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Was ist mit Marlene damals geschehen? Die Geschichte seiner Kindheitsliebe – sie war sechzehn, als sie im Sommer 1996 verschwand – ist längst auserzählt. Für alle im Dorf, aber nicht für Leon. Jahrzehntelang hat er sich ferngehalten – vom Ort, von seiner Vergangenheit. Doch nun kehrt er zurück in das Haus seiner Kindheit, sein Erbe. Mit dem Schlüssel zum Haus öffnet sich auch die Tür zu Erinnerungen, die mehr Fragen aufwerfen als Antworten. Und auf der Suche nach diesen Antworten gerät Leon immer tiefer in ein Geflecht aus Schweigen und Widersprüchen. "Spiegel der Wahrheit" ist eine psychologische Tragödie über Vergangenheit und Schuld, über Wahrheit und Verdrängung. Wenn es so etwas wie "die eine Wahrheit" überhaupt gibt – können wir sie je finden? Und wenn ja: können wir mit ihr leben?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
für Cynthia
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Danke an alle, die mich bei diesem Projekt unterstützt und mit ihren Anregungen bereichert haben – besonders Birke für ihren professionellen Blick und ihr geduldiges, ehrliches Feedback auf viele Rohfassungen.Ohne euch alle hätte ich diese Geschichte wohl nie fertiggestellt.
Ein besonderer Dank gilt auch Lena für ihre Handschrift.So hat Marlene eine sichtbare Stimme bekommen.
Nicht zu vergessen: Danke anEric für die Gestaltung des Covers.
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Patrick BurghardKünzell, Januar bis April 2025
Patrick BurghardSPIEGEL DER WAHRHEIT
Eine Tragödie
Anmerkung des Autors
Diese Geschichte thematisiert Themen wie psychische Belastungen, Depressionen, Angstzustände und Suizid. Die Gedanken und Handlungen der fiktiven Figuren sind nicht als Vorbild zu verstehen, sondern als literarischer Versuch, menschliche Konflikte und innere Kämpfe sichtbar zu machen.
Wenn du selbst von dunklen Gedanken betroffen bist, zögere bitte nicht, dir Hilfe zu suchen. Sprich mit Freund:innen, Familie – und wende dich an deinen Arzt. Sie können dir helfen!
In Deutschland erreichst du rund um die Uhr kostenfrei die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222.Weitere Informationen findest du unter www.telefonseelsorge.de
Es war ein verlorener Montagmorgen, der schwer auf Leon lastete. Gedankenverloren wischte der Barmann mit einem feuchten Tuch über den Tresen und blickte müde in den leeren Raum. Die letzten Gäste hatten längst die Bar verlassen, vor ihm lag die gewohnte Stille nach einer langen Nacht. Er sah sich um, betrachtete den klebrigen Boden vor den Toiletten, die Tische mit ihren leeren Gläsern und den übervollen Aschenbechern. „Zum Glück nicht mein Job“, sagte er erleichtert zu sich, griff nach seinem Bier und starrte vor sich ins Nichts. Nach einem tiefen Schluck knallte er das leere Glas auf den Tresen. Es war nicht das erste. Er hatte längst aufgehört zu zählen. Er hätte sich fragen können, warum er schon wieder an diesem Punkt gelandet war. Warum sich das Leben wieder im Kreis drehte, um ihn genau dorthin zurückzuwerfen, von wo er schon so oft versucht hatte, zu entfliehen. Wieder nagte der Zweifel an ihm, wieder entglitt ihm das Gefühl für die Realität – wieder war es, als würde die Welt um ihn herum in einem trüben Nebel versinken. Doch anstatt sich in seinen Gedanken zu verlieren, wischte er sie beiseite und griff nach dem Zapfhahn – eine Bewegung, die längst zum Reflex geworden war.
Wahrheit. Leon hatte nach dem Abitur viele Fragen. Er hatte sich in der Hoffnung auf Antworten durch ein paar Semester Philosophie gequält – und dann voller Enthusiasmus begonnen, Physik zu studieren. Die unerschütterlichen Gesetze des Universums schienen für ihn die letzte Lichtquelle in einer Welt voller Schatten zu sein – einer Welt, die ihm oft zu komplex erschien. Doch mit jeder Vorlesung wurde ihm klarer: Je tiefer er in die abstrakte Materie der Physik eintauchte, desto weniger verstand er das Leben um ihn. Diese eine Logik, die Wahrheit, die er in der Klarheit der Zahlen gesucht hatte, löste sich in nichtssagende Variable und wirre Modelle auf, die sich auch noch oft genug gegenseitig widersprachen. Schon bald war er verloren zwischen Formeln und Theorien – fasziniert, aber ohne den erhofften Sinn in ihnen zu finden. Und so endete wieder eine Station seines Lebens ohne Abschluss. Leon fühlte sich wieder wie der oft zitierte Tor – so klug als wie zuvor.
Zu allem hatte er in den letzten Monaten, nicht zum ersten Mal, eine anfangs hoffnungsvolle Beziehung erfolgreich an die Wand gesetzt. Wieder einmal war er wohl zu spät gewesen, zu nachlässig – zu beschäftigt mit seinen Gedanken und seiner Suche nach Gott weiß was, um zu bemerken, wie sehr sie sich schon von ihm entfernt hatte. Wie aus dem Nichts fiel ihre Trennung über ihn herein – Und nun schien ihm auch der Rest der Welt langsam zu entgleiten, alles jenseits der Theke war weit, weit weg.
„Glückwunsch, Leon!“ sagte er spöttisch zu sich selbst und füllte sein Glas mit dem Nächstbesten. Rum vielleicht. Oder Wodka. Spielte keine Rolle mehr. Mit einem tiefen Zug exte er das Glas und starrte mit mürrischem Blick auf die Uhr und die Leere um ihn herum. Nach fünf Uhr früh. Er hätte längst heimgehen können. Doch praktischerweise zahlte man ihn hier stundenweise für seine Art der Trauerbewältigung.
„Was mache ich hier eigentlich noch in dieser Stadt?“, murmelte er in die Stille und schenkte nach. Ja, eine Alternative zum Leben in der Stadt, in die er einst für die Liebe gezogen war, die er aber nie hat lieben lernen können, hatte sich ihm in den letzten Monaten tatsächlich aufgedrängt: das alte Haus seiner Großeltern, sein ehemaliges Zuhause, der Ort seiner Kindheit. Es lag weit auf dem Land in Westerstede, einem typisch verschlafenen Dorf, abgeschieden, eingerahmt von Küste und tiefen Wäldern. Das Haus war jetzt Teil seines Erbes, doch er hatte sich noch nicht wirklich emotional darauf einlassen können.
Nachdem Leons Mutter nur wenige Monate nach seiner Geburt gestorben war, hatten seine Großeltern ihn aufgenommen. Rückblickend hätte sein Leben kaum schlechter beginnen können. Doch, no front, wie man heute sagen würde. Wenn Leon an seine Kindheit dachte, fiel ihm nichts als Glück und Geborgenheit dazu ein. Seine Großeltern waren zwar unvorbereitet das zweite Mal in die Elternrolle gerutscht, doch hatten sie sie besser ausgefüllt, als er es sich je hätte wünschen können. Seine Großmutter hatte ihn mit jeder Menge Wärme und Geduld umsorgt, sein Großvater ihm klare Haltung und Prinzipien beigebracht.
Dann, mit 15, erkrankte seine Großmutter schwer – und Leon musste miterleben, wie sie nach einer „kurzen, schweren Krankheit“ vor seinen Augen verstarb. Er hasste diese Floskel seitdem, presste sie doch nur dieses wortwörtlich unfassbare Leid in Worte, um die brutale Gewalt zu verschleiern, mit der der Tod ins Leben dringen kann.
Bis hierher war der Tod für Leon nur eine inszenierte Idee gewesen, der er bei nächtlichen Gruftie-Treffen auf dem Friedhof begegnet war: schwarze Kleidung, dunkle Gedichte, Kerzen auf alten Grabsteinen. Der Tod war dort zwar allgegenwärtig – als Symbol, als Pose, als romantische Idee – jetzt war es etwas anderes. Zum ersten Mal war er nicht nur eine abstrakte Figur – er trat in sein reales Leben. Und mit ihm die Trauer, der Verlust. Die Wärme, die die Großmutter bis zu ihrem letzten Atemzug in die Familie gebracht hatte, fehlte – und Leon zog sich immer weiter in seine eigene Welt zurück.
Auch sein Großvater schwieg mehr als je zuvor. Er war zwar immer ein stiller Mann gewesen – doch jetzt, in seiner Trauer, wurde er beinahe unsichtbar.
Zwei Menschen unter einem Dach – und doch zu weit voneinander entfernt, um sich gegenseitig aufzufangen. Ihr Verhältnis verlor zwar nichts an Vertrauen – aber an Nähe. Und es dauerte nicht lange, bis sein Großvater sich dazu entschloss, Leon ins Internat zu schicken – Überforderung vielleicht. Oder einfach Hilflosigkeit.
Der Kontakt zwischen ihnen brach über die Jahre zwar nicht völlig ab, aber er wurde distanziert und immer sporadischer. Als Leon vor ein paar Wochen durch einen Brief vom Tod seines Großvaters erfuhr, fuhr er nicht einmal hin. Alles war weit entfernt. Es berührte ihn nicht mehr.
Das stattliche Erbe, das nun laut Brief des Notars auf ihn wartete, ließ Leon neu denken. Sein Großvater hatte sich wohl in den Jahren vor seinem Tod ganz auf die Verwaltung seines Vermögens konzentriert, handelte mit Aktien und investierte in Fonds, bis er ein tatsächlich nicht unbeträchtliches Vermögen aufgebaut hatte, das nun Leon, als einzigem Erbe zustand. Doch wie so oft in seinem Leben bekam Leon nichts geschenkt: Die Erbschaft war an Bedingungen geknüpft. Diese hatte sein Großvater mit der gleichen pragmatischen Klarheit formuliert, die Leon schon oft an ihm bewundert und manchmal auch gefürchtet hatte: Das Haus musste bei Antritt des Erbes renoviert und darauf instand gehalten werden, für die nächsten dreißig Jahre durfte es nur innerhalb der engsten Familie verkauft werden. Aber wem hätte Leon es verkaufen sollen? Ihm fiel kein Familienmitglied ein, das es hätte haben wollen – mehr noch: ihm fiel kein Familienmitglied ein, von dem er überhaupt wusste.
Leon hatte daher tatsächlich erst mit dem Gedanken gespielt, die Erbschaft auszuschlagen. Das Haus, das Dorf, seine Vergangenheit, die Verantwortung – all das hatte ihn abgeschreckt. Doch jetzt – frisch getrennt, allein in seiner Ein-Zimmer-Wohnung – sah alles anders aus. Das Geld würde seinem Konto zweifellos gut tun und ein großes Projekt wie eine Renovierung könnte vielleicht die Ablenkung sein, die er nun brauchen konnte.
„Scheiß drauf …“, grummelte er und schleuderte das Wischtuch in die Spüle. Ein trockenes, frustriertes Lachen entfuhr ihm.
„Als ob ich eine Wahl hätte.“ Leon griff langsam nach seinem Mantel und mit schwankenden Schritten ging er zum Ausgang, zog den Kragen hoch und trat hinaus in die klirrend kalte Winternacht.
Leon stand vor dem Haus seiner Kindheit. Die einst strahlend weiße Fassade war verwittert, der Garten ein einziges Chaos aus totem Gras und überwucherten Beeten, in denen früher Lavendel und Rosen in akkurat angelegten Reihen blühten. In den letzten Jahren hatte sein Großvater sich wohl einfach nicht mehr darum gekümmert – vielleicht konnte er nicht mehr, vielleicht wollte er nicht mehr. Für einen kurzen, unangenehmen Moment fragte sich Leon, ob er hätte da sein sollen. Hätte da sein müssen.
In den letzten Wochen war Leon schon mehrmals im Haus gewesen, um die Renovierung vorzubereiten. Er hatte eine Entrümpelungsfirma beauftragt, den Großteil des Hausrats zu entsorgen, und sich mit Timo in Verbindung gesetzt. Timo, ein alter Schulkamerad, war nach dem Abschluss in die kleine Renovierungsfirma seines Vaters eingestiegen, und für heute hatten sie eine Besichtigung des Hauses vereinbart, um die notwendigen und möglichen Maßnahmen zu besprechen.
Als Leon gerade den alten Briefkasten bei einem Öffnungsversuch aus der Verankerung gerissen hatte, hörte er knirschende Reifen auf dem Schotterweg hinter sich. Ein weißer Transporter raste in die Einfahrt. Timos Transporter kam mit einem übertrieben scharfen Bremsmanöver zum Stehen, schleuderte Schotter in alle Richtungen und verpasste Leons alten, rostigen BMW ein willkommenes Lack-Peeling. Auf der Seite des Transporters war in verblassten Buchstaben „Schlosser & Schlosser – Bauen mit Hand und Hand“ zu lesen. „Hoffentlich renovieren sie hier im Dorf besser, als sie texten“, dachte Leon bei sich. Ein durchaus muskulöser Mann mit fleckigem Blaumann sprang aus dem Wagen. Seine Glatze reflektierte die kalte Wintersonne, ein breites Grinsen beherrschte sein Gesicht. Leon hätte ihn nicht wiedererkannt.
„Leon! Mann, das ist ewig her!“, rief er freudig aus.
Leon lächelte unsicher, nickte und hielt ihm zurückhaltend die Hand zum Gruß entgegen. Kurz dachte er, er könnte es vermeiden. Doch nein, die folgende, herzlich-aufdringliche, unnötig feste Umarmung konnte er nicht verhindern. „Ewig her, ja. Danke, dass du dir die Zeit nimmst“, antwortete er zurückhaltend, als er wieder Luft bekam.
„Klar doch! Ein ganzes Haus renovieren – ich steh auf solche Herausforderungen!“ Timos Blick leuchtete vor Erregung – die Art von Erregung, die man sonst nur bei 16-jährigen Internatsschülern antrifft, bevor sie das erste Mal einen BH öffnen dürfen. „Boah, ich sags dir, diese alten Häuser haben echt was, das war noch echte Arbeit, solide gebaut, echt richtig sexy, sag ich dir!“
Leon verdrehte unmerklich die Augen, fühlte seine Metapher bestätigt.
Während die beiden das Haus betraten, schaffte Timo es, ohne Atempause zu reden und dabei die unterschiedlichsten Themen zu verknüpfen – von ihrer gemeinsamen Schulzeit bis zu seinem Bandscheibenvorfall im letzten Jahr und seiner jüngsten Erkenntnis, dass Hafermilch doch nicht die bessere Wahl für seinen Magen sei. Seine positive Art stand in starkem Kontrast zu der bedrückenden Stimmung, die der Anblick des leeren Hauses in Leon auslöste. Während Leon noch gedankenverloren mit einem Finger über die Fensterbank in der Diele fuhr und wenig überrascht die dicke Staubschicht an seinem Finger betrachtets, sprintete Timo schon mit einem kritisch-enthusiastischen Blick durch die Räume und versprühte eine Unruhe, als wäre ein Rudel Rehpinscher zum Fressen gerufen worden. Er klopfte gegen Wände, inspizierte Fenster und nickte hin und wieder wichtig. Und er redete dabei.
„Klar, die Küche ist winzig, typisch für die Zeit, aber wir könnten sie öffnen. Viel Licht reinlassen. Hier ne schöne Kochinsel, ich sach dir, das rockt. Aber das musst am Ende du aber wissen, das kostet ja ne Ecke … oh schau mal hier!“ Timo war schon wieder in einer anderen Ecke des Raumes und kratzte neben dem Ofenrohr an der Wand. „Nee doch nicht!“, fiel ihm nach kurzem Wasauchimmer auf und eilte schnellen Schrittes ins nächste Zimmer. Leon hatte schnell aufgegeben, ihm zu folgen, inhaltlich wie körperlich.
„Oh wow, siehst du das? Die Tapete hier – als hätte deine Oma die noch persönlich drangetüdelt! Echt antik!“
Leon erkannte das Muster – moosgrün, orange Streifen, hier und da eine lila Prilblume – und musste zum ersten Mal schmunzeln. „Hatte sie auch“, grinste er, sah wieder seine Großmutter vor sich: die Schürze, den Dutt, vor ihr auf dem Herd ein Topf mit dampfenden Kartoffeln. Timo wirbelte weiter durch das Haus, zeigte dem leicht gehetzten Leon die Stellen, die unbedingt gemacht werden müssten, warf mit Zahlen und wechselnden Einheiten um sich und bildete mit seinem Bleistift ein immer größer werdendes, kryptisch anmutendes Gesamtkunstwerk auf seinem kleinen Notizblock. Als er die Kellertür erreichte, schaute er Leon fragend an.
„Was ist mim Keller? Willste den auch machen?“
Leon schüttelte langsam den Kopf. „Nein … der bleibt erst mal, wie er ist.“
Timo klopfte ihm auf die Schulter. „Kein Ding. Du bist der Chef! Alles teuer genug, gell!“
Nach der Haustour, zurück im Wohnzimmer, hielt Timo Leon, nicht ohne Stolz, den Notizblock mit seinem surrealistischen Beitrag zur nächsten Documenta entgegen. „Also, ich hab alles notiert: Wir reißen die alte Küche raus, modernisieren das Bad, machen die Wände neu, die Leitungen sind sicher durch – kommen auch neu – und ein paar Fenster müssen ausgetauscht werden. Wird ein kurzer Vormittag! Und ich dachte schon, es gibt Arbeit!“ Timo lachte laut über seinen prächtig gelungenen Handwerkerwitz. „Ich mail dir die Tage noch ’nen Kostenvoranschlag rüber, und nächste Woche könnte ich mit meinem Team dann anfangen.“
„Nächste Woche schon?“
„Klar, warum nicht? Je schneller wir loslegen, desto eher hast du ein Zuhause, das man auch so nennen kann. Oder willst du auf besseres Wetter warten?“ Er machte wieder eine Pause, um Leon Gelegenheit zu geben, über seinen nächsten „Witz“ zu lachen, doch als die Reaktion ausblieb, redete er weiter: „Außerdem hab ich grad ein paar Jungs frei, die dringend was zu tun brauchen. Sonst sitzen die bloß ihren Arsch platt oder schrauben ihre Autos kaputt. Die brauchen echt ’ne Beschäftigung!“ Leon nickte zustimmend. Die Autos – und erst recht die Ärsche – von Timos Leuten waren ihm zwar herzlich egal, aber es stimmte: Warten musste er wirklich auf nichts mehr. Offenbar wirkte er aber sehr lange und sehr abwesend, sodass Timo erstmals seit seiner Ankunft eine längere Redepause machte, um sich Leons schweigendem Nicken anzuschließen. Doch länger als ein paar Sekunden hielt sein Mundwerk dieser Belastungsprobe nicht stand. „Alles klar, du wirst sehen, das wird mega!“, lachte Timo und deutete überschwänglich mehrere Boxschläge in Richtung von Leons Bauch an. Dann stieg er schwungvoll in seinen Transporter. „Bis dann, Chef, ich ruf dich an!“
Weiter stumm, nickend, irritiert und überrumpelt sah Leon ihm nach, wie er, ohne Rücksicht auf möglichen Verkehr, rückwärts die Auffahrt hinunter bretterte. So macht man das wohl eben auf dem Land, dachte er sich.
Er kehrte ins Haus zurück und ließ sich erschöpft auf das alte Wohnzimmersofa fallen – eines der wenigen Möbelstücke, die das große Ausmisten überstanden hatten. Fast alles andere war bereits entsorgt worden: die dunkel gebeizten Schränke mit ihren großen Spiegeltüren, die wuchtigen Sessel mit den abgewetzten Armlehnen, die schwarze Kommode mit der rissigen Marmorplatte – all das hatte längst ausgedient. Nur das Wohnzimmer ließ er teilweise eingerichtet. Nicht weil es besonders modern eingerichtet war, emotional etwas in ihm auslöste oder gar später einen Zweck erfüllen sollte – nein, es waren rein praktische Gedanken, die das Sofa und sein Surrounding am Leben gehalten hatten – Leon war sich sicher, dass er während der Renovierungsarbeiten hin und wieder in diesem Haus wird übernachten müssen. Und auch was die persönlichen Dinge seiner Großeltern anging, hatte er verfügt, sie unangetastet zu lassen. Alles, was emotionalen Wert haben könnte, Briefe, Fotos und Kleidung, wurde von den Arbeitern sorgfältig in Kartons verstaut und wartete nun im ehemaligen Schlafzimmer darauf, von ihm persönlich gesichtet und sortiert zu werden.
Mit einem tiefen Seufzen zog er eine Flasche Whisky aus seinem Rucksack, kippte einen großen Schluck herunter und lehnte sich zurück. Sein Blick wanderte durch den Raum, während seine Gedanken abschweiften. Ein Moment verstrich, dann ein weiterer. Es fühlte sich seltsam an, hier zu sitzen – allein in diesem Haus. Nach einigen Schlücken stand er auf, seine Knie knackten altersgemäß. „Na schön“, murmelte er durch die Zähne und presste die Lippen zusammen. „Mal sehen, was der Alte alles hinterlassen hat.“ Die Flasche noch in der Hand, schlurfte er ins Schlafzimmer. Er stellte den Whisky auf die Fensterbank und öffnete Karton für Karton. Eine Weile lang hob er lieblos hineingeworfene Pullunder und Socken heraus und zog mehrere zerknitterte Stofftaschentücher hervor, deren Benutzungsstatus nicht eindeutig war. Enttäuscht wühlte er weiter, bis seine Finger auf etwas Vertrautes stießen.
„Ach, schau an!“ Er zog den schweren, altmodischen Mantel hervor, der einst der ganze Stolz seines Großvaters gewesen war. Das gute Stück wirkte, als sei es einem alten Schwarz-Weiß-Film gefallen, mit großen silbernen Knöpfen und einem Schnitt, der heute höchstens noch Mitleid erweckte. Leon lächelte kurz und warf ihn sich über die Schultern. Er passte überraschend gut.
Leon erinnerte sich, wie er als Kind immer wieder heimlich diesen Mantel angezogen hatte und sich dabei so groß und stark vorgekommen war, wie sein Großvater. Doch heute … Heute, als erwachsener Mann, fühlte er in diesem Mantel keine Stärke, nur Leere – und verblasste Illusionen.
Nachdem er den alten Mantel sorgsam zur Seite gelegt hatte und weiter in den Kisten wühlte, stieß Leon auf ein paar alte Fotoalben. Er schlug eines auf und ließ den Blick über die vertrauten Gesichter gleiten. Es war ein Blick zurück in seine Kindheit. Seine Großmutter lächelte ihm auf den Fotos entgegen. Sie hatte immer ein warmes, herzliches Lächeln, das selbst auf den verblassten Schwarz-Weiß-Fotos noch seine Strahlkraft hatte. Sie war für Leon eine typische Mutter gewesen – der Typ Frau, wie es ihn in den frühen Neunzigern noch zu hauf gab: immer zuhause, immer verfügbar, stets beschäftigt, das Heim in Ordnung zu halten, zu kochen, zu backen, zu putzen. Sie war der ruhende Pol der Familie gewesen und immer in vollem Einsatz. Leon konnte sich an keinen Moment erinnern, in dem sie nicht gut gelaunt oder gar krank gewirkt hätte – Selbst wenn sie erschöpft gewesen sein musste, Leon hätte es nie bemerkt.