorsitzenden von Sept Crann entführt hatte und sie zufällig eine Unterhaltung zwischen Halston und seiner Stellvertreterin aufgeschnappt hatte, in der er seine Verbrechen eingestand.
Doch so eindeutig ihre Erinnerung auch war, als Beweis taugte sie herzlich wenig. Würde Lucy den Sept-Autoritäten erzählen, was sie gehört hatte, würde Halston einfach alles abstreiten. Und wer würde einem Spellcraft-Lehrling eher Glauben schenken als dem Führer von Sept Argent? Ihr Wort stünde gegen seins – und sie wusste, wem auch Carter eher glauben würde.
Lucy biss sich auf die Lippen. Früher oder später würde sie Carter reinen Wein einschenken müssen. Ebenso wie Renly und Adele. Aber jetzt noch nicht. Nicht jedenfalls, bis sie konkrete Beweise für Halston Princes Verrat hatte. Irgendetwas, das er unmöglich leugnen konnte. Bis dahin bestand ihre Mission darin, die Klappe zu halten. Und Carter aus dem Weg zu gehen.
„Sorry, Carter“, sagte sie und setzte ein Lächeln auf, von dem sie hoffte, dass es entschuldigend wirkte. „Hat nichts mit dir zu tun. Hab einfach nur wirklich eine Menge zu tun.“
Carter öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, bevor er einfach hilflos mit den Schultern zuckte.
„Du kannst mit mir zur Tanzfläche gehen“, setzte Lucy so versöhnlich wie möglich hinzu. „Wenn du möchtest.“
„Ich sollte dich warnen“, entgegnete Carter, als sie sich in Bewegung setzten. „Ich habe zwei linke Füße.“
Gegen ihren Willen musste Lucy lachen. „Ich habe dich doch nicht um einen Tanz gebeten! Ich muss nach dem Eisbären sehen.“
„Der Bär ist cool!“
Lucy wurde rot. „Der ist nicht von mir. Ich muss nur dafür sorgen, dass er nicht aus der Reihe tanzt.“
„Ist immer noch was, auf das du stolz sein kannst.“
Er hatte recht. Sie war stolz. Sie widerstand dem Drang, ihm mehr von dem Bären zu erzählen. Eigentlich gab es keinen Grund, warum sie es nicht tun sollte. Auch wenn Carter selbst über keinerlei magische Kraft verfügte, so war ihm als Sohn eines Sept-Anführers vollkommen bewusst, was Spellcrafter taten. Aber Lucy hatte einfach kein gutes Gefühl dabei, ihm geheimes Spellcrafter-Wissen anzuvertrauen. Was, wenn es dadurch geradewegs in die Hände von Halston Prince gelangte?
Inzwischen hatten sie die Vorderseite der Bühne erreicht. Die Band spielte ein Medley aus altbekannten Songs und die Tanzfläche wimmelte nur so von Menschen, die begeistert herumwirbelten. Die Musik erfüllte den gesamten Saal in klaren vollen Tönen. Renly und die anderen leisteten wirklich vorzügliche Arbeit mit den Instrumenten.
„Oh, hey, da sind die Leute von meinem Dad.“ Carter zeigte auf eine Gruppe von Gästen in schicken grauen Anzügen. Sie umschwirrten eine groß gewachsene Frau in einem spektakulären grünen Designerkleid, die einen riesigen Smaragdanhänger an einer markanten schwarzen Kette trug.
Lucy erkannte in ihr Lady Francesca Chevalier, die Anführerin von Sept Felicitas. „Ich sollte mich zu ihnen gesellen“, sagte Carter. „Komm nach, sobald du fertig bist, wenn du magst. Dann stelle ich dir Lady Chevalier vor. Sie ist eine echte Persönlichkeit.“
Lucy unterdrückte ein Schaudern. Sie konnte Halston Prince in der kleinen Ansammlung nicht ausmachen. Aber vermutlich war er nicht weit entfernt und sie wollte diesem Mann unter keinen Umständen über den Weg laufen.
„Lieber nicht“, erwiderte sie. „Ich muss ja arbeiten.“
„Nun, solltest du deine Meinung ändern …“
„Werd ich nicht.“
„Oh.“
„Der Bär, du weißt.“
„Kapiert.“
„Bis dann, Carter.“
„Bis dann.“
Während sie beobachtete, wie Carter sich zu Lady Chevalier sowie den Sept-Argent-Mitgliedern und einigen normalen Bankern gesellte, fragte Lucy sich, wie lange sie Carter wohl noch aus dem Weg gehen musste. Doch statt länger darüber nachzubrüten, begab sie sich zu der Stelle, wo der Eisbär müßig seine Kreise zog.
„Statusreport“, sprach sie in ihr Headset und begleitete die Worte mit einem unsichtbaren Hauch der Magie der silbernen Flamme.
„System operiert innerhalb normaler Parameter“, ertönte die Antwort im Kopfhörer.
Die Stimme kam von einem magischen Transmitter, der tief im Bauch des Bären verborgen war. Der Bericht klang beruhigend. Dennoch presste Lucy die Hand gegen die Schnauze des Tieres, nur um ganz sicherzugehen. Das Glas fühlte sich kalt und glatt an, wie es sich für Eis gehörte. Darunter spürte sie jedoch warme Magie pulsieren, in einem sanften gefälligen Rhythmus, der ebenso harmonisch war wie die Musik der Band.
Sie ließ die Hand sinken. Alles war in Ordnung.
Plötzlich erregte ein orangenes Blitzen ihre Aufmerksamkeit. Sie hob den Blick zur Discokugel und registrierte zu ihrer Überraschung, dass es nicht von dort kam, sondern die Kugel in dunkles Licht getaucht war. Die Band war zu einem langsamen Liebeslied übergegangen und die grellen Lichtsplitter-Impulse waren einer gedämpften Lightshow gewichen. Auf der Tanzfläche bewegten sich die Paare eng aneinander geschmiegt durch die Schatten.
Wieder blitzte es. Es kam definitiv von weiter oben als die Discokugel. Lucy spähte zur Glasdecke empor und sah etwas vom Nachthimmel auf das Dach der Gallery Towers hinabsinken. Als es näher kam, erkannte sie, dass es sich um ein fliegendes Gefährt handelte – wenngleich um eines, das nichts ähnelte, was sie je zuvor gesehen hatte. Ein wenig glich es einem Helikopter. Doch wo waren die Rotoren? Ein einzelnes orangenes Licht blinkte auf der gewölbten Unterseite, klein und intensiv.
Sie blickte sich in der Halle um. Niemand sonst schien das seltsame Flugobjekt bemerkt zu haben. Was nicht weiter überraschte, denn es hatte nicht nur einen schwarzen Anstrich, sondern das winzige orangene Licht spielte auch dem Sinn für Größenverhältnisse einen Streich. Irgendwie sah es eher wie ein weit entferntes Flugzeug aus und nicht so, als würde es gleich auf dem Glasdach landen.
Sag ihnen, sie sollen fliehen.
Die Worte schnitten sich jäh durch Lucys Bewusstsein und hallten mit einer eindringlichen Klarheit in ihrem Kopf wider. Es war mehr als nur eine körperlose Stimme.
Es war die Stimme!
Bisher hatte Lucy sie nur in ihren Träumen gehört, jedoch niemals, wenn sie wach war.
Bis jetzt. Sie hatte keine Ahnung, warum sie sie überhaupt zu hören begonnen hatte. Sie wusste nur, dass sie sie nun schon einen ganzen Monat lang vernahm. Seit jener schrecklichen Nacht, in der ihre Freunde und sie gegen den Scab gekämpft hatten. Sie hatten das Monster mit dem legendären Großen Schwert der Drei bezwungen, das sie mittels ihrer Spellcrafter-Magie selbst gefertigt hatten, unter Verwendung uralter – und verbotener – Techniken. Lucy hatte die gläserne Schwertklinge in einen transparenten Gürtel verwandelt, um sie die ganze Zeit bei sich tragen zu können. Auf den Tag harrend, an dem die Klinge ihr womöglich erneut von Nutzen sein würde.
Die Stimme ertönte erneut.
Lauft!
Das Fluggefährt bremste ab, bis es weniger als einen Meter über dem Glasdach schwebte. Eisige Panik stieg in Lucy empor und erfüllte sie mit einer schrecklichen Gewissheit: Sie war in Gefahr! Nein, schlimmer noch. Sie alle waren in Gefahr!
Das kleine Licht hörte auf zu blinken und eine Luke öffnete sich im Bauch des Fluggeräts. Eine obskure Maschinerie regte sich im Inneren. Etwas fuhr heraus – eine stämmige kurze Röhre, der dunkler Rauch entströmte.
Lucy wusste, dass sie etwas unternehmen sollte. Aber wie festgefroren verharrte sie auf der Stelle, als würde sie selbst aus Eis bestehen. Alles, wozu sie in der Lage war, war zu starren. Sie wünschte, die Stimme würde wieder sprechen. Doch das tat sie nicht.
Also sprach sie stattdessen.
„Lauft!“, stieß sie mit leiser Stimme hervor. Dann brach sich die Furcht aus ihrem Inneren Bahn und sie schrie: „LAUFT!“
Die Tänzer hielten strauchelnd inne. Die Band geriet aus dem Takt und stockte, bevor sie ganz verstummte. Köpfe fuhren abrupt zu ihr herum. Lucy holte tief Luft.
„LAUFT!“, schrie sie. „ALLEWEGHIER!“
Wieder blitzte das orangene Licht auf, dieses Mal hell wie die Sonne. Die Decke explodierte. Glas regnete herab, vermischte sich mit dem magischen Schnee und besprenkelte den Boden mit tödlich scharfen Scherben. Die Menschen kreischten und bedeckten schützend die Köpfe. Lucy hob den Blick und nahm sechs Gestalten wahr, die sich durch ein gezacktes Loch im Dach herabseilten. Sie trugen Overalls, die in blendend grellen Farben leuchteten, und glühende Helme, die ihre Gesichter verbargen.
Bevor Lucy sich fragen konnte, um wen es sich bei den Angreifern handelte, gab ein großer Deckenabschnitt unter dem Gewicht nach. Ein Verbund von Stahlträgern löste sich aus der Hauptstruktur und stürzte der Tanzfläche entgegen.
Die Träger sausten geradewegs auf Lucy zu. Immer noch bewegungsunfähig konnte sie nur verfolgen, wie sie ihr Blickfeld immer mehr ausfüllten – bereit, sie aufzuspießen, einer Speersalve gleich, die ein grausamer Riese auf sie geschleudert hatte. Es gab kein Entkommen. Wohin sie auch rannte: Einer der riesigen Speere würde sie mit Sicherheit erwischen.
Das war’s, dachte sie verzweifelt. Ich werde sterben!
Die stählernen Speere schossen auf sie herab. Lucy nahm den vertrauten Geschmack der Magie der silbernen Flamme in ihrem Mund wahr. Aber was nützte ihr Talent schon in dieser Situation? Sie war eine Glasbläserin, noch dazu ein Lehrling, und keine Metallwerkerin.
Dann fiel ihr Blick auf den Eisbären neben sich.
Ohne nachzudenken, getrieben aus reinem Instinkt, atmete Lucy scharf aus. Die Magie der silbernen Flamme strömte aus ihrem Mund über das Mikrofon, das sie noch um den Kopf trug. Gleichzeitig stieß sie einen Befehl aus: „SPRING!“
Der gläserne Bär reagierte auf der Stelle. Er bäumte sich auf und sprang über Lucys Kopf hinweg – kaum eine Sekunde, bevor die fallenden Speere sie erreichten. Die Metallstangen prallten vom gläsernen Rücken des Tieres ab und schepperten harmlos auf den Boden. Mit einem gewaltigen Rumms, der den Boden zum Beben brachte, setzte der Bär wieder hinter Lucy auf, während überall um sie herum weiterhin zerborstenes Glas herabregnete.
„HOCH!“, befahl Lucy und verlieh dem Wort mit der Magie der silbernen FlammeNachdruck.
Der Bär bäumte sich auf und formte mit seinen Vorderpfoten ein schützendes Dach über Lucys Kopf. Die drei jungen Frauen, die sie vorhin auf der Tanzfläche gesehen hatte, kamen herbeigerannt und drängten sich neben sie.
„Was ist hier los?“, kreischte eine von ihnen.
„Keine Ahnung“, schrie die zweite.
„Warum unternimmt denn niemand was?“, stimmte die dritte in den Chor ein.
Lucy blendete ihre Stimmen aus. Sie klangen panisch, was ihnen nicht zu verdenken war. Die drei waren keine Spellcrafter und alle Anzeichen sprachen dafür, dass bei dem Angriff Magie im Spiel war. Zunächst einmal war das Gefährt der Angreifer ohne jegliche Hilfe von Flügeln oder Rotoren geflogen. Dann waren da noch diese merkwürdig leuchtenden Overalls, die sie trugen. Lucy war keine Schneiderin. Aber sie erkannte Spellcrafter-Textilien, wenn sie welche vor sich hatte. Auch wenn ihr noch nie zuvor etwas Derartiges begegnet war. Die Uniformen leuchteten so hell, dass Lucy beim bloßen Anblick Tränen in die Augen stiegen.
Die sechs Eindringlinge erreichten den Boden und klinkten sich von ihren Abseilleinen ab. Während sie vorrückten, fuchtelten sie mit ihren Händen herum, die in gepanzerten Handschuhen steckten. Als sie ihre Finger bogen, erfüllte sich die Luft mit knisternden Funken. Die Menge wich zurück, sichtlich eingeschüchtert.
Die von Glasscherben übersäte Bühne lag in Trümmern. Die Band war geflohen und das Spellcrafter-Zelt war von einem herabstürzenden Stahlträger in zwei Hälften zertrennt worden. Lucy klopfte das Herz bis zum Hals. Genau dort hatte Renly gearbeitet!
„Bleibt unter dem Bären“, wies sie die drei Frauen mit zitternder Stimme an. Keine von ihnen erhob Einwände.
Lucy stürmte zum eingestürzten Zelt. Zum Glück war der Glasregen mittlerweile versiegt, dennoch behielt sie für den Fall der Fälle den Kopf unten.
Der Sept-Fortis-Wächter war gegen einen schief stehenden Zeltpfosten gesunken. Er hielt sich das rechte Bein, das in einem unnatürlichen Winkel verdreht war.
„Sind Sie okay?“, fragte Lucy und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen.
„Innerhalb normaler Parameter.“ Der verletzte Wächter klopfte gegen seinen insektenartigen Helm, den er an den Gürtel gehängt hatte. „Ich hab schon Verstärkung gerufen. Sieh lieber nach, ob da drinnen jemand Hilfe braucht.“
Hastig betrat Lucy die Überreste der mobilen Werkstatt. Überall standen zerschmetterte Tische herum, die von zerfetzten Streifen aus Zeltleinwand bedeckt waren. Zwei Spellcrafter-Lehrlinge humpelten vorbei. Ebenso wie der Wächter versicherten sie, dass es ihnen so weit gut ging. Da niemand sonst zu sehen war, wollte Lucy schon wieder den Rückzug antreten, doch da vernahm sie hinter einem Haufen zertrümmerter Musikinstrumente ein Stöhnen.
„Halt still!“, befahl eine Stimme.
„Was meinst du, was ich hier mache?“, antwortete eine andere.
„Rumzappeln, das machst du.“
„Würdest du auch, wenn dir ein Gebäude auf den Kopf gekracht wär.“
„Mach nicht so auf Drama-Queen. Halt einfach still.“
„Ich halte still!“
Lucy stockte der Atem. Sie kannte die beiden Stimmen und fürchtete sich vor dem, was sie auf der anderen Seite des Instrumentenhaufens zu sehen bekäme. Mit zusammengekniffenen Lippen umrundete sie die kleine Trümmerhalde und entdeckte Renly, der auf einer übel zugerichteten Tuba saß. Blut tropfte ihm aus einem Schnitt über der Augenbraue. Carter hatte sich über ihn gebeugt und versuchte erfolglos, die Wunde mit einer Bandage abzudecken.
„Hey, Lucy“, sagte Renly, als er sie sah. „Jetzt geht das schon wieder los, was?“
„Was ist denn mit dir passiert?“
„Mir ist das Dach auf den Kopf gekracht.“
„Wohl kaum“, brummte Carter. Er versuchte, beruhigend zu klingen. Aber das Beben in seiner Stimme verriet seine Besorgnis. „Lucy, kannst du mal sehen, ob du ihn verbinden kannst. Bei mir macht er einfach nicht mit.“
„Hast du eine Gehirnerschütterung?“, fragte Lucy, als sie die Bandage nahm und sie fachgerecht um Renlys Kopf schlang.
„Woher soll ich das wissen?“
„Wie viele Finger?“ Sie hielt drei in die Höhe.
„Siebenundvierzig.“
„Na also, dir scheint es blendend zu gehen. Wie bist du hergekommen, Carter? Ich dachte, du wärst bei deinem Vater.“
„Dad wurde fortgerufen. Dann sah ich, wie das Zelt einstürzte, und dachte, ich könnte helfen.“
Als Lucy die Bandage zusammenknotete, entwand sich Renly ihrem Griff und kam schwankend auf die Beine. Seine Augen waren glasig und nach zwei vorsichtigen Schritten ließ er sich wieder schwerfällig auf der Tuba nieder. Das verbogene Instrument gab ein trauriges Tröten von sich.
„Ich wart hier noch mal ’ne Minute“, verkündete er.
„Wir müssen sehen, dass dich jemand ordentlich untersucht“, sagte Lucy.
„Dürfte schwer werden, während diese Typen noch da sind.“ Carter wies mit einem Nicken zur Mitte des Atriums, das durch einen Riss in der Zeltleinwand gut einzusehen war. Die Eindringlinge hatten sich dort versammelt und steuerten nun zielgerichtet auf ein Podest zu, auf dem eine Ansammlung goldener Trophäen drapiert war – die Preise für die Gewinner des diesjährigen Spellcrafter-Winterfestes, die später an diesem Abend verliehen werden sollten.
„Sind die etwa hier, um den ganzen Glitzerkrempel zu klauen?“, sagte Renly.
Aber die Angreifer gingen geradewegs an dem Podest vorbei, ohne die Trophäen eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Meint ihr, es ist wieder der Eisenorden?“, fragte Carter.
Der Eisenorden war der Todfeind aller Spellcrafter. Allein der Name ließ Lucy einen eiskalten Schauder den Rücken hinabjagen. Ihre Gedanken flogen zu dem Tag zurück, als sie sich mit Renly und Carter in den Gassen von Tower Hamlets einen erbitterten Kampf gegen drei Mitglieder des Ordens geliefert hatte. Sie hatten zwar gewonnen, jedoch nur um Haaresbreite, und Lucy hatte nicht das geringste Verlangen nach einer Revanche.
Doch der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass diese Leute nicht dem Eisenorden angehörten.
„Der kann’s nicht sein“, sagte sie. „Diese Typen triefen förmlich vor Magie. Ihr kennt den Eisenorden. Die würden sich lieber den eigenen Kopf abhacken, als Zauber zu benutzen.“
„Und wer sind sie dann?“
„Keine Ahnung. Jemand Neues auf der Bildfläche.“
In ihren grell schimmernden Uniformen rückten die Eindringlinge nun auf eine Gruppe von Leuten vor, die sich neben einem riesigen Schokoladenbrunnen zusammendrängten. Lucy erkannte die Finanzexperten, mit denen Carter zusammen gewesen war. Lady Chevalier war noch unter ihnen. Doch im Gegensatz zu den Bankern, die ängstlich herumzappelten, stand sie aufrecht da, mit vor der Brust verschränkten Armen. Als die Angreifer sich näherten, hob sie gebieterisch die Hand.
„Keinen Schritt näher!“ Ihre Stimme hallte so laut und eindringlich durch das Atrium wie eine Polizeisirene.
Doch die Eindringlinge schenkten ihr keine Beachtung. Stattdessen schwärmten sie vor ihr aus, um sie zu umzingeln und ihr jede Fluchtmöglichkeit abzuschneiden. Aber warum zeigten sie Interesse an der Sept-Felicitas-Anführerin?
„Ich warne Sie!“, sagte Lady Chevalier. Ihre ausgestreckte Hand verharrte für einen Moment reglos in der Luft, bevor sie die Fäuste ballte und sich ihre Augen zu Schlitzen verengten. Sie sah aus wie eine Boxerin, die sich anschickte, es mit dem Weltmeister im Schwergewicht aufzunehmen.
Der Angreifer, der ihr am nächsten stand, hob ebenfalls die Fäuste. Die Handschuhe, die er trug, schimmerten sogar noch heller als der Rest seines Outfits. Alles, was Lucy richtig erkennen konnte, waren deren Ausmaße, die einige Nummern zu groß für ihren Träger wirkten.
Dann überstürzten sich die Ereignisse – und für Lucy ging alles viel zu schnell, um genau mitzubekommen, was sich eigentlich vor ihren Augen abspielte. Zuerst schlug der Mann die behandschuhten Hände zusammen, worauf urplötzlich ein gewaltiger Lichtimpuls zwischen seinen Handflächen hervorschoss. Lucy vernahm einen schrillen Schrei, gefolgt von einem Scheppern, als einer der Banker rückwärts in den Schokoladenbrunnen krachte und ihn zum Umkippen brachte. Flüssige Schokolade ergoss sich wie ein brauner Tsunami über den Boden.
Weitere Lichter blitzten auf. Einer der Angreifer – eine Frau Lucys Vermutung nach, auch wenn sie sich da nicht sicher sein konnte – stürzte mit erhobener Waffe vorwärts. Lady Chevalier setzte zum Schlag an. Aber ihre High Heels glitten auf der Schokolade aus und sie fiel auf die Knie. Die hell strahlenden Eindringlinge stürzten sich auf sie.
Blinzelnd spähte Lucy in den grellen Schein und versuchte zu sehen, was vor sich ging. Mittlerweile tränten ihre Augen.
„Was ist da los?“, fragte Renly und zupfte sie am Ärmel.
„Keine Ahnung“, erwiderte sie. „Es ist zu grell.“
Wie auf einen unsichtbaren Befehl hin zogen die Angreifer sich plötzlich zurück. Die einzelnen Konturen ihrer Körper verschwammen und sie sahen jetzt wie eine einzige, blendend grelle Entität aus. Lucy spähte an dem gleißenden Schein vorbei und nahm wahr, wie Lady Chevalier sich jäh an den Hals fuhr. Ihr kunstvolles Collier war verschwunden – samt des riesigen Smaragdanhängers.
„Die haben ihr Collier gestohlen“, stieß Lucy hervor.
„Deswegen also sind sie gekommen“, merkte Carter grimmig an.
„Juwelendiebe?“, meinte Renly.
„Mehr als das“, entgegnete Carter. „Das Collier ist Lady Chevaliers offizielle Amtskette. Es ist das Symbol für alles, wofür Sept Felicitas steht. Es ist jahrhundertealt und absolut unbezahlbar.“
Die Eindringlinge begannen sich zur Mitte des Atriums zurückzuziehen. Offensichtlich waren sie bereit zur Flucht, jetzt, da sie im Besitz ihrer Beute waren.
„Wo ist eigentlich Sept Fortis, wenn man die mal braucht?“, schimpfte Carter. „Die sollten eigentlich hier sein und uns beschützen.“
„Vor dem Zelt stand ein Wächter“, entgegnete Renly.
Carter schnaubte höhnisch. „Als ob der viel gebracht hätte.“
„Der ist außer Gefecht“, meinte Lucy. „Wir müssen etwas unternehmen.“
„Da hast du recht“, stimmte Carter zu. „Irgendwelche Ideen?“
„Die Glastiere!“, sagte Lucy nach kurzem Zögern. „Wir könnten sie wie Hütehunde einsetzen und die Angreifer in eine Ecke drängen.“
Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, ihre innere Flamme zu schüren. Aber der Energieschwall, mit dem sie den Eisbären in die Luft hatte springen lassen, hatte an ihren Kräften gezehrt. Sie ballte die Fäuste und grub die Fingernägel in die weiche Haut ihrer Handflächen, während sie verzweifelt versuchte, ihr Talent heraufzubeschwören.
Diese Schlacht ist verloren. Da war sie wieder, die Stimme. Harsch hallte sie in ihrem Kopf wider. Sie klang nicht so fordernd wie zuvor – wenn auch nicht weniger eindringlich. Schone deine Kräfte.
Lucy stieß einen tiefen Atemzug aus. Doch statt der übernatürlichen Magie der Spellcrafter entströmte ihrem Mund nichts als normale Luft. Mit hängenden Schultern verfolgte sie, wie die Eindringlinge sich an den herabbaumelnden Seilen einklinkten und mit Highspeed aufwärts sausten, der zertrümmerten Decke entgegen.
„Automatisierter Aufstieg“, meinte Carter. „Cool.“
„Daran ist gar nichts cool“, erwiderte Lucy, als die sechs Angreifer in ihr magisches Fluggerät kletterten. Die Luke schloss sich hinter ihnen und das Vehikel stieg lautlos in den Nachthimmel empor. Kurz verharrte es über den Gallery Towers, ein winziger Stern unter Millionen anderer, bevor es ganz verschwand.
Lucy wandte den Blick wieder dem Atrium zu. Lady Chevalier hatte sich aufgerappelt und tigerte nun auf und ab, wobei sie mit ihrer schneidenden Stimme Befehle blaffte. Ihr Designerkleid war von Schokolade verschmiert und ihre für den Abend wunderschön frisierten Haare hingen in losen Strähnen über den Schultern. Trotzdem wirkte sie unerschütterlich.
Während die übrigen Gäste sich vom Angriff wieder berappelten, versank die Szenerie im Atrium nach und nach im Chaos.
Lucys Schätzung nach würden die Behörden bald auf der Bildfläche erscheinen und für irgendeine Art von Ordnung sorgen. Blieb nur die Frage: Wer genau würde kommen? Londons reguläre Metropolitan Police? Der MI5?
Wahrscheinlicher war, dass die Septs eine Taskforce entsenden würden, um zu vertuschen, was hier in Wirklichkeit an diesem Abend passiert war. Sie würden irgendeine Geschichte für die allgemeine Öffentlichkeit erfinden, den Angriff vielleicht als eine Art einstudierte Stuntnummer verkaufen. So oder so würden sie dafür sorgen, dass die Ereignisse des heutigen Abends keinerlei Erwähnung in den morgigen Nachrichtenschlagzeilen fanden.
Es wird andere Schlachten geben. Du wirst all deine Kraft für das brauchen, was noch kommen wird.
Lucy warf einen kurzen Blick zu Renly, dann zu Carter. Dem unveränderten Ausdruck auf den Gesichtern ihrer Freunde nach zu schließen, hatte keiner von ihnen die Stimme vernommen. Allem Anschein nach sprach sie wirklich nur zu ihr.
Die Stimme war noch ein weiteres Geheimnis, das Lucy wahrte. Der Grund, warum sie ihren Freunden bislang nichts davon gesagt hatte, war einfach: Solange sie die Stimme nur in ihren Träumen gehört hatte, hatte sie sich einreden können, dass sie sich alles nur einbildete.
Nun war alles anders geworden. Heute Abend hatte die Stimme zum ersten Mal im Wachzustand zu ihr gesprochen. Was zweierlei bedeuten konnte, ohne dass ihr auch nur eine der beiden Erklärungen im Entferntesten zusagte. Entweder sie war dabei, verrückt zu werden.
Oder die Stimme war real.
Am nächsten Morgen brach Lucy schon früh von zu Hause auf, das sie sich mit ihrer Großmutter teilte, und nahm den Zug nach Wandsworth. An der Bahnstation angekommen, lenkte sie ihre Schritte zum Spellcrafter-Workshop. Dicker Nebel war während der Nacht aufgekommen und die Gebäude taten sich über ihr auf wie eine Horde finsterer Oger aus einem Märchen.
Es war ungewöhnlich, dass Lucy diesen Weg allein beschritt. Normalerweise wurde sie von Oma Serena begleitet, doch die war in aller Frühe zu einem Treffen mit Erasmus Glint aufgebrochen. Ihre Freundschaft zum Vorsitzenden von Sept Crann hatte sich seit ihrer gemeinsam durchlittenen Tortur noch vertieft. Von einem Scab gefangen zu werden, wirkte Wunder bei einer aufkeimenden Liebesbeziehung, wie es schien. Auch wenn das bedeutete, dass Lucy ihre Großmutter seltener sah, so freute sie sich doch für sie.
Bei ihrem anderen üblichen Wegbegleiter handelte es sich um Renly, der häufig an der Bahnstation zu ihr stieß. Aber im Moment war er zu Hause und kurierte eine leichte Gehirnerschütterung aus. Blieb also nur noch Patches. Im Augenblick schlummerte er eingerollt in ihrem Rucksack. Wenn ihr wirklich nach Gesellschaft war, hätte sie ihn jederzeit wecken können.
Aber tatsächlich begrüßte Lucy das Alleinsein. Es gab ihr Zeit, darüber nachzudenken, was gestern Abend auf dem Winterfest geschehen war … und vor allem darüber, was es mit der Stimme aus ihren Träumen auf sich hatte.
Die Träume hatten in der Nacht nach dem Showdown am sechsten Tor eingesetzt, als Lucy, Renly, Adele und Carter gegen den Scab gekämpft hatten. Seitdem war jede Nacht gleich gewesen. In ihrem Traum überquerte sie immer die Millennium Bridge Richtung Norden – vor sich die St.-Pauls-Kathedrale, hinter sich die Tate Modern Art Gallery –, während sich die Themse unter ihr wie ein gewaltiger Spiegel ausbreitete. Jedes Mal, wenn sie die Mitte der Brücke erreichte, veranlasste etwas sie, stehen zu bleiben und zu lauschen.
Das war der Moment, da die Stimme zu ihr sprach.
Sieh dich um.
Lucy gehorchte und sog scharf die Luft ein: Um sie herum reihte sich ein Wunder an das nächste. Riesige Wolkenkratzer mit funkelnden Seitenarmen, die wie gigantische Schwingen aus Glas aussahen. Dicht bewaldete Streifen, die sich zwischen den Gebäuden dahinschlängelten, während auf breiten Boulevards futuristische Fahrzeuge dahinsausten, die auf schimmernden Lichtfeldern knapp über dem Boden schwebten.
Überall waren Menschenmengen zu sehen, Millionen von Menschen. Und obwohl Lucy ihre Gesichter nicht erkennen konnte, wusste sie irgendwie, dass alle lächelten.
Ein Schatten fiel auf sie. Sie hob den Blick und nahm das silberne Segel eines gigantischen Schiffes wahr, das die Sonne verdeckte.
Was siehst du?
„London.“
Ist das alles?
„Es ist anders. Nicht so wie in Wirklichkeit, sondern schöner.“
Dies ist die Welt, wie sie sein könnte. Wie sie sein sollte. Wie sie sein wird.
„Wo bist du?“ Lucy blickte sich suchend um. Die Flussufer waren voller glücklicher Menschen, aber sie war allein auf der Brücke. „Ich höre dich, aber kann dich nicht sehen.“
Es ist nicht nötig, dass du mich siehst. Alles, was du tun musst, ist zuzuhören. Fürs Erste.
„Aber wer bist du?“
Es war genau diese Stelle gewesen, an der der Traum in der ersten Nacht geendet hatte. Seitdem hatte er jede Nacht ein klein wenig länger gedauert und jedes Mal hatte die Stimme stärker geklungen, selbstsicherer. Jedes Mal war Lucy weiter auf der Brücke vorangekommen, ohne jedoch jemals die gegenüberliegende Seite zu erreichen – jedenfalls bis sie es vorletzte Nacht endlich geschafft hatte.
„Ich bin hier“, hatte sie gesagt, als sie vom Ende der Brücke getreten war.
Genau wie ich, hatte die Stimme geantwortet.
Unmittelbar neben Lucy ragte eine hochgewachsene Gestalt auf, die aus reinem Licht bestand und mit der Sonne um die Wette funkelte.
Nimm meine Hand.
Die Stimme sprach immer noch in Lucys Kopf. Aber die ihr entgegengestreckte Hand – so funkelnd hell wie ein Stern – war definitiv real.
Unmittelbar bevor sich ihre Fingerspitzen berührten, erwachte Lucy.
Als sie letzte Nacht nach dem Angriff auf dem Winterfest endlich in ihr Bett gesunken war, hatte Lucy fest damit gerechnet, wieder denselben Traum zu haben. Würde sie diesmal die Hand der glühenden Gestalt ergreifen? Und falls ja, was würde dann passieren?
Aber sie hatte überhaupt nichts geträumt.
Was bedeutete das alles? Alles, was sie wusste, war, dass die Stimme sie gestern zum allerersten Mal in ihrer wachen Welt heimgesucht hatte. Und kaum war das geschehen, hatten die Träume aufgehört. Zufall?
Sie glaubte nicht daran.
Lucy war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Erst direkt vor dem Workshop stellte sie fest, dass sie eine halbe Stunde zu spät zum Morgenunterricht war. Über gewundene Korridore eilte sie zur Glasbläser-Sektion, wo ihre Mitlehrlinge bereits konzentriert in ihre Arbeit vertieft waren.
„Nett, dass du uns doch noch Gesellschaft leistest, Lucy“, begrüßte ihr Tutor Kendrick sie. „Such dir bitte einen Amboss. Du hast viel aufzuholen. Ich muss mal für einen Moment weg.“
Geselle Kendrick verließ das Vitrarium und Lucy umrundete die Schmiede-Esse, wo ein riesiger Bottich geschmolzenen Glases über einem brüllenden Feuer hing. Sie duckte sich unter dem Gewirr aus Kupferleitungen hindurch, die den Rauch abführten, fand einen freien Amboss und ließ sich nieder.
„Was macht ihr gerade?“, fragte sie einen Jungen namens Victor Pleasant.
„Wärst du pünktlich gewesen, wüsstest du’s“, erwiderte er mit einem höhnischen Schnauben.
„Beachte ihn nicht“, schaltete sich ein Mädchen ein, das rechts von Lucy saß. „Sept Felicitas braucht bis heute Mittag hundert Sprudelflaschen. Offensichtlich sind gestern Abend auf dem Winterfest jede Menge zerdeppert worden.“
Bei Sprudelflaschen handelte es sich um Glasflaschen, die mit einem speziellen Schuss Magie versehen waren. Sobald eine Flüssigkeit in sie hineingefüllt wurde, vermengte die Flasche sie mit kleinen Bläschen. Man gieße Zitronensaft in eine Sprudelflasche und voilà – fertig war die selbst gemachte Limonade. Um eine Sprudelflasche zu fertigen, musste man das Glas zunächst mit der Magie der silbernen Flamme formen, ehe ein paar Tropfen Aether hinzugefügt wurden.
Aether war der Schlüssel-Bestandteil. Alle Spellcrafter konnten normale Materialien mittels ihres Talentes manipulieren. Doch es war der Aether, der die von ihnen gefertigten Gegenstände mit einzigartigen magischen Eigenschaften versah. Deswegen war Aether so kostbar und die gesamte Spellcrafter-Wirtschaft hing von ihm ab.
Lucy ging den Herstellungsprozess der Flaschen im Kopf durch und entspannte sich ein wenig. Die Technik war simpel und bis zur Mittagszeit einhundert Sprudelflaschen zu fertigen, sollte ein Klacks sein. Ein reines Kinderspiel, verglichen mit der Unterrichtsstunde letzte Woche, als sie Glas zu Megaprismen geformt hatten, die das Licht in die unerwartetsten Richtungen brechen konnten.
Sie machte sich an die Arbeit. Aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Nach den schrecklichen Ereignissen des vergangenen Abends kam ihr die Fertigung von Sprudelflaschen völlig sinnlos vor. Mit den Gedanken völlig woanders blickte sie sich im Vitrarium um und nahm wahr, dass die anderen Lehrlinge ebenfalls abgelenkt waren. Viele unterhielten sich leise miteinander, während andere gedankenverloren in die Ferne starrten.
„Du warst da, stimmt’s?“, durchdrang Victors Stimme ihre Gedanken.
„Hm?“
„Auf dem Winterfest. Ich hab gehört, dass haufenweise Leute gestorben sind.“
„Niemand ist gestorben“, entgegnete Lucy, in der Hoffnung, dass es auch stimmte.
„Jemand meinte, es war der Eisenorden.“
„Glaub ich nicht.“
„Und wer war’s dann?“
„Keine Ahnung.“
„Weißt nicht viel, was?“
„Nicht wirklich“, erwiderte Lucy und gab vor, sich auf die Flasche zu konzentrieren, die sie gerade fertigte.
„Wo ist Sept Fortis, wenn man sie mal braucht?“, setzte Victor empört hinzu.
Das war genau das, was gestern Abend auch Carter gesagt hatte, und es war eine gute Frage. Es war nicht das erste Mal, dass Sept Fortis in einer Notlage nicht auf der Bildfläche erschienen war. Waren sie irgendwie in die Sache verwickelt? Hatten sie womöglich absichtlich weggesehen, damit die Eindringlinge ihren Angriff ungestört durchführen konnten?
Lucy schüttelte geistesabwesend den Kopf. Halston Prince war hier der wahre Verbrecher – und er war Oberhaupt von Sept Argent, nicht von Sept Fortis. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch an jeder Ecke irgendwelche Verschwörungen sehen.
„Mein Freund ist Schneider“, fuhr Victor fort. „Er meinte, die Angreifer trugen merkwürdige Klamotten, die total grell geleuchtet haben.“
„Hab ich auch gehört“, sagte das Mädchen, das neben Lucy saß. „Gleamer, so werden sie wohl genannt.“
Gleamer. Aus irgendeinem Grund ließ der Name Lucy erschaudern.
„Sie waren definitiv viel zu hell, um sie richtig ansehen zu können“, sagte sie.
„Dann hast du also doch was gesehen“, schlussfolgerte Victor.
Lucy schüttelte den Kopf. „Wie ich schon sagte: Es war alles viel zu hell. Apropos, wer nennt sie eigentlich Gleamer?“
„Wick Ebonchandler. Du kennst ihn ja. Er hat für alles einen Namen. Heute Morgen hat er eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er behauptet, dass die ganze Winterfest-Sache eine Verschleierungs-Aktion der Septs ist.“
Wick Ebonchandler war ein Spellcrafter mit der Macht der weißen Sonne, der sich gern ins Rampenlicht stellte. Dauernd rief er zu Kundgebungen auf, auf denen er wortgewandte Reden schwang. Sein Lieblingsthema war die Ausbeutung der Spellcrafter durch die Septs. Wobei er der Menge am Ende üblicherweise verkündete, dass sie endlich einen Vorkämpfer bräuchte, der sich für ihre Rechte einsetzte. Eine Rolle, für die er natürlich jederzeit bereit stünde.
„Wick Ebonchandler glaubt, dass die Ereignisse auf dem Winterfest mit den Fällen der vermissten Spellcrafter in Verbindung stehen“, schob Victor mit unheilschwangerer Stimme hinterher.
Die Neuigkeit trug nicht dazu bei, Lucys Unbehagen zu senken. In den letzten Wochen war eine ganze Anzahl von Spellcraftern spurlos verschwunden, ohne dass es hierfür irgendeine Erklärung zu geben schien. Alle Lehrlinge waren zur Wachsamkeit ermahnt worden und es wurde sogar darüber geredet, Ausgangssperren für Spellcrafter einzuführen, um sie nach Einbruch der Dunkelheit von den Straßen fernzuhalten.
„Ebonchandler ist nichts anderes als ein Unruhestifter“, erwiderte Lucy. Glaubte sie das wirklich? Sie war sich nicht sicher.
„Er gibt viel Vernünftiges von sich“, hielt Victor entgegen. „Und ich bin nicht der Einzige, der das meint.“
„Denkst du wirklich, die Leute glauben ihm?“
„Sieh dich doch um.“
Lucy ließ den Blick durch das Vitrarium schweifen und registrierte verblüfft, dass die Lehrlinge ihre Arbeit inzwischen völlig vergessen hatten. Sie saßen in kleinen Grüppchen zusammen und hatten die Köpfe zusammengesteckt, während sie sich die gleichen Fragen zu stellen schienen wie Victor und Lucy eben.
„Warum wurde das Winterfest angegriffen?“
„Wer waren die nur?“
„Meint ihr, Wick Ebonchandler weiß etwas?“
Die gleichen Fragen. Die gleichen Sorgen. Und keine Antworten.
Geselle Kendrick wählte genau diesen Moment, um wieder aufzutauchen. Kaum hatte der Tutor das Vitrarium betreten, brachen die Unterhaltungen ab und die Lehrlinge machten sich wieder an ihre Arbeit. Dennoch schien weiterhin irgendetwas durch den Raum zu wabern. Zuerst schrieb Lucy es der Hitze zu, die der Esse entströmte. Doch dann erkannte sie es als das, was es tatsächlich war: Furcht. Ihre Mitlehrlinge hatten Angst.
Hab keine Angst.
Wie eine eisig herbstliche Windbö fegte die Stimme durch Lucys Geist. Sie wartete darauf, dass sie weitersprach, doch das tat sie nicht.
Fürchte dich nicht …
Aber genau das tat sie.
Die Lehrlinge erreichten das vorgegebene Ziel von einhundert Sprudelflaschen um Punkt halb elf Uhr, eine halbe Stunde vor der Deadline. Gemessen daran, wie abgelenkt alle gewesen waren, hielt Lucy das für nicht weniger als ein Wunder. Mit einem Lächeln im Gesicht schickte Geselle Kendrick sie alle vorzeitig in die Mittagspause. Anscheinend hatte er die angespannte Atmosphäre gar nicht bemerkt.
Ein Großteil der Lehrlinge begab sich ins Atrium, einen von gläsernen Mauern umgebenen Garten im Zentrum des weitläufigen Workshop-Campus. Lucy lenkte ihre Schritte jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Eine Abkürzung durch die Holzarbeit-Sektion führte sie in einen kaum genutzten Korridor, an dessen Ende eine rostige Metallleiter zum Dach emporführte – ihrem neuen Lieblingsrückzugsort während der Mittagspause.
Als sie die Leiter hochkletterte, spürte sie, wie sich etwas in ihrem Rucksack wand. Durch eine Lücke im Reißverschluss streckte Patches sein Panda-Gesicht hervor.